Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 51–53 [w71_neale.htm]
Amerikanische Kriege oder
Durchhalten bis zur Niederlage
Jonathan Neale
»Der amerikanische Krieg 1960-1975«
2001 by Jonathan Neale
2004 Vorwort Jonathan Neale
2004 Deutschsprachige Gesamtausgabe bei Atlantik Verlag/Neuer ISP VerlagFür die Wildcat Sondernummer zum Irakkrieg vom Frühling 2003 hatten wir einen Text mit dem Titel »Harass the Brass« aus der Broschüre Olive-Drab Rebels von Antagonism übersetzt, in der es um den Widerstand in der US-Armee während des Vietnamkrieges geht.
Zerowork/Thekla 10, Politische Materialien zum nordamerikanischen und internationalen Klassenkampf. Der Band enthält einen Artikel zur Situation des Klassenkampfes in Vietnam Mitte/Ende der 70er Jahre.
Im Mai 2004 ist Jonathan Neale’s Buch »Der amerikanische Krieg: Vietnam 1960-1975« in deutschsprachiger Übersetzung erschienen: gut ein Jahr nach dem angeblichen Ende des Krieges im Irak, der mit seiner Ausweitung und gleichzeitig zunehmenden Perspektivlosigkeit für die USA immer mehr Vergleiche mit dem Vietnamkrieg provoziert.
Neale, Historiker und linker Aktivist aus den USA, stellt die Geschichte des Vietnamkriegs in historischem und sozialem Zusammenhang dar. In sieben Kapiteln werden verschiedene geschichtliche Abschnitte, Apekte und Perspektiven beleuchtet: die Geschichte Vietnams seit dem französischen Kolonialismus bis zur Entkolonialisierung, das Eingreifen durch die USA Anfang der 60er Jahre, die Kriegführung selbst, die Antikriegsbewegung in den USA, der Kampf der südvietnamesischen Guerilla, die Revolte der GIs, Vietnam und Kambodscha nach dem Krieg, die USA nach dem Krieg.
Der Autor will deutlich machen, wie die »internationalen Beziehungen« und der Klassenkampf in den USA und Vietnam zusammenhingen. Die USA seien nicht in den Krieg eingetreten, um den Kommunismus in Vietnam zu besiegen. Es sei um den Klassenkampf in den USA selber gegangen, der sich nach 1945 in Lohnerhöhungen, starken Gewerkschaften und vielen Streiks ausdrückte: Der Krieg gegen den Kommunismus in Vietnam, der Antikommunismus in den USA hätte auf die Radikalen in den Gewerkschaften und anderen sozialen Bewegungen gezielt. Leider hätte die Antikriegsbewegung zu diesen Klassenkämpfen kaum Verbindungen gesucht, da die meist studentischen AktivistInnen fälschlicherweise meinten, die ArbeiterInnen seien für den Krieg.
Die Kriegführung der USA habe in einer Zermürbungsstrategie bestanden, im Versuch, solange »Vietnamesen umzubringen, bis sie aufgaben«: durch Flächenbombardements und durch Massaker, die von amerikanischen Arbeitern an vietnamesischen BäuerInnen verübt wurden. »Nicht die Kinder der Reichen und Mächtigen wurden nach Vietnam geschickt. Für diejenigen die dort hingingen, war ihre Anwesenheit dort ein untrennbarer Bestandteil ihrer eigenen Unterdrückung zu Hause, vielleicht der schlimmste Teil davon. Und auch das Töten und die Grausamkeiten, die sie selbst verübten, waren Teil ihrer Unterdrückung. Dass sie dies erkennen konnten, machte alles nur noch schlimmer für sie, weshalb sie manchmal noch grausamer vorgingen. Sie erfuhren, dass die Menschen, gegen die sie in Vietnam kämpften, zu derselben Kategorie gehörten wie sie selbst in Amerika«.
