Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 24-28 [w71_auto5000.htm]


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5000 »Automobilbau-Talente« gesucht

Im November 1999 stellte VW-Arbeitsdirektor Hartz das sogenannte Projekt »5000 mal 5000« der Öffentlichkeit vor. 5000 Arbeitsplätze sollten für die Fertigung des »Touran« in Wolfsburg und Hannover entstehen. Ziel sei es, »Arbeitsplätze aus dem Ausland« nach Deutschland zurückzuholen. Man wolle zeigen, dass auch unter deutschen (Hochlohn–)Bedingungen eine profitable Produktion möglich sei.

Grundgedanke des Projekts ist die Produktion einer Stückzahl gegen Fixlohn von 5000 DM (2556 Euro). Darüber hinaus sind keine weiteren Zahlungen für Überstunden-, Nachtarbeits- oder Wochenendzuschläge, Weihnachts- bzw. Urlaubsgeld vorgesehen, und es sollte auch keinen Freizeitausgleich geben. Das alles bei gleitender Arbeitszeit von 28,8 bis zu 48 Wochenstunden mit dem Samstag als Regelarbeitstag. Zunächst ist es ein Wunschzettel.

Weil die Wünsche nicht mit den geltenden Tarifverträgen der VW AG zu vereinbaren sind, wird eigens eine Tochterfirma, die Auto 5000 GmbH, gegründet. Ende März 2001 beginnen die Verhandlungen mit der IG Metall. Grundsätzlich begrüßt die IGM das Konzept, sieht aber Nachbesserungsbedarf bei Arbeitszeiten und Entlohnung. Am 28.7.2001 wird ein Tarifvertrag mit dreieinhalb Jahren Laufzeit über die Bedingungen der Produktion des Touran am Standort Wolfsburg abgeschlossen. Nun gilt:

Die »wertschöpfende regelmäßige Arbeitszeit« beträgt 35 Stunden je Woche im Jahresdurchschnitt. Sie kann bei Bedarf bis auf 42 Stunden ausgedehnt werden. Bis zu 200 Stunden können auf dem Arbeitszeitkonto angesammelt werden. Ausgleich durch Freizeit oder durch Bezahlung mit 25 Prozent Zuschlag. Die Frühschichten und Spätschichten am Samstag sowie die Anfahrschicht am Sonntagabend gehören zur Regelarbeitszeit. (Bezahlte) Überstunden können faktisch nur durch vom Arbeitgeber verschuldete Schäden entstehen. Wird die Stückzahl in der vereinbarten Qualität nicht erreicht, muss unbezahlte Nacharbeit geleistet werden. Die Verantwortung für Mängel liegt beim »Team«. Wöchentlich sind drei Stunden Qualifizierung abzuleisten, davon werden 1½ Stunden bezahlt. Während der ersten zwei Jahre Betriebszugehörigkeit gilt eine zweiwöchige beiderseitige Kündigungsfrist, anschließend die gesetzlichen Bestimmungen.

Es gibt diverse Zusatzvereinbarungen zum Tarifvertrag, in denen die »Gestaltung der Arbeitsorganisation« festgeschrieben wird. Hier wimmelt es von Anspruchsformulierungen, wie »menschengerechte Gestaltung der Arbeitsorganisation«, »abwechslungsreiche und ganzheitliche Arbeitsinhalte«, »flache Hierarchien«, »teilautonome Teams« mit »erweitertem Handlungs-, Dispositions- und Entscheidungsspielraum«. Das Kapitalkommando reorganisiert sich auf nur drei Hierarchieebenen: Geschäftsführung, Betriebsingenieure, Produktionsarbeiter.

In einem Anhang zur »Leistungs- und Personalbemessung« taucht das Kriteirum der »biologischen und sozialen Zumutbarkeit« der Personalbesetzung auf. Außerdem gibt es einen »Qualifizierungstarifvertrag«: Alle Beschäftigten werden nach zwei Jahren »fortlaufender Qualifizierung« in der »Lernfabrik« zertifizierte »Fachkräfte für Automobilbau«. In einem »Mitbestimmungsvertrag« wird dem Betriebsrat Mitbestimmung bei der Festlegung von Produktionszielen, Personalbemessung und Boni eingeräumt.

Die Standortverherrlichung und die Vereinbarungen zur »ganzheitlichen Arbeitsorganisation« und »Mitbestimmung« haben in nahezu sämtlichen Medien Begeisterungsstürme ausgelöst. Selbst von »kritischen GewerkschafterInnen« kommt Lob. Die IGM feiert das »innovative Modell« im Allgemeinen und die Erhaltung der 35-Stunden-Woche im Besonderen nach den »dramatischen Verhandlungen« als ein »bemerkenswertes Signal für den Arbeitsmarkt«. Man habe sogar erreichen können, dass die Beschäftigten nach der Probezeit unbefristet übernommen werden.

