Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 15 [w69studies.htm]


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Standortlogik vs. Wir wollen alles

Es gibt in Deutschland über zwei Millionen StudentInnen, das ist ein historischer Höchststand. Knapp 40% eines Jahrgangs fangen heute ein Studium an, vor zehn Jahren waren es noch 25%. Allerdings sind 40% im internationalen Vergleich keine herausragende Quote: in Neuseeland, Schweden oder Polen studieren um die 70% eines Jahrgangs.

Das Studium soll gestrafft und international standardisierte Bachelor– und Masterstudiengänge eingeführt werden, die von Anfang an wesentlich strukturierter ablaufen als das derzeitig relativ liberale System. Schätzungen gehen davon aus, dass in Zukunft nur ca. 20% der Studierenden zu Masterstudiengängen zugelassen werden, weil ein Bachelor–Abschluss als »berufsqualifizierend« angesehen wird. Damit verbunden werden Überlegungen, für »weiterführende« bzw. »Zweitstudien« Studiengebühren zu erheben. Der andere Teil der Reform zielt auf die Hochschulen selbst. Sie sollen mit weniger Geld auskommen, bei Personal– und Betriebskosten sparen. Institutsschließungen und –zusammenlegungen sollen weitere Einsparungen bringen. Diesen Überlegungen setzten die StudentInnen über Monate hinweg Widerstand entgegen.

Vier Tage nach der großen Demonstration gegen die Agenda 2010 am 1. November 2003 beschließt eine Vollversammlung der Studierenden der TU Berlin den Streik (Bericht S. 16). Es war bekannt geworden, dass der Senat 10 Millionen Euro Studiengebühren ab 2005 und weitere 75 Millionen Euro Einsparungen an den drei Berliner Unis fest in seinen Haushalt eingeplant hatte. Zwei Wochen später rufen auch die VVs der HU und der FU den Streik aus, dem sich dann weitere – von der aktuellen Sparrunde nicht betroffene – Berliner Hochschulen anschließen, so UdK, ASFH, FHTW.

Die Streikbewegung weitet sich in den folgenden Wochen auf andere Städte aus: München, Frankfurt, Göttingen, Jena, Leipzig, Bremen, Hamburg... Richteten sich die Besetzungen und Aktionen anfangs hauptsächlich gegen die Sparpläne der jeweiligen Landesregierungen, so weiteten sich die Themen bald aus – einerseits in Richtung allgemeiner Sozialabbau, was in Berlin zu gemeinsamen Aktionen zwischen Studierenden und Betriebsräten führte; andererseits ging es immer mehr auch um die Hochschulreform.

Die Streiks begannen, als eigentlich alles schon entschieden schien. In Berlin waren die Sparbeschlüsse im Sommer klammheimlich über die Bühne gegangen. In Sachsen hatten sich die Hochschulen in einem »Hochschulkonsens« mit den Sparplänen einverstanden erklärt. Deshalb sahen die studentischen VertretungspolitikerInnen hier zunächst keine Notwendigkeit, sich dem Streik anzuschließen. Allerdings wurden sie z.B. in Leipzig von ihrer eigenen Basis überholt, die auf einer Vollversammlung am 10. Dezember den Streik beschloss (Bericht S. 18).

Mitte Dezember sah es fast danach aus, als könnten die Proteste der StudentInnen gegen Bildungs– und Sozialabbau zu einer ausgewachsenen sozialen Bewegung werden. Die Positionen, die oft noch einer studentischen Standortlogik verhaftet waren (»Wir sind das Humankapital – in die Universitäten zu investieren, heißt die Zukunft Deutschlands sichern«), radikalisierten sich im Laufe der Aktionen. Zum einen sicher deswegen, weil gegen Ende die politisch radikaleren Leute übrigblieben, zum andern, weil versucht wurde, die Bewegung in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen zu stellen.

Im Großen und Ganzen blieben die StudentInnen aber im Rahmen, nur wenige kleinere Gruppen verstießen hin und wieder gegen die Regeln. Generell ist es nicht gelungen, die Unis längere Zeit wirklich zu blockieren. Die FAZ schreibt von »Streik light«, das Streikkomitee der Leipziger Uni bekennt sich zum »konstruktiven Streik«, was bedeutet, dass keine Lehrveranstaltungen blockiert werden. Dafür werden die Studierenden von Seiten der Politik auch meist mit Wohlwollen behandelt, fast scheint es, als wolle man die Streikbewegung »totschmusen«.

 

Als sich die Studierenden im Januar größtenteils wieder ans Studieren machen und die AktivistInnen den versäumten Stoff nachholen müssen, ist zumindest einiges erreicht. In Bayern werden statt 10% nur 5% gespart, die Schließung einiger Institute in Berlin ist verhindert, der Sparplan wird neu verhandelt. In Frankfurt votiert der Senat der Uni gegen die Einführung von Studiengebühren...

aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004


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