Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 58 [w71_mucke_krise.htm]


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Mit Respekt durch die Krise?

Auf unseren Artikel »making music is killing music« in der Wildcat 69 schrieb uns ein Leser, wir hätten mit dem Begriff »Krise der Musikindustrie« eine falsche Richtung eingeschlagen. »Es gibt keine Krise der Musikindustrie, sondern eine Umstrukturierung der Kulturindustrie.«
Eigentlich wollten wir genau das schreiben: Krise der alten Musikindustrie, neue Geschäftsmodelle, neue Copyright-Modelle wie »Creative Commons« und ihr Anhang (de:bug usw.). Krise ist nicht der Zusammenbruch, sondern beschreibt einen Zustand der Wandlung, der auch zu einer weiteren Phase führen kann. »Schreib doch Deine Kritik auf!« antworteten wir ihm. Und heraus kam dieses:

Krise? - wessen Krise?

Wenn Coca Cola immer weniger Fanta verkauft, der Umsatz der anderen Getränkesorten aber steigt, spricht niemand von einer Fanta-Krise, sondern von einer anstehenden Bereinigung der Produktpalette. Um im Bild zu bleiben: das Verhältnis von Kulturindustrie und Musikindustrie entspricht dem von Softdrinks und Fanta.

Die Behauptung einer Musikindustrie-Krise ist als Ausgangspunkt einer Analyse nahezu untauglich. Die fünf Branchenriesen (EMI, BMG, Sony, Universal/Vivendi, AOL-Time Warner) sind keine reinen Musikunternehmen, sondern Medien-Unterhaltungs-Elektronik-Riesen, bei denen die Musik nur einen geringen Teil des Umsatzes ausmacht. Die Ausnahme ist die EMI, ein »reines« Musikunternehmen, das die Zersetzung des Musikmarktes noch am besten wegsteckt. Hier sind die Beatles, Joe Cocker, BAP, Pink Floyd usw. unter Vertrag – konservatives Zeug für eine KäuferInnenschicht, die nicht zur Download-Generation gehört.

Im Prinzip war mit der CD die spätere Deregulierung der Branche beschlossen. Die Durchsetzung der CD vor 15, 20 Jahren half zum einen über eine beginnende Absatzkrise hinweg (die Plattenfirmen konnten für wenig Geld ihre Backlists wiederauflegen und neuen Käuferschichten zuführen; die Herstellungskosten einer CD sind so niedrig, dass man mit 10 000 verkauften CDs den gleichen Gewinn macht wie früher mit 20 000 LPs). Andererseits bedeutete sie eine Degradierung bzw. Profanisierung des Musikhörens: Die CD ist kein vorsichtig zu behandelndes Fetischobjekt wie eine LP (die LP strahlt ja etwas manufakturelles, handwerkliches aus; man schaut ihr beim Klangproduzieren zu!). Sie ist robuster, liebloser gestaltet und verschwindet beim Musikhören! Ob die Musik via Schallplattenspieler oder via CD-Player reproduziert wird, ist ein großer Unterschied. Ob sie vom CD-Player oder dem Rechner kommt, ist noch nicht einmal ein kleiner. Digitalisierung ist Digitalisierung.

Die Deregulierung des Musikmarktes ist für diejenigen dramatisch, die ausschließlich für diesen Markt Produkte herstellen. Für die Kulturindustrie, die innerhalb ihrer Zweige (Film, Musik, Literatur, Medien, Unterhaltungs-, Freizeit- und Alltagselektronik etc.) an (Absatz-)Grenzen stößt, ist sie eine große Chance. Denn mit dem Verschwinden des Musikmarktes verschwindet auch ein – tendenziell starrsinniger und altmodischer – Konsumententyp. Die Möglichkeiten des Crossmarketings scheinen sich ins Unendliche zu potenzieren. Die totale Vermarktung von Dieter Bohlen ist eines der besten Beispiele dafür, ein Gesamtzusammenhang aus Buchveröffentlichungen, Werbung für Milchprodukte, Dauerpräsenz in der Boulevardpresse, Fernsehsendungen und Musik – aber nicht als Hörerlebnis, sondern als kittender Bestandteil.

