Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 55–57 [w71_zelik.htm]
Chávez: »Cha basta!«
raul zelik, sabine bitter und helmut weber
made in venezuela (notizen zur »bolivarianischen revolution«)
Assoziation A (März 2004), 144 Seiten, 13 Euro
Ein lesenswertes Buch
Linke, die sich für nationale Befreiungsbewegungen begeistern (weil diese angeblich einen ersten notwendigen Schritt hin zur sozialen Emanzipation darstellen), und die meistens aus der Tradition des Anti-Imperialismus kommen, jubeln nun erneut im Fall des Comandante Hugo Chávez Frías und seiner so genannten »bolivarianischen« Revolution, ohne einen Blick auf die materiellen Lebensbedingungen der Bevölkerung und vor allem auf die autonome Organisierung der Proleten zu werfen. Demgegenüber beschreibt Raul Zelik in seinem Buch, was er in einem siebenmonatigen Aufenthalt in Venezuela im Jahr 2003 gesehen, gehört, besprochen und empfunden hat, und zwar nicht in Interviews mit hochrangigen Persönlichkeiten, sondern im Alltag der Menschen, vor allem in ärmeren Stadtvierteln. Damit liefert er eine Fülle von wertvollen Informationen, und es entsteht ein ziemlich realistisches Bild von den Menschen, vom Umfeld in dem sie leben und, wenn man den ideologischen Ballast überliest, von der reellen Reichweite des »Prozesses«. Vor allem aus diesem Grund lohnt es sich, das Buch in die Hand zu nehmen.
Allerdings wird die darin enthaltene Beschreibung teilweise überlagert durch eine krampfhafte Interpretation1, um aus dem Beschriebenen so viel »Positives« und »Fortschrittliches« heraus zu quetschen, dass am Ende doch die gewünschte »kritische Unterstützung für die bolivarianische Revolution« heraus kommt. Dies geschieht durch drei unterschiedliche Mechanismen:
- die Situation am Arbeitsplatz und die Frage nach der Kontrolle und Organisation der Produktionsprozesse sind unterbelichtet;
- es wird kaum auf die Zeit vor der »bolivarianischen Revolution« (vor allem nach dem Sturz des letzten Diktators im Jahre 1958!) eingegangen, so dass viele aktuelle Tatsachen als etwas völlig neues erscheinen, obwohl sie schon vorher vorhanden waren2;
- der Autor versucht, nicht »eurozentriert« zu sein und entschuldigt deshalb Äußerungen oder Haltungen, die er hier in Deutschland als Linker nicht akzeptieren würde. Dadurch wird entweder das Vorhandensein einer vorkapitalistischen Gesellschaft unterstellt (was schon allgemein zweifelhaft, aber im Falle Venezuelas schlicht Unsinn ist), oder den dortigen Menschen und Proleten wird die Fähigkeit abgesprochen, unsere »radikalen« Standpunkte anzunehmen.
Auf den in Venezuela herrschenden sozialen Hass als Hintergrund der sozialen und politischen Spannungen, auf dem die Regierung Chávez reitet, habe ich schon im Wildcat-Zirkular Nr. 65 (Februar 2003) hingewiesen. In der folgenden Besprechung werde ich das empirische Material des Buchs neu interpretieren.
Was ist revolutionär an der bolivarianischen Revolution?
Ideologisch ist die »bolivarianische Revolution« die Fortsetzung der nationalen Befreiungsbewegungen (Antiimperialismus, Nationalismus, Kadermentalität, usw.), versüßt mit einer Prise antiautoritärer Posen: »Linksradikale« setzen aufs Militär, nachdem sie sich angeblich »von dem Konzept bewaffneter Avantgarden verabschiedet« (!) haben, und konzentrieren sich »auf die Gründung eines neuen Staats und die Verabschiedung einer Verfassung« – so wird auf S. 26 f. ein Vizeplanungsminister zitiert, der aus einer der reichsten Familien des Landes stammt, Philosoph und Negri-Leser ist. Er schwafelt über »radikalere Formen der Macht – Räte statt Gemeindeverwaltungen, Arbeiterversammlungen statt Gewerkschaftsapparate«, aber im gesamten Buch findet man keinen einzigen Hinweis auf irgend eine Arbeiterversammlung, die abwählbare Delegierte wählt und entscheidet, was, wie, wann, womit und wofür produziert und verteilt wird. Solche Entscheidungen sind unangefochten in den Händen von Staatsbürokraten oder Privatkapitalisten.
