Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 62 - 63 [w69goldner.htm]


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Ende des Streiks im Einzelhandel:

Eine weitere Niederlage für die ArbeiterInnen in den USA

von Loren Goldner

Die Medien berichteten am Sonntag, dem 29. Februar, aus Südkalifornien fast nur über die Oscar-Verleihung, aber am selben Tag stimmten dort die Beschäftigten im Einzelhandel zu 86 Prozent für den Abbruch ihres seit fünf Monaten laufenden Streiks und damit für die Annahme eines dreijährigen Tarifvertrags, der einen Durchbruch für die Arbeitgeber bedeutet. Die Supermärkte hatten durch den Streik zwar Umsatzeinbußen in Höhe von 2,5 Mrd. Dollar, aber sie haben einen Präzedenzfall geschaffen – nicht nur im Einzelhandel.

Im Oktober 2003 hatten 97 Prozent der Mitglieder der Gewerkschaft UFCW (United Food and Commercial Workers) in Süd- und Zentralkalifornien für einen Streik bei der Supermarktkette Von's, einer Safeway-Tochter, gestimmt. Hauptsächlich ging es um die bisher komplett von der Firma gezahlten Krankenkassenbeiträge der Beschäftigten. Die Krankenversicherung stellt in den USA oft einen der wichtigsten Lohnbestandteile dar. Viele UFCW-Mitglieder in Südkalifornien verdienen weniger als 12 Dollar die Stunde, viele kommen nur auf eine 24-Stunden-Woche, und viele machen den Job hauptsächlich wegen der Krankenversicherung. Von's wollte durchsetzen, dass die ArbeiterInnen die Hälfte dieser Beiträge selbst bezahlen und zudem die Einstiegslöhne senken. Das sei notwendig wegen der Konkurrenz durch den Einzelhandelsriesen Wal-mart, der die Eröffnung von vierzig weiteren Filialen in Südkalifornien plant (Wal-mart ist berüchtigt für Niedriglöhne und keine Sozialversicherung). Innerhalb weniger Stunden wurden bei Albertson's und bei Ralphs, zwei weiteren Ketten, die ebenfalls zu US-weiten Einzelhandelskonzernen gehören und bei denen ebenfalls Tarifverhandlungen liefen, die Beschäftigten ausgesperrt. Seither befanden sich 70 000 UFCW-Mitglieder in der Region im Streik. Die ArbeiterInnen gingen mit großer Begeisterung in den Streik und erhielten erstaunliche Unterstützung in der Öffentlichkeit, sogar über die besonders umsatzstarken Weihnachtsfeiertage blieben die bestreikten Supermärkte weitgehend leer. Gleichzeitig streikten, ebenfalls wegen der Krankenversicherung, die Beschäftigten im Öffentlichen Personennahverkehr von Los Angeles. Das löste eine seit Jahrzehnten nicht mehr erlebte Atmosphäre von »Streikwelle« aus. Die US-Westküsten-Hafenarbeitergewerkschaft ILWU legte mit einer Solidaritätsversammlung eine Schicht lang den Hafen von Los Angeles und kurz darauf auch die nahegelegene, für die US-Marine arbeitende Werft in San Pedro lahm. Außerdem spendete sie 200 000 Dollar an die Ralphs-Streikkasse. Allen war klar, dass der Ausgang des Streiks Signalcharakter für viele andere Gewerkschaften und ArbeiterInnen in der Region und in den ganzen USA haben würde (immer mehr Konflikte in den Betrieben drehen sich genau um die Frage, wer für die Krankenversicherung aufkommen muss).
Doch trotz aller Unterstützung durch die Arbeiterklasse folgten die Gewerkschaften ihren engstirnigen legalistischen Strategien, die in den vergangenen 25 Jahren in so viele Niederlagen geführt haben: legale, oft durch arbeitsgerichtliche Auflagen eingeschränkte Streikposten, blöde Sekundärboykotte, keine Gewalt gegen Streikbrecher und allgemein bloß nichts unternehmen, was den Laden wirklich dicht machen könnte. Am 31. Oktober 2003 zogen sie als »vertrauensbildende Maßnahme« die Streikposten bei Ralphs ab und konzentrierten sie auf Von's. Sofort verkündeten die drei Unternehmen, sie würden die durch den Streik entstandenen Gewinne und Verluste gemeinsam tragen. Die Gewerkschaft forderte die Leute sogar zum Einkaufen bei Ralphs auf, wo ihre eigenen Mitglieder ausgesperrt waren. Obwohl alle Ketten zu US-weiten Konzernen gehören und insgesamt 30 Mrd. Dollar im Jahr umsetzen, schreckten die Gewerkschaften vor jeglicher überregionalen Strategie zurück, sondern schickten nur ein paar »Informations-Streikposten« zu Filialen in Nordkalifornien und anderswo. Am 24. November weitete die UFCW den Streik auf zehn Zentrallager in Südkalifornien aus, von denen aus die Supermärkte beliefert werden, und die Teamsters (LKW-Fahrer-Gewerkschaft) sagten zu, dass ihre 7000 Mitglieder, die diese Märkte belieferten, die Streikposten respektieren würden. Aber die UFCW tat nichts, um die Tausende von Streikbrecher-LKWs zu stoppen, die die Läden statt der Teamsters belieferten, und am 19. Dezember wollte sie die Streikposten abziehen. Am 22. Dezember weigerten sich UFCW-Mitglieder vor dem Von's-Zentrallager in El Monte, ihren Streikposten abzubrechen, und blieben dort. Mitte Januar gab es wieder Streikposten bei einigen Ralphs-Filialen, aber die Gewerkschaft hatte das Streikgeld von 240 auf 100 Dollar die Woche gekürzt.Mitte Dezember kamen John Sweeney und Rich Trumpka, die beiden Chefs der »neuen« AFL-CIO, zu einem Treffen mit den Vorsitzenden der 50 UFCW-Orts- und Betriebsgruppen nach Los Angeles.
Sie warfen für den Streikausgang die Reputation der AFL-CIO in die Waagschale (seit Sweeneys Amtsantritt 1995 ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den USA von 14 auf 9 Prozent gefallen). Aber offensichtlich hatten sie unterschätzt, dass die drei Ketten bereit und in der Lage waren, Millionen von Dollar einzusetzen, um die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Die Konzerne hatten angekündigt, sie hätten ein ganzes Jahr Zeit für die Zerschlagung der UFCW.Die Gewerkschaften haben die relativ jungen und unerfahrenen ArbeiterInnen erfolgreich unter Kontrolle gehalten. Es gab keine Massenversammlungen, wo die Streikstrategie diskutiert worden wäre, und die Mitglieder hatten allgemein das Gefühl, keinen Einfluss darauf zu haben, wie sich der Streik entwickelte. Bei Ralphs hielten Streikbrecher der berüchtigten Firma Personnel Support System, Inc. den Betrieb am Laufen, die Schlägertypen als »Ersatzarbeiter« für genau solche Situationen anbietet. Aber die UFCW war nicht bereit, gegen Streikbrecher die Art Taktiken einzusetzen, aus denen die Gewerkschaften einmal entstanden sind.Es wurde eine hastige Abstimmung über einen Tarifvertrag mit 16 Seiten Kleingedrucktem durchgedrückt. Die UFCW und die AFL-CIO sprechen von einem Sieg, weil sie für die jetzigen Beschäftigten für zwei Jahre die Krankenversicherung sichergestellt hätten. In Wirklichkeit führt der neue Tarifvertrag ein Zwei-Klassen-System ein. Die jetzigen Beschäftigten bekommen in den ersten zwei Jahren der Vertragslaufzeit keine Lohnerhöhungen, sondern nur eine Einmalzahlung (200-300 Dollar für Vollzeitkräfte, für Teilzeitkräfte entsprechend weniger). Ab dem dritten Jahr müssen sie monatliche Beiträge zur Familien-Krankenversicherung zahlen. Beiträgserhöhungen müssen sie ebenfalls selbst zahlen. Neueingestellte bekommen niedrigere Löhne (7,55 bis 11,05 Dollar statt 12 Dollar wie für die »Alten«) und nur eingeschränkte Krankenversicherungsleistungen (Leistungen erstmals nach einem Jahr, für Familienangehörige erst nach zweieinhalb Jahren, keine Leistungen nach Erreichen des Rentenalters). Dieser Zwei-Klassen-Tarif lädt also dazu ein, ältere Beschäftigte loszuwerden. Und schließlich dürfen die Unternehmer laut Vertrag innerhalb von 36 Stunden nach Vertragsunterzeichnung bis zu 630 UFCW-Mitglieder wegen »Fehlverhalten« als Streikposten entlassen.Der entscheidende Grund für die Niederlage war weder die Kurzsichtigkeit der gewerkschaftlichen Strategie noch ihr Ansatz von oben herab, sondern die Tatsache, dass die UFCW-Basis dieser Strategie nichts entgegensetzte. Letztlich ging es in diesem Streik darum, dass die Konzerne die veraltete »private Sozialdemokratie« für die Minderheit amerikanischer ArbeiterInnen mit gewerkschaftlich-tarifvertraglich abgesicherten und nicht mehr finanzierbaren Krankenversicherungen schleifen wollen. Diese Kapitaloffensive lässt sich nur mit einer Klassenoffensive beantworten, die die umfassende Krankenversicherung zu einem politischen Thema macht, das nicht nur auf isolierte Gruppen von ArbeiterInnen in verlorenen lokalen Kämpfen beschränkt bleibt. Und einen solchen Kampf kann man weder von der UFCW noch von der AFL-CIO, und erst recht nicht von der Demokratischen Partei erwarten.  

aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004

Die Streiks im Einzelhandel sind beendet, in den USA wird aber weiter gestreikt, aktuell bei den Nahverkehrsbetrieben in Minneapolis:
Bericht auf Indimedia

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