Anstatt also von der Krise der Musikindustrie zu sprechen, wäre eine Analyse der Umstrukturierung und Neuformierung der Kulturindustrie und die Frage nach der Zusammensetzung der Kulturindustrie-ArbeiterInnen sinnvoll. Denn die Unterabteilung »Musikindustrie« war (ist immer noch) ein Verlagswesen und dementsprechend durch ein kompliziertes System von Tantiemen und Urheberrechten strukturiert. Die Angestellten der Branche (von den Musikern und DJs über die Promomenschen, die A&R-Manager, die Studiobesitzer, die Branchenanwälte, die Journaille etc.) waren alle an einen klassischen Verteilungsmodus angeschlossen, der auf Stabilität, lange Dauer und Nachhaltigkeit ausgerichtet war. Wird in der Folge der Zersetzung des Marktes dieses Verlagssystem gegenstandslos, werden die dort tätigen Lohnabhängigen prekärer – das waren sie teilweise auch schon zuvor, aber wer einen Job verloren hatte, hat halt einen anderen gemacht, die Fluktuation zwischen den Medienjobs war immer schon hoch, aber lohnend.

Der Stand der empirischen Durcharbeitung der Medien- und Unterhaltungsberufe ist dürftig. Deshalb soll diese kleine Intervention als Aufforderung verstanden werden, es mit einer Untersuchung zur Klassenzusammensetzung zu versuchen. (Was ein kollektiver Prozess ist. Da bräuchte man vier bis sechs Leute, die so was angehen und über mehrere Jahre verfolgen. Die Kolinko-Untersuchung wäre durchaus ein Vorbild!)

Heiner Ofenschlot




Marionette der Entertainmentindustrie

aus: Berliner Zeitung (16.08.2004)

Der Musikbranchenkongress ›mem‹ in Köln...legte die Zukunft der Popbranche in die Hände der Unterhaltungsindustrie. Und so hörte man kaum das gängige Lamento über Umsatzeinbrüche, Massenentlassungen und kriminelle Raubkopierer, sondern artfremde Redner: Topmanager der Musik-Download-Portale im Netz, Vertreter der Mobilfunk-Industrie, Strategen der Computerspiel-Branche, Macher von digitalem Musikfernsehen und Sounddesigner von Automobilunternehmen. Die wittern in der Schwäche der Musikkonzerne ihre große Chance, redeten pausenlos von Musikdistribution im Crossmarketing-Stil und meinten doch immer nur die Optimierung ihrer eigenen Geschäftszahlen. Nadelgestreifte Vertreter der Download-Portale Musicload (T-Online), Connect (Sony) und iTMS (Apple) wünschten sich deutlich gesenkte Handelsabgaben und am besten gleich nur noch GEMA-freie Künstler. Manager der Computerspiele-Industrie erbaten sich eine größere Offenheit der Musikbranche ihren Produkten gegenüber, um die Lizensierung von Musik für Games-Soundtracks zu erleichtern...

Die mem hinterließ den Eindruck, dass die Tage der autonomen Plattenindustrie gezählt sind. Erst einmal wird sie wohl weiter hysterisch an Cross- und Supra-Vermarktungsstrategien basteln und dabei schleichend zum Steigbügelhalter für MP3-Player, Klingelton-Handys und Videospiele werden. Sie wird die Etablierung neuer Künstler und die Heranbildung neuer Zielgruppen den kleinen Spielern am Markt, den Indie- und Netlabels und dem digitalen Nischen-Musikfernsehen überlassen und als Marionette der Entertainmentindustrie enden.



»Im Rahmen der Popkomm 2004 findet ein dreitägiger Fachkongress statt, der Rechtsthemen und die Vernetzung von Computerspiel- und Musikbranche fokussiert. Herzstück der vom 29. September bis 1. Oktober stattfindenden Popkomm 2004 in Berlin ist ein internationaler Fachkongress, dessen Themenschwerpunkte weit über die Grenzen des klassischen Musikgeschäfts hinausweisen.« (aus der Presse-Erklärung &ndash siehe auch www.popkomm.de)



aus: Wildcat 71, Herbst 2004


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