Anlässlich einer Veranstaltung der regierungsnahen Initiative »Mittelklasse positiv« (Ausdruck des geringen Teils von Mittelschicht und Kleinunternehmern, die mit der »bolivarianischen Revolution« ihre Aufstiegschancen wittern), meint der Autor, dass sie keinen Sozialismus vorschlagen, »aber ein paar bemerkenswerte Schritte, die im heutigen Kontext einige Sprengkraft besitzen […]: Zurückdrängung des Marktes, Verteidigung allgemein zugänglicher Güter, internationale Solidarbeziehungen, eine ökonomische Alternative« (S. 38). Das verstärkt sein Gefühl, »dass hier etwas in Bewegung geraten ist. […] Jenseits der gängigen Kategorien von politischer Reform oder Revolution« (S.39). Hier werden sämtliche Plattitüden und Illusionen von alten Anti-Imps und neuen Anti-Globs, grundlegende soziale Veränderungen erreichen zu können, ohne die Fundamente der heutigen Gesellschaft übers Bord zu werfen, in neuer Aufmachung wieder aufgetischt.
Der überall bedrückende Nationalismus stört zwar den Europäer Zelik, aber er hat Verständnis dafür denn: »Die permanente nationalistische Selbstvergewisserung […] entspricht hier durchaus einem Begehren nach sozialer Befreiung. […] eine soziale Auseinandersetzung [kann sich] tatsächlich mit einem Kampf um nationale Souveränität decken« (S. 99). Darf man daran erinnern, dass die Durchsetzung der nationalen Souveränität in der ganzen Geschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft eher mit der Konsolidierung und dem Ausbau von Lohnarbeit und Ausbeutung einher geht? Der Kampf um die soziale Befreiung ist undenkbar, wenn nicht jeglichem Nationalismus abgeschworen wird. Der Appell an die nationale Solidarität ist das ideologische Gift, das jede ernsthafte Klassenkonfrontation in den Sumpf der Akzeptanz der sozialen Verhältnisse zieht. Der Verweis auf die imperialistischen Länder, die der eigenen Souveränität (d. h. der der einheimischen herrschenden Klasse) im Wege stehen, versperrt den Blick für die Kämpfe zwischen Lohnabhängigen und Kapitalisten in den »nicht souveränen« Ländern, und damit auch für die Perspektive einer wirklichen sozialen Emanzipation. Gerade der »Bolivarianismus« ist ein Ausdruck dafür, dass Venezuela sich nicht nur nicht auf dem Weg zur sozialen Revolution befindet, sondern noch nicht einmal den ersten Schritt in dieser Richtung gegangen ist. So etwas ahnt Zelik auch, als er sich mit einem Peruaner über den General Velasco, der von 1968 bis 75 in Peru an der Regierung war, unterhält. »Der Mann war Chávez nicht unähnlich, sein Programm in vieler Hinsicht radikaler« (S. 105). Nun stellt sein Gesprächspartner fest: »Außerdem hat der Velasquismus das peruanische Bürgertum hervorgebracht« (S. 105). Super! Dennoch stellt Zelik die Anarchos und Velasco als »weltweite Linke« in eine Linie (S. 106). Er kann nicht mehr unterscheiden zwischen Sozialrevolutionären und Förderern von Kapitalverhältnissen.