Im Januar 2003 beginnt dann – mit einiger Verspätung – die Fertigung des Touran. Bis Ende 2004 soll der Vollbetrieb erreicht werden. Von 43 000 Bewerbern wurden 3780 für die Qualifizierungsphase ausgewählt und letztlich knapp 3000 eingestellt. Sie waren zu über 90 Prozent vorher arbeitslos, sind überdurchschnittlich gut qualifiziert und kommen jeweils zur Hälfte aus West- und Ostdeutschland. Die Zusammensetzung der Beschäftigten hinsichtlich Alter und Geschlecht bewegt sich in dem für den Automobilbau üblichen Rahmen. Das Durchschnittsalter der Belegschaft beträgt 32 Jahre. Von den Beschäftigten in der Probezeit wurden 149 nicht übernommen oder haben selbst gekündigt.

Ganz reibungslos kann die Anlaufphase jedoch nicht verlaufen sein. Es mussten »Unterstützer« mit VW-Erfahrung in die Auto 5000 GmbH integriert werden: insgesamt 107 Kräfte, meist auf unterer Management-Ebene. Nun sind es vier Hierarchieebenen: Geschäftsführung, Gewerkeleiter, Betriebsingenieure/-meister, »Unterstützer«. Offenbar gab es auch Zusammenstöße mit selbstbewussten Arbeiterinnen und Arbeitern. Eine von VW und der IGM bezahlte sozialwissenschaftliche Studie gibt wieder, was zu hören war: »Mit uns ehemaligen Arbeitslosen meinen die wohl, alles machen zu können«. Die Studie umkreist solche Erfahrungen auf Zehenspitzen: Die »gestiegene gesellschaftliche Sensibilität der Arbeitslosen« und der »Anspruch auf selbstverantwortliches Arbeitshandeln« habe einen »besonders kritischen Resonanzboden für wie immer unvermeidbare Ungerechtigkeiten« gebildet. Letztlich handele es sich aber um Anlaufschwierigkeiten und unvermeidbare Konflikte. »Die nach wie vor hoch motivierte Mannschaft ebenso wie die Träger des Konzepts im Management und beim Betriebsrat begründen gute Chancen, das Projekt auf der Erfolgsspur zu halten und damit einen Beitrag zu leisten für eine Renaissance qualifikatorisch zudem aufgewerteter industrieller Produktionsarbeit am Standort Deutschland.«

(SOFI – Göttingen: Zwischenbericht zum Projekt 5000x5000)



Automobilbautalente
innovativ verarbeitet

Frank W. durfte sich in die frisch aufgestellten VW-Arbeiterkolonnen bei Auto 5000 einreihen. Nach einem halben Jahr hatte er die Schnauze voll. Ein Lebensabschnitt in der »ganz neuen« Arbeitswelt.

Frank bewohnt mit seiner Freundin eine Reihenhaus-Mietwohnung in einem Dorf nahe bei Magdeburg. Er ist 24 Jahre alt, hat nach Abschluss der Realschule eine Lehre als Glaser und anschließend Zivildienst gemacht. Dann ein Jahr Arbeit in einer kleinen Glaserklitsche. Die Klitsche macht Pleite.

Nach kurzer Arbeitslosigkeit bewirbt Frank sich gegen Ende 2002 bei VW. So machen es viele aus seiner Gegend. Er durchläuft sämtliche Bewerbungsprozeduren: die zwingend vorgeschriebene Internet-Bewerbung, die eintägige Vorstellungsrunde in Magdeburg, den Gesundheits-Check. In der Runde müssen »Fähigkeiten« nachgewiesen werden. Neben der Bewährung bei einfachen Montagetätigkeiten und Rechenaufgaben wird am Beispiel einer »sozial gerechten Urlaubsplanung« auch die sogenannte Teamfähigkeit getestet – ein Vorgeschmack auf Kommendes.

