Besetzte Fabriken in Argentinien –
Bewegung gegen das Kapital oder Selbstverwaltung des kapitalistischen Elends?
In der Beilage zur Wildcat #68 »Eine Fabrik in Patagonien – Zanon gehört den Arbeitern« haben wir über dieses herausragende Beispiel der Fabrikbesetzungen berichtet. Letztes Jahr arbeiteten in Argentinien etwa 15 000 ArbeiterInnen in 180 instandbesetzten Betrieben. Seitdem sind jedoch kaum noch neue Projekte hinzugekommen. Der Niedergang der Bewegungen, besonders seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Kirchner vor einem Jahr, hat vor den besetzten Fabriken nicht Halt gemacht.
»In den 70er Jahren wurden aus ideologischen Gründen Fabriken besetzt. Heute machst du die Besetzung aus einer Notlage heraus, und die Ideologie kommt erst hinterher«
Besetzer der kleinen Brotfabrik Panificación 5, 2002Die aktuelle Welle von Besetzungen begann Mitte der 90er Jahre. Mit der Verschärfung der Krise nehmen die Besetzungen ab 2000 zu, und 2001 wird die MNER gegründet, die »Nationale Bewegung instandbesetzter Betriebe«. Diese Organisation ist ein Vereinnahmungsversuch: Sie setzt auf die Legalisierung der Betriebe als Kooperativen und bietet den ArbeiterInnen entsprechende Beratung und Unterstützung an. Federführend ist der Anwalt Dr. Luis Caro, der ganz im Stile seines Vorbildes General Perón als Retter der Armen gegen die Linke antritt. Er betont bei jeder Gelegenheit, dass er selbst in einem Armenviertel aufgewachsen ist und macht sich durch kostenlosen Einsatz bei Tag und Nacht bei den ArbeiterInnen beliebt und unentbehrlich. Dafür verlangt er von ihnen, dass sie die Finger von der Politik lassen, und dass sie nicht auf die eigene Kraft vertrauen, sondern auf ihn und den Rechtsweg. Caro kann juristische Erfolge vorweisen, er hat beste Verbindungen zu Kirche und Staat. Im September 2003 kandidiert er für das Bürgermeisteramt in Avellaneda, im Großraum Buenos Aires, auf einer Liste der peronistischen Partei PJ – gemeinsam mit Aldo Rico, dem Anführer eines der Putschversuche (1987) gegen die Regierung Alfonsín, mit denen die Militärs die Straffreiheit für ihre Verbrechen während der Diktatur durchgesetzt haben!
Die Mehrheit der besetzten Betriebe haben sich der MNER angeschlossen, bzw. der MNFRT, mit der sich Caro Anfang 2003 abgespalten hat. Nur eine radikale Minderheit weigerte sich, Kooperativen zu gründen, und forderte die »Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle«. Bei der Diskussion um »Kooperative oder Arbeiterkontrolle« ging es im Grunde nie um die Rechtsform, sondern um unterschiedliche politische Strategien. MNER/ MNFRT suchen innerhalb des bestehenden Systems nach einer Lösung für die einzelnen Betriebe. Durch ihr Vorgehen fördern sie die Entpolitisierung und Integration der Projekte. Der Fraktion Arbeiterkontrolle ging es dagegen um eine Ausweitung der Bewegung, um den Kampf gegen die gesamte kapitalistische Misere führen zu können. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Zwischen Repression und Integrationsangeboten ist die Initiative der ArbeiterInnen ins Stocken geraten.
Wiederherstellung des Privateigentums durch »Enteignungen«
Die BetriebsbesetzerInnen haben radikale Schritte unternommen. Statt um Arbeitsplätze zu betteln, haben sie sich die Produktionsmittel einfach angeeignet. Ihre Aktion zielt auf die Grundlagen: auf die Produktion und das Privateigentum. In den selbstverwalteten Betrieben haben sie kapitalistisches Kommando und Hierarchien durch Versammlungsstrukturen und Basisdemokratie ersetzt. Tausende ArbeiterInnen machten die Erfahrung, dass sie die Produktion und ihr Leben selbst in die Hand nehmen können. All das fand in einer Situation statt, in der die Politik zeitweilig ihre Legitimation verloren hatte, in der sich erhebliche Teile der Bevölkerung hinter der Parole »Sie sollen alle abhauen« versammelten und sich mit straßenblockierenden Arbeitslosen solidarisierten. Der Staat musste sich was einfallen lassen.
Im Fall der besetzten Betriebe waren das die sogenannten Enteignungsverfahren. Dabei wird ein Betrieb zum »Gegenstand öffentlichen Interesses« erklärt und den ArbeiterInnen für zwei Jahre überlassen. Wenn sie den Betrieb ans Laufen bringen, können sie ihn nach Ablauf der Frist kaufen. Das Risiko tragen sie selbst, Arbeiterrechte haben sie keine mehr. Aus ArbeiterInnen und BesetzerInnen werden potentielle KäuferInnen. Dem Privateigentum wird wieder zur Geltung verholfen.
Anfang 2003 wurde dieses Verfahren bereits für ein Drittel der besetzten Betriebe angewandt, und für ein weiteres Drittel wurden in direkten Verhandlungen mit dem Eigentümer oder per Gericht Mietverhältnisse vereinbart. Inzwischen sind – mit Ausnahme von Zanon – alle Besetzungen in irgendeiner Form (vorübergehend) legalisiert. Damit ist der Räumungsdruck vorläufig außer Kraft gesetzt – aber auch das Konfliktpotential.