Unser Autor ist zu recht stark beeindruckt durch das »Velorio de Cruz«, ein katholisches Fest, das als Volksfeier mit Trommeln und Tanzen zelebriert wird. Daraus wird plötzlich aber eine positive Bewertung der Religion, denn »sie hat immer auch ein subversives Potential« (S. 91). Ob sie es »immer« hat, ist schon fraglich, und wenn, dann geht es doch darum, diesem Potential seine himmlischen Gewänder zu entreißen, die »Paradies«-Vorstellungen durch das Handeln der Menschen in die Tat umzusetzen, und nicht in der Anbetung von Gott, Maria Lionza oder Chávez zu verharren. Übrigens ist das »Velorio de Cruz« eine alte Tradition in den Gegenden mit schwarzer Bevölkerung und wurde nie als »subversiver« Akt bewertet, weder von der Bevölkerung selbst, noch von den Autoritäten.
Selbstorganisierung?
Es ist nicht zu bestreiten, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den letzten Jahren aus einer langjährigen Passivität ausgebrochen ist (die aber auch schon früher in bestimmten Vierteln wie Catia oder »23 de Enero«, in bestimmten Regionen wie z.B. Yaracuy, oder in bestimmten Momenten, z.B. im Januar 1958 oder Februar 1989 durchbrochen wurde). Gegen die »Opposition« gibt es eine regelrechte Abscheu, und viele Leute hoffen auf materielle Verbesserungen durch die Chavez-Regierung, nur so ist die Massenmobilisierung gegen den Putsch vom April 2002 zu verstehen.
Allerdings hält sich die Autonomie der »Selbstorganisationen« und die Reichweite ihrer Ziele in bedenkenswerten Grenzen. So etwa nach dem Dekret zur Regularisierung städtischen Landbesitzes: »Überall tun sich Anwohner zusammen, um Eigentumstitel zu beantragen und über Veränderungen ihrer Viertel zu diskutieren« (S. 43). Die Trennung zwischen denen, die Eigentumstitel beantragen, und denen, die sie vergeben, wird beibehalten, und die Diskussionen über Veränderungen bleiben auf das eigene Viertel beschränkt, ohne dass Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalt über den sozialen Reichtum im gesamten Land ins Blickfeld rücken. Daraus können sicherlich Verbesserungen im Alltag entstehen – das ist nicht wenig, hat aber mit einer sozialen Revolution nichts zu tun. Im Gegenteil: »Enteignungen sind nicht zugelassen«, sondern die »Barrio-Bewohner werden darin ausgebildet, ihre Grundstücke selbst zu vermessen« (S. 81). Die staatsverordnete Selbstverwaltung der eigenen Misere – wie schön! Die Anzahl besetzter leer stehender staatlicher Gebäude in Caracas (ca. 5 Millionen Einwohner), zu deren Besetzung der Präsident höchstpersönlich aufgerufen hat, erreicht die astronomische Zahl von… zwölf! (S. 54).
Zelik ist nicht verblendet und nimmt auch negative Seiten wahr: »Es gibt Bürokratie, Ineffizienz, Korruption, neue Eliten«3, taucht sie aber gleich darauf in rosarotes Licht: »Und doch stimmt ein Aspekt optimistisch: Die Leute nehmen die Autoritäten nicht so ernst« (S. 46). So wird die Tatsache schöngeredet, daß die Leute sich mit den Autoritäten nicht auseinandersetzen und nicht den Anspruch erheben, die Geschicke der Gesellschaft in die Hand zu nehmen und eben dadurch »Bürokratie, Korruption und neuen Eliten« die Grundlage zu entziehen!
Wirkliche revolutionäre Prozesse erfordern intensive Kommunikation (also auch autonome Kommunikationsmittel) zwischen sozialen Akteuren. Es gibt zwar dreizehn Alternativsender und etliche Webseiten (u. a.www.aporrea.org), die auf der Seite des »Prozesses« stehen, aber sie werden kaum gehört oder besucht (S. 89). Die Bevölkerung hat sich nicht die Mittel geschaffen, um interne Diskussionsprozesse durchzuführen, Entscheidungen bekannt zu machen, Appelle zu verbreiten. Der Grund ist einfach: man verlässt sich weitgehend noch immer auf die Autoritäten.
