Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 23-25 [w69italbus.htm]


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»Die Prekarisierten erinnern sich noch an eine ganz andere Situation ...«

Interview mit Cosimo Scarinzi [1] zu den wilden Streiks in Italien


Was war wichtig und was war neu an den wilden Streiks der Busfahrer?

Es war der erste Streik gegen das Antistreikgesetz, es gab ganz klare Lohnforderungen, und es gab breite Zustimmung in der Bevölkerung.

Breite Zustimmung gab es auch bei der Mobilisierung gegen die Schulreform, aber da liefen außer einigen Schulbesetzungen durch Lehrer und Eltern keine radikalen Kämpfe, und außerdem geben da die parlamentarische Linke und die institutionellen Gewerkschaften den Ton an.

In welcher Situation fanden die wilden Streiks statt?

Nach einem Jahr relativer sozialer Ruhe. Die Streiks von 2002 gegen die Abschaffung von Artikel 18 des Arbeitsgesetzes waren am Ende in dem von Rifondazione Comunista gepushten Referendum verpufft.

Wie hatten sich die Arbeitsbedingungen, Verträge, Löhne usw. in der Branche entwickelt?

Die Branche ist absolut kein Einzelfall: Lohnsenkungen, Neueinstellungen mit »Ausbildungsverträgen«[2], Arbeitsverdichtung. Den Busfahrern ging und geht es nicht schlechter als anderen Berufsgruppen. Im Vergleich zu vielen anderen geht es ihnen sogar besser. Natürlich ist ein Lohn von 850 Euro im Monat in Mailand für einen Arbeiter mit Ausbildungsvertrag der helle Wahn und bedeutet materielles Elend, aber Millionen von anderen prekarisierten ArbeiterInnen leben in dem gleichen Elend. Das Besondere ist, dass die Prekarisierten bei den Verkehrsbetrieben sich noch an eine ganz andere Situation erinnern können.

Und wie war die Entwicklung in Italien allgemein?

Sinkende Löhne und Prekarisierung sind normal. Die Linksregierung hatte den Arbeitgebern schon große Zugeständnisse bei den atypischen Beschäftigungsverhältnissen gemacht (»Pacchetto Treu«). Die Rechtsregierung hat jetzt noch mehr Zugeständnisse gemacht (»Legge Biagi«).

Das eigentlich Neue ist, dass der Druck sich anstaut. Bisher haben die ArbeiterInnen die Lohnsenkungen noch irgendwie weggesteckt, indem sie weniger Kinder kriegen, mehr Frauen arbeiten gehen und die Jugendlichen länger bei ihren Eltern wohnen bleiben. Vielleicht ist die Grenze erreicht, auch weil die Krise der letzten Jahre die Verelendung beschleunigt hat.

Wie siehst du den Verlauf der Streiks von heute aus?

Ich denke, meine Einschätzung war richtig: Die Streiks waren sehr effektiv, weil sie alle überrascht haben. Die Regierung, die Arbeitgeber, die institutionellen Gewerkschaften, die Kommunen wurden auf dem falschen Fuß erwischt und mussten der Bewegung hinterherlaufen.

Jetzt gibt es verschiedene Probleme: Wie können sich die Streikenden gegen die Repressionsmaßnahmen wehren, die jetzt nachträglich gegen sie in Gang gesetzt werden? Wie können andere ArbeiterInnen, die nicht dieselbe Verhandlungsmacht wie im Verkehrsbereich haben, auch für deutliche Lohnerhöhungen kämpfen? Und der Feind ist jetzt vorgewarnt.

Kannst du etwas über die Organisierung der wilden Streiks sagen?

Über das Netzwerk der kleinen Alternativgewerkschaften haben sich auf die Schnelle Kontakte ergeben, aus denen dann die Kampfkoordination der Busfahrer entstanden ist. Was die Streiks selbst angeht: der Startschuss – der 1. Dezember in Mailand – hat ja alle überrascht, auch die AlternativgewerkschafterInnen. Letztere haben dann versucht, die Bewegung auszuweiten. Beschlossen wurden die wilden Streiks aber jeweils direkt in den Depots. Viel wurde auch über Handy verabredet.