Ihr merkt schon: Das Buch ist stellenweise leider etwas holprig übersetzt. Aber es ist geradezu vorbildlich spannend und lesbar geschrieben. Beim Versuch, seine Argumentation einfach und damit verständlich zu halten, vereinfacht Neale zwar mitunter grob, aber als eine Art Gegengewicht enthält das Buch zweitens eine kommentierte Literaturliste mit etwa 150 Titeln (darunter eine Reihe von aus dem Vietnamesischen übersetzten Texten), die allein schon die Anschaffung lohnt. Neale stellt auch gar keinen Anspruch auf historische oder politische Originalität, sondern wertet im wesentlichen die vorhandene Literatur aus. Das Buch ist ausdrücklich zur praktischen Verwendung für die heutigen Bewegungen gegen Krieg und Kapitalismus geschrieben.
Neale beschreibt deshalb auch ausführlich die Revolte der GIs vom Beginn dieser Bewegung in den Kasernen und Stützpunkten bis zum sogenannten »Fragging« in Vietnam, bei dem über 1000 US-Offiziere von US-Soldaten umgebracht wurden. Neale kommt zu der Feststellung, die GIs hätten ab 1970 aufgehört zu kämpfen – und mussten abgezogen werden. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Guerilla militärisch schwächer war als je zuvor. Neale zeigt, welche Bedeutung der Klassenkampf in der US-Armee hatte, weil er der US-Hegemonie Grenzen setzte und sich eine »Supermacht ohne Heer« entwickelte. Im Kapitel über die USA nach dem Krieg berichtet Neale, wie die herrschende Klasse der USA bis heute Rache an diesen amerikanischen Arbeitern nimmt – von der Zwangspsychiatrisierung der Vietnam-Veteranen in den 70er Jahren bis hin zu Hollywoodfilmen – und sie gleichzeitig für all die Grausamkeiten, die nicht mehr geleugnet werden können, individuell verantwortlich zu machen versucht (ähnlich wie nach Abu Ghraib).
Das Buch zeigt die Umwälzungen der vietnamesischen Gesellschaft seit der Kolonialzeit: die Angriffe auf die dörfliche Ökonomie unter dem französischen Kolonialismus, die Einrichtung von Plantagen und die Freisetzung ländlicher Arbeitskraft für die entstehenden Bergwerke und den Aufbau der Städte. Vor diesem Hintergrund wird der Aufbau der kommunistischen Partei beschrieben, die ihre Basis auf dem Land hatte, und deren Kader meist Kinder von Beamten und reicheren Familien waren. Die historische Darstellung folgt eng der Frage der Abpressung des bäuerlichen Mehrprodukts – vom Kolonialismus über die Guerilla bis zum Scheitern der Zwangskollektivierung Mitte der 80er Jahre: »Der Reis im Mekongdelta war das entscheidende Mehrprodukt der vietnamesischen Ökonomie. Das Scheitern der Regierung, Kontrolle über den Reis zu gewinnen, bedeutete, dass der Staatskapitalismus, die Strategie des Auspressens von Arbeitern und Bauern, um die Staatsindustrie zu entwickeln, in Vietnam zu diesem Zeitpunkt nicht funktionieren konnte. Das Scheitern war ein Sieg der Bauern im Mekongdelta. Sie hatten die Franzosen, die Japaner und die Saigoner Regierung geschlagen. Sie hatten ihre Führer in die Schranken gewiesen«.
Breiten Raum räumt Neale der Selbstkritik an den Schwächen der Antivietnamkriegsbewegung ein: »Ich bin stolz auf das, was wir taten und erreichten, aber wir waren in vieler Hinsicht ignorant, besonders gegenüber dem Klassensystem in den USA. Unsere Leidenschaft trug dazu bei, den Krieg zu beenden, aber unsere Fehler führten dazu, dass die radikalen Bewegungen der 1960er Jahre schließlich ins Abseits gedrängt wurden« (S.28).