Es wird von einer sogenannten Volksmacht geredet, die aus vielen Basisorganisationen besteht. Aber nebenbei wird angemerkt, dass eine neue Beziehung zum Staat entsteht: »Nur wer sich organisiert, bekommt Gelder zur Verfügung gestellt« (S. 107). Nun ist die Katze aus dem Sack. Die meisten Organisationen sind nicht aus dem Drang zum gemeinsamen Handeln gegen herrschende Verhältnisse entstanden, sondern um an staatliche Gelder zu kommen. Man kann sich bildlich vorstellen, wie dann innerhalb der »Organisation« die Machtkämpfe losgehen, sobald die Gelder ankommen. Das ist kein neues Phänomen. Es heißt Klientelismus. Man passt sich eben den jeweiligen Regierungsanforderungen an. Man kann den Leuten nicht vorwerfen, dass sie sich damit durchwurschteln, aber man sollte darin auch keine revolutionäre Tugend sehen. Es wird berichtet, dass die Regierung Mittel an private Firmen vergibt, »die ihrerseits die Mitglieder der Kooperative als Arbeitskräfte einstellen müssen. Die neuen Eigentümer [der neu gebauten Häuser in dem Barrio] müssen ihre Häuser bezahlen, bekommen jedoch billige Kredite zugeteilt« (S. 107f). Es werden also Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt, damit Leute mit ihrem Lohn den »billigen« Kredit für den Kauf ihrer Häuser bezahlen können. Wo bleibt hier irgendeine Spur eines Ansatzes gegen Lohnarbeit, gegen die Warenwirtschaft, gegen Privateigentum an Produktionsmitteln einschließlich des Bodens?
Lebensmittel seien teilweise knapp und große Unternehmen würden »immer neue Versorgungsprobleme« organisieren (S. 109). »Staat und Communities reagieren auf die Probleme mit dem Aufbau von eigenen Vertriebsnetzen« (S. 110). Diese Vertriebsnetze verbessern sicherlich die Versorgung eines Teils der Bevölkerung (man schätzt, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung Zugang zu solchen Netzen haben), aber warum werden die Kaufhäuser, die Lager, die vorhandenen Vertriebsnetze und die Lebensmittel produzierenden Unternehmen nicht von den Beschäftigten in Verbindung mit der Bevölkerung übernommen, wenn der Grad der Selbstorganisation so groß sein soll? Die »Regierung der Armen« lässt trotz ihrer entfesselten Rhetorik die Verfügungsgewalt der »Reichen« unangetastet.
»Anarchismus, wie er einem üblicherweise begegnet« hält der Autor für »langweilig«, aber »Anarchismus aus dem Staat heraus« für »doch wirklich mal etwas Kreatives« (S. 117). Darum arbeitet er in einer »vergesellschafteten Fabrik«, in der Stadtdruckerei von Caracas, für ein paar Tage als Freiwilliger. Sie sei »weniger von der Belegschaft [ca. 200 Angestellten] vergesellschaftet als vielmehr von der Unternehmensleitung. Mit dem Regierungswechsel […] haben ein paar Linke die Direktion übernommen und die Anlage Community-Organisationen und Barrio-Bewohnern zur Verfügung gestellt« (S. 117). Am Ende seiner Erfahrung in dem Betrieb feiert er »im Stillen den anarchistischen Charakter der ersten Revolution des 21. Jahrhunderts« (S. 119). Nur: Wie haben »ein paar Linke die Direktion übernommen«? Von wem sind sie dazu eingesetzt worden? Hat etwa die Belegschaft dies beschlossen? Kein Wort darüber. Wie wird bestimmt, für wen die Anlage (d. h. auch die Angestellten) zur Verfügung gestellt werden? Kein Wort darüber. Es gibt offensichtlich keine Vollversammlung, die bestimmt, wie und wann gearbeitet wird, oder die Höhe der Löhne der Mitarbeiter und der »linken« Unternehmensleitung festlegt. Es wird nur Tag und Nacht geschuftet für eine »richtige« Sache. Wenn dies der Prototyp der Revolutionen des 21. Jahrhunderts sein sollte und eines erneuten Anarchismus, dann gute Nacht!
