Unistreiks in Berlin
Der erste Streiktag an der Technischen Universität Berlin
An einigen Gebäuden stehen am Morgen Streikposten, verteilen Flugblätter, und sprechen ihre Kommilitonen an. »Wir streiken. Du weißt warum? Schau her, lies mal das.« Aber eigentlich hat niemand Erfahrung mit dem Streikpostenstehen, auch nicht die wenigen älteren Semester, die sich in diesen Anfangsstunden beteiligen. Und wie das heute zu machen sei, wurde auch nicht so recht besprochen – gestern auf der Vollversammlung.
So fallen die Herangehensweisen und Ergebnisse an den verschiedenen Gebäuden recht unterschiedlich aus. Wer jedoch wirklich hinein will, kommt durch. Allmählich treffen schon mehr Streikende ein und beginnen, durch die laufenden Veranstaltungen zu gehen, um dort für den Streik zu mobilisieren – eigentlich um die Veranstaltungen zu beenden. Immerhin ist ja Streik und wir sind ein Sprengtrupp. Aber wer von uns will da überhaupt reden. Und was dann sagen? Auf Wiedersehen Herr Professor – wir streiken jetzt?
Die Erfolge sind eher mäßig, aber immerhin sind wir jetzt genug, um uns an der Blockade des Ernst–Reuter–Platzes zu versuchen. Bei Grün laufen wir auf die Straße. Das geht ganz einfach. Schon in wenigen Minuten ist der Platz recht zugestaut. Bald wird gehupt, einige Autofahrer kommen aus ihren Wagen und erklären, warum sie hier wirklich durchmüssen, um diese Ware auszuliefern oder endlich auf Arbeit anzukommen. Aber bei allem Respekt, ich bin hier doch nicht der Chef und kann die anderen auch nicht einfach wegschicken. Nach einer Weile geben sie auf ... aber da kommt auch schon die Polizei. Ein paar freundliche Worte aus dem Lautsprecher, und schnell stehen alle auf der Mittelinsel. Man sagt, es wird über die Spontananmeldung einer Demonstration verhandelt.
Aktionen
Wirklich besetzt werden Gebäude der TU Berlin erst später, nachdem sich die Streikaktiven auch an den Instituten gruppiert haben, aber auch dann nur gelegentlich. An der Humboldt–Universität hingegen bleiben Haupt– und Seminargebäude während des ganzen Streiks besetzt. Die Streikposten bekommen da aber auch gleich Entscheidungshilfen an die Hand, wer denn überhaupt durchgangsberechtigt ist und wer dazu einen Passierschein braucht. Das ist gerade zu Beginn eine große Hilfe beim Streikpostenstehen. Eingerechnet ist dabei allerdings die Duldung durch die Universitätsleitungen. An der Freien Universität fehlt diese, und für eine Besetzung der zentralen Gebäude gegen die Universitätsleitung fehlen die Kräfte, sie bleiben geöffnet. Und auch außerhalb der Universitäten wird besetzt, die U–Bahn, Senatorenbüros, die taz, die Zentralen der Regierungsparteien, das CHE der Bertelsmann–Stiftung, das Rote Rathaus und sogar der Offene Kanal Berlin.
Zahlreich sind die Aktionen von oft fachbezogenen Gruppen, die um den öffentlichen Ausdruck der eigenen Anliegen ringen. Da begleiten die Theologen im Talar die unvermeidlichen Beerdigungen von Bildung und Sozialstaat und es wird Laub geharkt (Landschaftsplanung), ein Slum vor der Uni aufgebaut (Architektur), Theater gespielt und viel gesungen. Gerade letzteres eignet sich auch gut als Störaktion. Ein Liedzettel, ein paar sangesfreudige Kommilitonen geschnappt und schon geht es zum nächsten öffentlichen Termin des Regierenden Bürgermeisters. Und wer nicht singt, stört halt mit anderen Mitteln. Durch diese Aktionen finden sich nach und nach an den Instituten Gruppen von Aktiven zusammen, die gerade in der Anfangsphase so sehr fehlten. Allerdings wirst du kaum plötzlich dein Institut besetzen, wenn deine Veranstaltungen bisher trotz »Streik« regelmäßig stattgefunden haben. Darum wenden sich die Aktiven weitgehend nach außen. Sie besetzen, stören, demonstrieren und erreichen damit eine erstaunliche Präsenz in den Medien, während die Präsenz in der Universität zusehends verfällt. Besonders gravierend ist das dort, wo nicht (mehr) oder nur sporadisch besetzt wird. Nach einer ausgedehnten Anfangsphase stößt deshalb im Laufe des Dezembers kaum jemand mehr neu zu den Aktiven.
