Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 18 [w69studies_le.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #69 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]

»Konstruktiver Streik« und eine demokratisch nicht legitimierte Besetzung

Besetzung der Universitätsleitung in Leipzig

Am 10. Dezember wurde auf einer Vollversammlung an der Leipziger Uni, auf der lediglich eine Demo gegen Bildungs– und Sozialabbau besprochen werden sollte, der Streik beschlossen – allerdings erst für den Januar. Der StudentInnenrat (Stura) – das Pendant eines AStA – war davon einigermaßen überfahren worden. Ein Streikkomitee wurde gegründet, in dem Debatten darüber entbrannten, was denn »Streik« bedeute, inwiefern man sich damit in Gegensatz zur Uni–Leitung bewege. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass es nicht zu einer Blockade prüfungsrelevanter Veranstaltungen kommen sollte. Aber noch während das Streikkomitee auf der Vollversammlung sein Konzept des »konstruktiven Streiks« vorstellte, besetzte ein Dutzend Leute das jenseits des Hauptgebäudes befindliche Rektorat, erklärte sich zur neuen Uni–Leitung und benutzte die Pressestelle des Rektors, um eine Presseerklärung zu veröffentlichen, in der sie den Rücktritt des Rektors forderte.

Kurz danach erhielten die BesetzerInnen Verstärkung durch die Demonstration, die im Anschluss an die VV, auf der der »konstruktive Streik« beschlossen worden war, am Gebäude vorbeizog. Ungefähr hundert Leute tummelten sich plötzlich in den ansonsten für Besucher unzugänglichen Räumen – unter ihnen der Sprecher des Stura, der sich mit hochroten Ohren über die »kontraproduktive Aktion« beschwerte. Natürlich wollte er wissen, was denn die Forderungen der Besetzer seien, die im übrigen nicht – wie er – demokratisch legitimiert seien, für die StudentInnen der Uni zu sprechen. Die BesetzerInnen wollten zunächst mal wissen, was denn die Herrschaften hier so täten, schließlich wäre darüber zu diskutieren, wie die Verwaltung der Uni in die Hand der StudentInnen zu übergeben sei. Nach wenigen Minuten präsentierte der Stura–Sprecher eine Prorektorin als Gesprächspartnerin und sich selbst als Moderator: »...ich schlage vor, dass ich die Diskussion moderiere.« Sein Versuch, den Widerspruch zwischen der Universitätsleitung und den BesetzerInnen zu deckeln, scheiterte nach zehn Minuten, als ihm das Wort entzogen und eine gleichberechtigte Redeliste durchgesetzt wurde. Die Prorektorin konnte die Anwesenden nicht davon überzeugen, dass im Rektorat in ihrem Sinne gearbeitet würde. Das »Umsetzen der Hochschulreform« ist ja genau das, wogegen protestiert wurde.

Im Laufe des Nachmittags stellte sich mehr oder weniger das ganze Rektorat vor, um zu hören, was genau die BesetzerInnen eigentlich wollten. Die Diskussionen mit den verbliebenen ca. 60 Protestierern verliefen ziemlich kontrovers. Vorschläge des Kanzlers der Universität, man solle sich in demokratischen Parteien organisieren, statt Gesetze zu brechen, wurden abgewiesen und der Kanzler aufgefordert, lieber selbst mal Rückgrat zu zeigen und gegen seine Vorgesetzten zu rebellieren. Die zentrale und unmittelbare Forderung der BesetzerInnen lautete, die Räume weiter nutzen zu können, um von hier aus Aktionen im Rahmen des Streiks zu organisieren. Damit war auch jede Debatte um die Erfüllbarkeit der Forderung ausgehebelt: die Uni–Leitung konnte sich nicht auf den Standpunkt stellen, das stünde nicht in ihrer Macht, oder die BesetzerInnen mit dem Versprechen auf wohlwollende Prüfung oder weitere Verhandlungen herauszukomplimentieren. Die Uni–Leitung gestand auch die Ausrüstung der Räume mit Schreibtisch und PC zu, wodurch die BesetzerInnen mit einem Minimum an Aufwand und etwas Courage über bessere Möglichkeiten verfügten als das auf Konsens mit der Unileitung bedachte Streikkomitee.

Es gelang zwar während der gesamten anderthalbwöchigen »Besetzung« nicht, rund um die Uhr im Rektorat zu bleiben und dort auch zu übernachten, aber tagsüber wurden die Räume und die Technik für die Herstellung von Flugblättern, Diskussionen und ein allmorgendliches öffentliches Frühstück genutzt.

Auch rückblickend war die Besetzung ein Erfolg. Natürlich gibt es keine umittelbar messbaren Resultate, aber die Diskussion um die »Konstruktivität« des Streiks wurde polarisiert, und andere Gruppen, die dem »konstruktiven Streik« kritisch gegenüber standen, sahen sich bestärkt und drängten auf eine Bockade der Uni.



aus: Wildcat 69, Frühjahr 2004


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #69 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]