Frank gehört zu denjenigen, die die Prüfungen bestehen. Im Orga-Plan von Auto 5000, der den »Arbeiter« nicht mehr kennt, ist er fortan ein »Automobilbautalent« und wird Anfang 2003 drei Monate lang vom Arbeitsamt für sein neues Leben »qualifiziert«. Dafür gibt es erstmal weiter das bisherige Arbeitslosengeld. Die ersten sechs Wochen »Qualifizierung« sind in Magdeburg zu absolvieren. Da wird Grundwissen aus vielen technischen Feldern angetippt, aber auch ausgiebig die Teamarbeit besungen. Dann gibt es in Wolfsburg sechs Wochen lang »Ausbildungspraxis«. Im Klartext: nach kurzer Mitlaufzeit bei älteren Kollegen – auch sie »5000er« – ab zur normalen Tätigkeit am Band. Kommentarlos wird aus dem »Automobilbautalent« der altgewohnte Arbeiter.

Nach Ablauf von drei Monaten Praxis kommt für Frank und alle anderen aus seiner Klasse die Übernahme in die Probezeit. Eine feierliche Angelegenheit. Alle Kandidaten werden zusammengerufen und erhalten ihre auf ein halbes Jahr befristeten Arbeitsverträge. Frank wirft einen schnellen Blick auf die Lohnzeile: 2045 Euro im Monat. Anschließend predigt ein Vertreter der VW-Bank, dort ein Girokonto zu eröffnen – selbstverständlich ganz zwanglos, aber nicht ohne Hinweis auf Bedeutung bei einer etwaigen Festeinstellung. Zum Abschluß eine Lobpreisung auf Solidarität und Organisierung durch einen Geschäftsträger der IG Metall. Er rekrutiert alle Neu-VWler für die Gewerkschaft. Jetzt kann es richtig losgehen.

Die Eingestellten werden in Teams eingeteilt. An Franks Fertigungsstrecke arbeiteten vier Teams zu jeweils ca. zehn Leuten. Frank selbst ist – wie die meisten aus seiner Klasse – in einem Montageteam gelandet. Hier ist offenbar gute Durchmischung Trumpf: Die jüngsten sind Anfang 20, der älteste 46, vom Maler bis zum Elektrotechniker alle möglichen Berufe, Verhältnis Ossis/Wessis fifty-fifty, mehrere Türken und Russen, eine einzige Frau, die bleibt nicht lang.

Ab sofort wird nur noch montiert: Räder, Reifen, Airbags, Lenkräder, Radkappen, Lenkräder, Airbags, Reifen, Räder. Undsoweiter. Gearbeitet wird mit einfachen Werkzeugen aus einem Rollwagen. Auch Frank hat einen. War da nicht mal die Rede von Robotern? Aber fragen kann Frank niemand. Alle sind neu, keiner kennt das alte VW-Werk. Kontakte zu Teams von anderen Strecken? Fehlanzeige. Vorgesetzte? Getreu dem Orga-Schema von Auto 5000 gibt es einen einzigen, den Betriebsingenieur, genannt »BI«, zuständig für die vier Teams an der Strecke.

Die Arbeit im Team wird »eigenverantwortlich« eingeteilt, ohne Teamchef, ohne Sprecher.Das passiert jeden Tag neu, und zwar vor dem Bandanlauf bei Schichtbeginn, außerhalb der Arbeitszeit. Am Anfang wurde jeden Morgen neu um die einzelnen Jobs gestritten, total chaotisch. Dann ist man zu Wochenplanungen übergegangen. Allerdings werden die Pläne immer über den Haufen geworfen, weil irgendjemand fehlt. Frank und seine Kollegen versuchen es so zu organisieren, dass jeder jeden Tag was anderes macht, um die Arbeit nicht ganz so stumpfsinnig werden zu lassen.

Gearbeitet wird in drei Schichten, eine Woche Früh-, eine Woche Spät-, eine Woche Nachtschicht. Dreimal täglich zwischen den Schichten steht das Band für eine halbe Stunde. Jetzt kann Unerledigtes nachgearbeitet oder Extrapensum vorgearbeitet werden. Nach Schichtende wird fast täglich länger gearbeitet – und zwar in einer speziellen Nacharbeits-Strecke. Zusätzlich wird eigentlich fast an jedem Wochenende malocht. Und wenn Frank am Samstag aus der Frühschicht kommt und am Sonntag wieder in die Nachtschicht geht, macht er Bekanntschaft mit der Sieben-Tage-Woche. Grimmig erinnert er sich daran, dass in den Bewerbungsgesprächen Wochenendarbeit maximal einmal im Monat angekündigt worden war.

Immerhin kann er seine Wohnung behalten. Die Entfernung nach Wolfsburg macht es möglich zu pendeln. Zwei Stunden Autofahrt an jedem Arbeitstag.