Wo waren die Streiks am stärksten? Und warum?

Im Norden, also Mailand, Bologna, Venedig, Genua, etwas weniger in Turin, also da, wo das Lohnproblem am größten ist. Auch in Rom war viel los. Im Süden war die Bewegung schwächer, aber es gibt auch da Zeichen von Radikalisierung.

Wie lief die Zusammenarbeit – oder die Konfrontation? – mit den Fahrgästen?

Das lief entschieden besser als erwartet. Da, wo Solidaritätskampagnen gestartet wurden, hat sich eine ganz eindeutige Sympathie entwickelt. Ich glaube, es war ähnlich wie in Frankreich vor ein paar Jahren, wo sich viele ArbeiterInnen die Lohnforderungen der ArbeiterInnen des öffentlichen Nahverkehrs zu eigen gemacht haben.

Welche Rolle hatten die Alternativgewerkschaften?

Bei den wilden Streiks nach dem 1. Dezember haben sich die BasisgewerkschafterInnen in den Versammlungen als ArbeiterInnen für die Streiks ausgesprochen, aber der Konsens für die erfolgreichen Streiks war natürlich viel viel breiter. Die Alternativgewerkschaften haben keine Streikaufrufe herausgegeben, sowohl wegen der Repression als auch, weil getrennte Aufrufe zu politischen Problemen geführt hätten.

Die institutionellen Gewerkschaften haben ja noch während der Streikbewegung einen Abschluss unterschrieben. Was ist dabei herausgekommen?

Italienweit gibt es 81 Euro mehr: 81 von 116 Euro, die schon im nie umgesetzten Tarifabschluss 2002/03 vereinbart worden waren. In einer Reihe von lokalen Abschlüssen werden auch noch die restlichen 35 Euro bezahlt, aber im Austausch gegen Zugeständnisse wie z.B. in Mailand, wo die Pausen zwischen den Touren zusammengestrichen werden: Jetzt müssen die Fahrer nach dem Ende einer Tour nach einer kurzen Pause einen anderen Bus übernehmen, auch wenn der an einer anderen Endstation steht, die ein ganzes Stück entfernt sein kann, während bisher entweder die Fahrzeit zum zweiten Bus als Arbeitszeit berechnet wurde oder die nächste Tour von der Endstation der vorigen weiterging.

Aber der Abschluss wird abgelehnt – das hat vor allem der ziemlich erfolgreiche Streik vom 30. Januar gezeigt.

Wie geht es weiter?

Jetzt bereitet das Kampfkomitee vor allem eine Forderungsplattform für die Verhandlungen um den neuen Tarifvertrag vor. Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. Die Alternativgewerkschaften haben stark zugelegt, aber sie sind immer noch eine kleine Minderheit.

In einem Artikel hast du geschrieben, bei der Überwindung der blockierten Situation, beim Zustandekommen der wilden Streiks hätte die Zusammensetzung der Arbeitskraft aus »Arbeiteraristokraten« und Prekären eine wichtige Rolle gespielt. Es kommt mir so vor, als wäre das vielleicht das Allerwichtigste. Könntest du das ein bisschen besser erklären? Welche Rolle hatten die Prekären?

Dies ist eine Branche mit sehr »traditionellen« männlichen, weißen, qualifizierten Arbeitern. Es gibt ein paar Frauen und ein paar Immigranten, aber das sind Randerscheinungen. Ich kann mich an einen wilden Streik vor ein paar Jahren in Vicenza gegen die Entlassung eines senegalesischen Busfahrers erinnern. Das fiel wirklich auf, weil Vicenza eine Hochburg der Lega Nord ist. Aber das war eine sporadische Geschichte, genau wie der wilde Streik vor drei Jahren in Triest. Was neu war und explosiv gewirkt hat, war die Tatsache, dass inzwischen sehr viele Arbeiter diese Ausbildungsverträge haben: in Turin z.B. sind das 40 Prozent! Und ihre Wut hat eine wichtige Rolle gespielt.