... mit anderen betroffenen Gruppen
In Berlin ist es offensichtlich, dass nicht nur an Universitäten und bei Studenten gekürzt wird. Es reicht ein Blick in den Katalog der Einzelmaßnahmen zum Haushalt. Dort steht die Einführung von Studiengebühren in einer Reihe z.B. mit Kürzungen bei den Kindertagesstätten und der Streichung der Senatszuschüsse für das Sozialticket. Schnell wird deshalb die Solidarität mit den anderen betroffenen Gruppen erklärt, auch wenn die Solidarität vorerst etwas papieren bleibt.
Aber bald schon wird versucht, diese Erklärungen auch zu verwirklichen. Wer dies versucht, stößt durchweg auf belebende Resonanz. Fast alles scheint zu gehen. Flugblattverteilen in der S–Bahn wäre außerhalb des Streiks ein Unding, jetzt geht es. Es wird gelesen, manchmal entwickelt sich eine Diskussion daraus, und dass wir alle drei Millionen in Berlin auf die Straße gehen müssten, erfährst du bei der Gelegenheit ebenfalls. Du kannst dir völlig unbekannte Leute treffen, die dein Flugblatt vervielfältigen, um es selbst zu verteilen oder in der U–Bahn aufzuhängen.
Dennoch bleibt es schwierig, wirklich Brücken zu schlagen. In der Ausnahmesituation Streik scheint vieles möglich. Wir erleben Begegnungen auf Augenhöhe – aber der Schulterschluss bleibt aus und scheint fern, wenn nicht mehr Leute selbst in Bewegung und damit für neue Möglichkeiten empfänglich sind.
Eine Anzahl von Initiativen umgeht dieses Problem von vornherein, indem sie sich gleich an Vertreter (der Betroffenen) wenden. In diesem Geist entsteht das Berliner Bündnis gegen Sozial– und Bildungsraub. Die hochgesteckten Erwartungen – linke Schillpartei – verfliegen recht schnell, zu oft offenbaren sich die Schwächen dieses Ansatzes. Bei einer Kundgebung der lokalen IG–Metall und des Betriebsrates vor Osram stehen die unterstützenden Studenten dann auf einmal ziemlich allein da. Für den 13. Dezember wird die Unterstützung des DGB–Bezirks Berlin–Brandenburg gewonnen. Es soll eine große Demonstration gegen Sozial– und Bildungsabbau werden. Der DGB ruft zur »Demonstration der Studierenden« auf. Folgerichtig kamen auch fast nur diese. Nur weil Studenten aus dem ganzen Bundesgebiet anreisen, wird es dennoch die größte Demonstration des Streiks.
Wir fordern...
Am Anfang bedeuten die Forderungen noch etwas. Es wird um sie gestritten. Richtig klar ist sich aber offenbar niemand über die Rolle der Forderungen. Wozu stellen wir Forderungen?
So gibt es eine Tendenz, die – aus der Erfahrung der inneren Schwäche des Streiks – die Forderungen immer mehr entschärfen will. Sie glauben, damit den Streik zu stärken und mehrheitsfähiger machen zu können. Die Linken entlarven die dabei vorgebrachten Argumente schnell als standortnationalistisch etc. – scheinen sich selbst aber kaum um diese innere Schwäche zu sorgen. Mitunter wird ihnen diese Schwäche sogar zur Bedingung ihres Handelns. Eine kleinere Vollversammlung ist dann ganz bequem, um radikalere Forderungen zu verabschieden. Diese nimmt zwar an der Universität längst niemand mehr ernst, weil sie sich nicht als handlungsorientierend erweisen, aber das ist ja kein Schade, wenn es nur noch darum geht, sich für das außeruniversitäre Politikmachen zu empfehlen. Das kann soweit führen, dass zusammengeschrumpfte Vollversammlungen quasi ohne Gegenstimmen Streik und Besetzung beschließen, aber nach einer guten halben Stunde beendet werden, damit alle noch in ihre Seminare gehen können. Besetzungen finden ja schon seit Wochen nicht mehr statt. Sich selbst nicht mehr ernst zu nehmen – die eigenen Forderungen, Beschlüsse, Vollversammlungsreden – scheint eine Voraussetzung dieses Politiktreibens zu sein.
Aber auch die Verwässerer ziehen eine merkwürdige Konsequenz aus der Erfahrung innerer Schwäche. Es ist uns sicher nicht damit gedient, unsere Forderungen zu wahlkampftauglichen Phrasen abzunützen. Wenn ich Forderungen aufstelle, dann um mein Handeln erkennbar zu machen und andere zum Mitstreiten aufzufordern. Die meisten unserer Forderungen leisten dies nicht. Und selbst bei einer so grundlegenden Entscheidung wie der, den Streik zu beginnen, fehlt es der Vollversammlung an Geduld, um in Ruhe deren Bedeutung zu ermessen und zumindest ansatzweise Kriterien für das Verhalten im Streik zu entwickeln. Solche Versäumnisse dürften einen Gutteil dazu beigetragen haben, dass der größte Teil der Studenten sich kaum aktiv am Streik beteiligt hat.
aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004