Der spektakulärste Fall betraf die Textilfabrik Brukman, die neben Zanon zum Symbol für die Arbeiterkontrolle geworden ist. Auf der Straße vor der Fabrik fanden 2002 die ersten beiden »Treffen der besetzten Fabriken« statt. Hier im Zentrum der Hauptstadt hatte der Staat ein besonderes Interesse, das Widerstandssymbol zu zerstören – oder daraus eine harmlose Nähstube zu machen. Zwei Räumungsversuche konnten die Arbeiterinnen abwehren, den dritten im April 2003 nicht mehr. Der Versuch der Wiederbesetzung scheiterte unter Tränengas und Gummigeschossen. Die Arbeiterinnen richteten sich vor den Polizeisperren in einem Zelt auf der Straße ein, es folgten lange Wintermonate mit Demonstrationen und Durchhalten. Ohne Erfolg. Auf politischer und juristischer Ebene war nichts zu bewegen – bis schließlich Caro den Fall übernahm und im Oktober die »Enteignung« erreichte. Ende Dezember konnten die Arbeiterinnen in die Fabrik zurückkehren. Sie arbeiten wieder, ohne Chef, und können davon halbwegs leben. Aber die Fabrik ist nicht wiederzuerkennen. Plakate und Transparente sind verschwunden, auf der wöchentlichen Versammlung wird nur noch über Arbeit geredet, das gemeinsame Mittagessen wurde gestrichen, statt Demonstrationen sind Überstunden angesagt. Caro hat seine Linie durchgesetzt: die Arbeiterinnen sollen arbeiten, für die Politik ist er zuständig.
Von den selbstverwalteten Betrieben geht kaum noch politische Initiative aus. Die meisten sind völlig mit dem Überleben beschäftigt. Ging es vorher nur um das Einkommen für die ArbeiterInnen, so müssen sie jetzt im Hinblick auf zukünftige Übernahmen Profit erwirtschaften. Sie müssen sich auf dem Markt behaupten und sich wie Kapitalisten verhalten, die Produktivität steigern und die (eigene) Ausbeutung erhöhen. In Kleinbetrieben mit alten Maschinen – und das sind die meisten; die Hälfte der besetzten Betriebe hat weniger als 30 Beschäftigte – führt das zu langen Arbeitszeiten bei hohem Arbeitsdruck und geringem Lohn. Dieser Druck wirkt sich wiederum auf die internen Strukturen aus: der Spielraum für Basisdemokratie, Diskussion und Aktion wird geringer.
Selbstverwaltung ist keine Insel
Zanon ist als letzte Bastion der Bewegung übriggeblieben. Die hochmoderne Fabrik mit mittlerweile 380 Arbeitern war von Anfang an eine Ausnahme. In keinem anderen Betrieb sind interne Demokratie und Politisierung so weitgehend verwirklicht worden. Aber auch hier wirken die »Sachzwänge« – es wird über Produktivität oder die Ausweitung der Nachtschicht diskutiert –, und die allgemeine Tendenz zur Entpolitisierung macht sich ebenfalls bemerkbar. Die ArbeiterInnen von Zanon versuchen gegenzusteuern und leisten sich regelmäßige Diskussionstage, bei denen eine ganze Schicht lang alle gemeinsam nicht nur über Produktion und Finanzen, sondern auch über Lokal- und Landespolitik oder den Irakkrieg diskutieren. Sie sind weiterhin in den verschiedensten Mobilisierungen präsent und können umgekehrt auf die Unterstützung der Bevölkerung setzen. Aber sie werden den Zustand der Illegalität als einzelner Betrieb nicht auf Dauer halten können. Sie verfolgen nach wie vor die Idee der Arbeiterkontrolle, haben aber gleichzeitig formal eine Kooperative angemeldet. Welcher Kompromiss dabei herauskommen wird, ist schwer einzuschätzen.
Die ArbeiterInnen von Zanon haben immer betont, dass sie ihr Projekt nicht als Insel, sondern als Ausgangspunkt sehen, und ihre Erfahrungen werden in zukünftigen Bewegungen sicher noch eine Rolle spielen. Bis dahin gilt es zu überwintern ... Es gibt Anzeichen, dass sich untergründig in der normalen Welt der Arbeit etwas tut. Die U-Bahn-ArbeiterInnen haben Anfang April mit einem viertägigen Streik eine alte Forderung durchgesetzt: den 6-Stunden-Tag wegen gesundheitsgefährdender Arbeit. Auch in anderen Bereichen regt sich Widerstand gegen das Stillhalten der Gewerkschaftsbürokratie. Wenn hier eine neue Bewegung aufbricht, könnten auch die ArbeiterInnen der selbstverwalteten Betriebe wieder von der Selbstverwaltung des Mangels weg zu einer neuen Offensive kommen.
www.nuestralucha.org
Die Zeitung Nuestra Lucha erscheint seit April 2002, herausgegeben von einem Kreis von ArbeiterInnen aus besetzten und anderen Betrieben, mit Regionalgruppen in verschiedenen Provinzen, Auflage 14.000.
Sie berichtet v.a. über Arbeiterkämpfe.Zur Diskussion um »Kooperativen – Verstaatlichung – Arbeiterkontrolle?« siehe den Artikel in der Beilage zur Wildcat Nr. 68
Die Beilage gibt es inzwischen auch in einer polnischen und einer englischen Übersetzung.
aus: Wildcat 70, Sommer 2004