Im Anfang 2004 geschriebenen Vorwort für die deutsche Ausgabe vergleicht Neale den Vietnamkrieg mit dem laufenden Irakkrieg und versucht dabei den Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus und die Perspektiven einer antikapitalistischen Bewegung herauszuarbeiten. Die Niederlage der USA in Vietnam führt er auf das Zusammenwirken »dreier Kräfte« zurück: die südvietnamesische Guerilla, die Antikriegsbewegung in den USA und die Revolte im amerikanischen Militär. Neale vergleicht die militärische Situation der USA in Vietnam mit derjenigen im Irak: Der Vietcong war zwar besser organisiert und verfügte über einen viel breiteren Rückhalt als die bewaffneten Gruppen im Irak (die er als militärisches Problem für die US-Armee benennt – seine politischen Hoffnungen setzt er dagegen auf Streiks und Massendemonstrationen), aber trotzdem sei die militärische Ausgangssituation für die USA in Vietnam besser gewesen. Die USA hatten die Unterstützung der Landbesitzer, den Rückhalt der (kleinen) Unternehmerklasse in den Städten, und es gab es eine südvietnamesische Armee, die an der Seite der USA kämpfte. Die Soldaten konnten sich in den Städten bewegen – im Irak können sie das nicht.
Die weltweite Antikriegsbewegung sei auch heute von enormer Bedeutung. Ihre Demonstrationen hätten der »Taktik der Besatzer wesentliche Beschränkungen auferlegt«: Gegen einen einheimischen bewaffneten Widerstand bestehe die einzige realistische Möglichkeit darin, mit rigoroser militärischer Stärke gegen alle potentiellen UnterstützerInnen vorzugehen. Diese Möglichkeit sei den USA aber weitgehend verbaut, nicht zuletzt wegen der Antikriegsbewegung.
Überraschend seine These zur »dritten Kraft«: Neale sieht wie beim Vietnamkrieg die Ablehnung des Krieges durch fast alle amerikanischen Soldaten als Kern der Opposition. »Das heißt nicht, dass sie den Widerstand unterstützen oder dass sie bald schon den Einsatz verweigern werden. Es bedeutet aber, dass sie der Ansicht sind, sie sollten gehen«. Die USA haben kaum noch Möglichkeiten, mehr Soldaten in den Irak zu schicken, es gibt immer wieder Berichte über Desertationen.
Wie in Vietnam scheine es für die USA heute im Irak »keinen Ausweg zu geben, außer durchzuhalten bis sie eine Niederlage erleiden: durch den Widerstand, durch die Opposition im eigenen Land oder duch die Weigerung amerikanischer Soldaten, zu kämpfen. (…) Aber eine Niederlage hätte für sie noch schlimmere Folgen: Das ganze Projekt der neoliberalen Globalisierung, das jedes Land, einschließlich Deutschland, verwandelt hat, ist eng verknüpft mit der Weltmacht USA. In jedem Land würden Menschen, die sich gegen Rentenkürzungen, Privatisierungen, Angriffe auf Gewerkschaften und Sozialstaat wehren, Mut schöpfen«.
Fragt sich allerdings, inwieweit die heutige Situation sich mit 1968 vergleichen lässt. Überhaupt habe ich das Vorwort von 2004, das mir zunächst sehr gut gefiel, nach der Lektüre des gesamten Buches kritischer gesehen. Nach der genauen und lebendigen Darstellung der damaligen »drei Kräfte« kommt einen erstmal in den Sinn, dass wir von der damaligen Stärke oder Intensität, oder den Auswirkungen der Bewegungen auf den Alltag, die alltägliche Unterdrückung und Ausbeutung momentan ein gutes Stück entfernt sind. Die Schwäche oder das Dilemma der Weltmacht USA und die gleichzeitige Schwäche der antikapitalistischen Bewegung scheinen nicht recht zusammenzupassen – aber das ist schließlich nicht dem Autor anzulasten. Schon eher sein an einigen Stellen deutlich zu Tage tretender Trotzkismus. So bleibt die Kritik an Gewerkschaften und Parteien öfters mal im Vorwurf der Korruption stecken, im Kapitel über die Situation in den USA spricht er vom Klassenkampf zwischen »Kapitalisten und Gewerkschaften«, ein paar mal zu oft wird die SWP und ihre Bedeutung für den Widerstand in der US-Armee betont…
Aber hier soll nicht in den letzten Sätzen an einem wirklich lesenswerten Buch rumkritisiert werden. Vielleicht oder hoffentlich können wir die offenen Fragen an den Orten diskutieren, die Neale vorschlägt: bei den Demonstrationen und Streiks gegen Krieg und Kapitalismus.
aus: Wildcat 71, Herbst 2004