Wildcat Nr. 70, Sommer 2004, S. 3-5 [w70edi.htm]


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Wo liegt die Strategie?

Ein Hausprojekt in einer deutschen Kleinstadt – in sechs Jahren fünf Besitzer, die alle mit dem wertvollen Altbau spekulieren wollen und dazu die BewohnerInnen loswerden müssen. Jedesmal Dutzende Hausplena, Diskussionen: »sollen wir offensiv?« – Irgendwie hat sich immer die »Strategie« durchgesetzt: alles aussitzen, Termine rauszögern, abwarten ... nicht, weil wir so kluge Köpfe gewesen wären oder weil wir das für die beste Lösung gehalten hätten – eher, weil wir Schwierigkeiten hatten, uns auf was anderes zu einigen und weil wir die allgemeine gesellschaftspolitische Situation nicht so eingeschätzt haben, dass wir mit einer Demo viel reißen oder eine Besetzung lange halten könnten. Nach sechs Jahren wohnen wir immer noch drin, zahlen immer noch sehr niedrige Mieten ... Die Revolution haben wir nicht gemacht, sooo falsch war unser Verhalten andererseits auch nicht. Aber: war es »Strategie«?

Zoom: die Arbeiterklasse. Sie hat in der zweiten Hälfte der 60er Jahre weltweit mächtig zugeschlagen. Damals hatten die allermeisten »Strategen« sie bereits aufgegeben oder als »Mittelschicht« abgeschrieben – alle, außer ein paar OperaistInnen in Italien, die ganz frech behaupteten: »die Strategie liegt in der Klasse« (S. 6).

In der BRD werden die ArbeiterInnen seit mehr als 30 Jahren alle drei bis vier Jahre von irgendwelchen »Strategen« zum letzten Gefecht aufgefordert. Nun sei das Faß endgültig voll, nun drohe die absolute Verelendung, der Weltkrieg, Franz–Josef Strauß, der Faschismus, die Agenda 2010 – alles was noch helfe, sei der Endkampf!

Aber vielleicht ist die Arbeiterklasse ähnlich gut organisiert wie ein Hausplenum: man verbringt die Tage gemeinsam (oder auch mal zwei Wochen lang die Nacht{schichten}, wenn man in Melfi arbeitet – S. 16), man weiß, man ist in derselben Lage, aber man kann sich nicht so richtig auf offensives Vorgehen einigen – und wartet halt ab. Wenn es stimmt, dass die Strategie bei der Klasse liegt – liegt sie da gut?