In einem anderen Artikel hast du vom »schmerzhaften Prozess der Proletarisierung« geschrieben. Könntest du das ein bisschen erklären?

Ich will jetzt keine abstrakte theoretische Diskussion anfangen. Ich wollte damit sagen, dass die ArbeiterInnen häufig Formen von Autonomie und Kontrolle über die eigene Arbeit bewahren oder entwickeln, die dann vom Druck des Kapitals tendenziell zerstört werden. Und das läuft nicht gleichmäßig, sondern in brutalen Schüben. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst, im Verkehrsbereich usw. sind in den letzten Jahren in Italien – und anderswo – so einem Schub ausgesetzt, und daher entwickeln sich sehr radikale Bewegungen gegen die spürbaren Verschlechterungen. ArbeiterInnen, die sich früher als Elite verstanden haben, wie Lokführer, Lehrer, Ärzte usw., reagieren auf die Verschlechterungen manchmal lebhafter als die traditionelleren LohnarbeiterInnengruppen.

Von hier aus gesehen scheint die politische Situation in Italien seit Jahren polarisierter zu sein als fast überall sonst in Europa: Einerseits Berlusconi, Faschisten und Rassisten an der Regierung, seit Jahren ein ununterbrochener Angriff auf Renten, Löhne, Arbeitsbedingungen, andererseits die Mobilisierung des »popolo di sinistra«, immer riesigere Demonstrationen, eine Bewegung gegen den Krieg, die größer war und länger dauerte als in anderen Ländern. Aber es sah so aus, als würden all diese Mobilisierungen nicht am Arbeitsplatz ankommen, und jetzt scheint genau das zu passieren: Die wilden Streiks sind wieder da.

Die »Bewegung der Bewegungen« hatte sich bisher nicht direkt am Arbeitsplatz ausgewirkt, aber viele Leute in der Bewegung sind ArbeiterInnen, und daher breiten sich einige Diskussionen aus. Die großen Demos haben teilweise als Blitzableiter, teilweise aber auch als Schwungrad für die Kämpfe funktioniert. Vielleicht erinnert ihr euch an die – letztlich erfolglosen – Straßen– und Eisenbahnblockaden der Fiat–ArbeiterInnen Ende 2002 und vielleicht auch an die Straßenblockaden gegen die Atommülldeponie in Lukanien im letzten Sommer, wo Faschisten, Kommunisten, Unternehmer (die mit Fahnen des Unternehmerverbands auf die Demos gegangen sind) und ArbeiterInnen gemeinsam demonstriert haben, bis die Regierung den Bau der Deponie zurückgenommen hat. Sagen wir so: Viel hilft viel, wenn man etwas erreichen will. Das spricht sich langsam herum.



Fußnoten

[1] Cosimo Scarinzi gehört zur Redaktion der Zeitschrift Collegamenti Wobbly und ist in der Alternativgewerkschaft CUB (Comitati Unitari di Base) aktiv. Wir haben in der Wildcat schon öfter Beiträge von Cosimo veröffentlicht, zuletzt »Ein Prost! auf den ATM–Streik in Mailand« in der #68.

[2] Die Ausbildungsverträge (Contratti di Formazione Lavoro, CFL) waren die erste Form von »atypischen Beschäftigungsverhältnissen« in Italien nach dem Kampfzyklus der 70er Jahre. Sie wurden Mitte der 80er Jahre eingeführt und als Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit dargestellt. Praktisch wurde die abgeschaffte Lehrzeit wieder eingeführt, so dass die Unternehmer junge ArbeiterInnen ein paar Jahre lang zu niedrigeren Kosten einstellen konnten. Dafür mussten sie irgendeine hypothetische »Ausbildung« vermitteln, was angeblich auch kontrolliert werden sollte. Mit der Zeit hat sich die Laufzeit der Ausbildungsverträge in manchen Branchen immer mehr ausgedeht und beträgt jetzt z.B. bei den Busfahrern fast 10 Jahre.



aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004


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