Die Arbeit selbst: Stumpfsinn und Stress pur. Am stumpfsinnigsten findet Frank die Airbag-Aufkleber-Schicht. Da muss er den ganzen Tag einen Aufkleber oben und einen unten anbringen. Der Zeitdruck regiert die Gedanken. Die Schichten sind unterbesetzt, machen reichlich Fehler. Also Nacharbeit. Kaum ein Tag vergeht ohne Überstunden. Ob sie bezahlt werden müssen, weiß keiner, denn »selbstverschuldete« Mehrarbeit ist im Programmentgelt schon enthalten. Franks Überstunden bleiben erstmal unbezahlt.

Im Übrigen gibt es laufend mündliche Abmahnungen wegen schlechter Qualität. Alle Nase lang wird das Band angehalten – mitunter steht es den ganzen Tag. Dennoch wird fast jede Woche die Bandgeschwindigkeit wie geplant erhöht. Während der chaotischen Bandstillstandszeiten werden Neue angelernt. Dafür ist sonst keine Zeit. Von Qualifizierung, wie sie im Tarifvertrag versprochen wird, hat Frank nie mehr etwas bemerkt. Der Anspruch gilt ohnehin nur für Festangestellte.

46 Minuten Pause pro Schicht, zweimal 13 und einmal 20 Minuten. In dieser Zeit dürfen Frank und seine Kollegen in der Teamkabine sitzen, einem durch Glaswände abgetrennten Bereich neben dem Band. Hier kann mitgebrachtes Essen aufgewärmt werden. In der Halle gibt es auch eine Würstchenbude, aber fürs Würstchenholen plus Essen reicht die Pausenzeit nicht. Frank meint, dass er während seiner VW-Zeit zehn Kilo abgenommen hat. Wenigstens hat er getrunken: meistens fünf Liter Selterswasser pro Tag, wegen der Hitze. In einer Zeitung hat er mal von den angeblich »klimatisierten Räumen bei VW« gelesen. Da konnte er nur staunen.

Die Arbeit am Montageband macht krank, daran ändern auch die VW-Werbesprüche nichts. Wer nicht durchhält, wird gefeuert oder wirft selbst das Handtuch. Kranksein – das erlauben sich in Franks Umgebung nur die schon Gekündigten. Bei der Auftaktversammlung wurde zu verstehen gegeben, dass man auch »mit gebrochenem Bein« seine Arbeit macht. Wer bei Auto 5000 zum zweiten Mal krank macht, erfährt in einem »Gespräch« hinter verschlossener Tür, was unter dem »Miteinander« der Auto-5000-Philosophie zu verstehen ist – Verpflichtung zum Stillschweigen eingeschlossen.

Frank meint, dass er mit seinem Montageteam wohl die »Arschkarte« gezogen hat – in anderen Teams scheint die Arbeit – wenn auch nicht toll – doch immerhin erträglicher zu sein. Die Frustration ist aber ziemlich allgemein. Nur Hoffnungen auf einen »unbefristeten Job« motivieren die meisten zum Weitermachen. Obwohl es kaum Alternativen gibt, bewerben sich viele von Franks Kollegen immer wieder anderswo. Während seiner Zeit haben außer ihm selbst zwei weitere Kollegen im Team gekündigt. Sämtliche Teams schreien ständig nach zusätzlichen Leuten, aber während Franks Zeit gab es einen Einstellungsstopp.

Frank erinnert sich, dass er sich richtig auf den Job gefreut hat, nachdem er bei VW angenommen war. Aber bereits am ersten Tag sei die Ernüchterung gekommen. Nur Stumpfsinn und ständige Arbeitshetze. Auf Schlagwörter wie »ganzheitliche Arbeitsabläufe«, »teilautonome Teams« usw. angesprochen, kann er sich kaum ein müdes Lächeln abringen. Insgesamt habe es während seiner VW-Zeit auch bei den anderen eine zunehmende Ernüchterung gegeben. Nur wenige identifizieren sich mit VW, die werden nicht für voll genommen und bleiben Außenseiter. Die Kumpels, die sich bei ihm nach VW erkundigt haben, hat Frank alle davon abhalten können, sich dort zu bewerben. Jedenfalls hat er seine Kündigung »keine Sekunde bereut«.

Gekündigt hat Frank, als er von der Möglichkeit erfuhr, einen alteingesessenen Glasereibetrieb in der Nähe seines Heimatorts zu übernehmen. Es läuft »ganz gut« – auch wenn er weniger Einkommen hat als bei VW. Es gibt eine geregelte Arbeitswoche mit Acht-Stunden-Tag und nur gelegentlichen Wochenend-Einsätzen. Parallel zur Arbeit macht er jetzt seinen Meister und schaut recht zuversichtlich in die Zukunft.



aus: Wildcat 71, Herbst 2004


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