Zoom: die Bewegung. Viele AktivistInnen schieben Frust, der Feind meint triumphieren zu können. Aber die Bewegung, die mit Seattle, Prag und Genua an die Oberfläche getreten ist, ist keineswegs zuende. Eine Phase ist vorbei, neue Fragen stehen an. Diese Bewegung setzt sich aus vielen Bewegungen zusammen. Sie folgt nicht mehr dem Schema: 'entsteht – erreicht den Höhepunkt – geht zurück'. Dieses zyklische Auf und Ab hatte nämlich zwei Voraussetzungen: eine räumliche (lokal, national) und eine vektorale (Teilforderungen). Die Bewegung hat einen qualitativen Sprung gemacht, indem sie zum erstenmal global geworden ist (ein Ausdruck davon war die weltweite Demo am 15. Februar 2003). Es geht nicht mehr um »internationale« Solidarität zwischen voneinander getrennten Kämpfen, die Fabrikbesetzungen in Argentinien (S. 64), die Streiks in China sind keine Geschichten aus anderen Zeiten und weit entfernten Kontinenten, sie erzählen von uns selber, von unseren eigenen Problemen, unseren eigenen Begrenzungen... Frühere Bewegungen haben sich – implizit oder explizit – auf den Nationalstaat bezogen, haben (direkt oder indirekt) mit ihm verhandelt, hatten Verhandlungsergebnisse, Erfolge, Niederlagen, das ergab ein zyklisches Auf und Ab. Die heutige Bewegung hat keine Verhandlungspartner mehr und: sie hat radikale Anliegen: Krieg, Arbeit, Wissenschaft, das Recht auf Privateigentum... Diese Unübersichtlichkeit ist eine der Qualitäten dieser Bewegung (man muss sich nur mal klarmachen, wie schnell »'68« zwischen Jusos und Maoismus eingefangen und unschädlich gemacht worden war und wie lange sich die heutige Bewegung schon entwickelt!). Auch wenn die üblichen Verdächtigen wieder heftig dran arbeiten, die Bewegung in gewohntes Gelände zurückzuholen, in mediale events und verhandelbare Häppchen zu zerlegen, mit institutionellen »Erfolgen« zu ködern, in der Selbstverwaltung des Gettos einzuschließen ... Die wirklichen Fragen im Übergang zur nächsten Phase sind Probleme wie: Woher kommt die Macht, um unsere Feinde zu besiegen? Wie können wir Kriege tatsächlich verhindern? Früher nannte man das »Strategiedebatte« – hilft sie uns weiter? – und alle »Revolutionäre« waren diesbezüglich (positiv oder negativ) auf »Was tun?« geeicht. In dieser Schrift hatte Lenin 1902 auf solche Fragen geantwortet: »die Partei aufbauen«. Weil die Massen nur »trade–unionistisches Bewußtsein« entwickeln könnten, brauche es die Partei (»eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation«), die von außen den Massen das »sozialdemokratische Bewußtsein« bringt. Dieser mehrfach gescheiterte Revoluzzer fasziniert bis heute Manager, Philosophen und Staatsstreich–Aspiranten, weil sein Modell am Ende siegreich war. Er konnte »seine« Partei zur Revolution »zwingen«. Die Bolschewiken übernahmen die Räte der – damals sehr minoritären – Arbeiterklasse und zwangen damit dem ganzen Land ihre Revolution auf. Das ist das Faszinosum Lenin. Andere raten gerade aus diesem Grund von Revolutionen überhaupt ab – man wisse ja, was dabei herausgekommen ist. Und viele wollen bestimmte Fragen gar nicht mehr stellen, nur weil Lenin eine bestimmte Antwort darauf gegeben hat. Können wir heute die Machtfrage in einem emanzipatorischen Sinn stellen? Läßt sich Strategie anders als vom Feldherrenhügel denken?

Und haut sie hin?

Negri hat in den 70er Jahren (»Vorlesungen zu Lenin« in Padua) den Begriff Klassenzusammensetzung benutzt, um nocheinmal das Modell einer Revolution von oben zu pushen – und damit den Begriff für Libertäre diskreditiert. Ende der 1980er Jahre beendet am anderen Ende der Welt der Libertäre Steve Wright eine umfangreiche Abhandlung zum Operaismus. Er hat das theoretische und politische Konzept Klassenzusammensetzung ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt, weil er es für die Errungenschaft des italienischen Operaismus hält. Zusammen mit der Einsicht, daß es spontane Kämpfe gar nicht gibt, ermöglicht dieses Konzept einen Entwurf von »Mituntersuchung«, der nicht nur ein neues Verhältnis zwischen Revolutionären und ArbeiterInnen ermöglicht, sondern auch tiefe Einsichten in die Entwicklung der Klassenkämpfe.

Bei der Frage, wie sich diese Einsichten in »Intervention« umsetzen ließen, kam der Operaismus jedoch nicht sehr weit. Wegen der Lücke zwischen der Analyse des Bestehenden und dem eigenen Wunsch nach Revolution landete man wieder bei »Lenins Partei« – mit entsprechend katastrophalen Folgen (S. 13). Stattdessen erwacht seit etwa 1972 das Interesse für eine Massenorganisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA: die Wobblies. Steve Wright geht in seinem Buch Storming Heaven darauf ein – und sieht gerade im materialistischen Bezug auf die Bedürfnisse, der Ablehnung der »pie in the sky« einen Strang von den Wobblies zu den Operaisten. Das Lied des Wobbly Joe Hill, mit dem er den Ausdruck »pie in the sky« unsterblich gemacht hat, wird auf S. 2 vorgestellt, ein Buch über ihn wird auf S. 73 besprochen. Und weil Steves Buch im Herbst auf Deutsch erscheint, haben wir schon mal ein Interview mit ihm gemacht (part one auf S. 9). Daß »der Materialismus des Feuerbachkapitels« ganz prächtig zur Untersuchung taugt – aber wenig Handhabe fürs Eingreifen gibt, findet auch unser Rezensent des hotlines–Buchs von kolinko (S. 26).

Krieg

Der Erste Weltkrieg und die damit verbundene Repression nach innen hat wesentlich zur Zerschlagung der Wobblies beigetragen. Aktuell hat die Arbeiterklasse (nicht nur) in den USA wieder mit massiven Repressionen im Zuge des »war on terror« zu kämpfen. Aber offensichtlich gewinnt sie ihren Kampfesmut zurück – auch wenn viele Streiks derzeit noch mit Niederlagen enden (der Supermarktstreik in Kalifornien {WC 69}; der Streik bei Visteon {S.56}): die Truckers in Kalifornien bringen neues Feuer in den Klassenkampf in den USA (S. 36).

Die Wobblies zerbrachen nicht nur an der Repression im Gefolge des Ersten Weltkriegs, sie hatten auch der »Wissenschaftlichen Betriebsführung« eines Taylor nichts mehr entgegenzusetzen, einige ihrer Theoretiker wurden sogar – ganz ähnlich wie Lenin – zu glühenden Verfechtern der neuen Produktionsweise (Fließband). Deshalb enden die historischen Parallelen an dieser Stelle: der Erste und der Zweite Weltkrieg setzten eine Produktionsweise gegen die Arbeiterklasse durch, die es bereits gab – der heutige Krieg setzt keinen »new deal«, »american way of life« o.ä. auf die Tagesordnung, sondern ist Ausdruck der kapitalistischen Krise. (S. 30)

Die hochgepushte Debatte um die Auslagerung ist ein weiteres Beispiel, wie das Kapital seine Krise aggressiv gegen die ArbeiterInnen zu wenden versucht. Zwar gehen sehr viel mehr Arbeitsplätze durch Konkurse und sinkende Umsätze verloren als durch Auslagerung – propagandistisch funktioniert es aber viel besser, wenn der Unternehmer droht: »Entweder Ihr akzeptiert meine Bedingungen, oder ich verlagere den Betrieb nach Osten ...« (S. 40)

Die Fiat–ArbeiterInnen haben mit ihrem dreiwöchigen Streik gezeigt, daß man heutzutage nicht nur defensiv (gegen Verschlechterungen und Betriebsschließungen), sondern durchaus auch offensiv kämpfen und seine Bedingungen verbessern kann. »Die soziale Frage wird nicht im Diskurs entschieden«. (S. 16) Im Gegenteil! Nachdem wir 2001 zum antifa–kongress behauptet hatten: The revolution will not be napsterized!, gehen wir heute einen Schritt weiter und versichern Euch:

The revolution will be unblogged!

(Einen netten Beitrag dazu findet Ihr hier (wer nicht weiß, was ein »blog« ist, kann hier nachlesen).

P.S. Wir experimentieren noch ein bisschen: Was packt man auf Papier, was stellt man ins Internet? Bei dem Interview zu SUD (S. 24) haben wir nur einen kleinen Ausschnitt ins Heft genommen und stellen den gesamten Text gleichzeitig mit dem Erscheinen dieses Hefts auf unsere Website.

P.P.S. Das Erdölproletariat ist nicht besiegt! Weder im Iran, Irak noch in Nigeria (S. 35) – und als wir schon drucken erreicht uns die Nachricht: Streik auf zwei norwegischen Bohrinseln. Es geht um höhere Renten, bessere Vorruhestandsregelung und mehr gewerkschaftliche Mitspracherechte bei Zeitverträgen.

»Der Rohölpreis ist wegen eines Ölarbeiter–Streiks auf norwegischen Bohrinseln in der Nordsee gestern auf den höchsten Stand seit Anfang Juni gestiegen. 207 Bohrinsel–Arbeiter streiken, insgesamt wird die Produktion dadurch um täglich knapp 300 000 Barrel, das sind gut 10 Prozent der norwegischen Förderung, gedrosselt. Die Aktion könne nach Ablauf einer Woche ausgeweitet werden, hieß es weiter. Branchenexperten rechnen jedoch mit einer schnellen Lösung des Konflikts. Aufwärtsdruck auf die Preise übten erneut Nachrichten aus dem Irak aus. Die Reparatur der bei Anschlägen sabotierten Pipelines verzögerte sich. « (dpa 21.6.2004)



aus: Wildcat 70, Sommer 2004


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