Vor und nach Chávez’s Regierungsübernahme
Die Experimentaluniversität Simón Rodríguez wird charakterisiert als »erster Versuch einer wirklich öffentlich zugänglichen Uni«(S. 37) – als ob die größte Uni des Landes, die staatliche Universidad Central de Venezuela, nicht seit 1958 »wirklich öffentlich zugänglich« gewesen wäre (sie war die Bastion der »Linken« und eine der zentralen Institutionen der sozialen Mobilität, und sie wurde zur Massenuni, während die Simón-Rodríguez-Uni mit dem Ziel der Elitenbildung gegründet wurde).
Die neue Landreform ist »alles andere als radikal. Brachliegendes Land in Händen des Großgrundbesitzes kann ab einer bestimmten Ausdehnung beschlagnahmt und umverteilt werden. Allerdings muß der Staat die Eigentümer zu marktüblichen Preisen entschädigen. […] auf absehbare Zeit [wird] nur staatliches und städtisches Land verteilt werden. […] Die Bauern sollen Kooperativen gründen und erhalten finanzielle und technische Unterstützung vom Staat« (S. 104). Sie ist nicht nur nicht radikal, sie ist auch nicht neu. Im Vergleich zur Agrarreform von 1960 läßt sich kaum ein inhaltlicher Unterschied ausmachen. Auch damals wurde fast ausschließlich staatliches Land verteilt und die kapitalistisch betriebene Landwirtschaft geschont. Auch damals hat man Kooperativen gegründet und den Bauern eine staatliche Unterstützung gegeben, die gerade zum Überleben reichte. Warum soll es ihnen diesmal besser gehen, wenn die besseren Ländereien seit Jahrzehnten kapitalistisch genutzt und nicht verteilt werden? Im Allgemeinen werden nur Ländereien von schlechterer Qualität und mit Infrastrukturdefiziten (vor allem Wassermangel) verteilt. Im übrigen handelt es sich z. T. um einen Nebenkriegsschauplatz, denn die ländliche Bevölkerung macht inzwischen höchstens 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Wer die Erdölindustrie kontrolliert, hat die Schlüsselposition in Venezuela. Deshalb ist es wichtig zu wissen, wie es dort aussieht und wie es um die Selbstverwaltung bestellt ist. Die Seiten 129-136 sind diesem Thema gewidmet und gehören zu den besten im Buch. Sie schildern Streikversuche von Unternehmerseite, an denen sich viele Arbeiter und Techniker passiv beteiligten, indem sie einfach zu Hause blieben. Eine Minderheit hielt allerdings eine minimale Produktion aufrecht. Inzwischen sind die Kader der Opposition in den Erdölbetrieben entlassen, aber die Beschäftigten können heute genau so wenig bestimmen wie eh und je. Es wird darin erinnert, wie die Verstaatlichung durch den heute zu Recht verhassten Carlos Andrés Pérez 1976 ein populistisch-nationales Programm ermöglichte, das Parallelen zum heutigen »Prozess« aufweist. Allerdings entbehrt der Hinweis auf einen angeblichen »Druck der Linken« bei der damaligen Verstaatlichung (S. 130) jeder Grundlage.
Zum guter Letzt
Zusammenfassend wird auf den letzten beiden Seiten (S. 141f) festgestellt, dass »das Gewaltmodell Modernisierung […] schon vor langem die letzten Orte erreicht [hat]«, dass ein Element der bolivarianischen Revolution »die Erlangung der nationalen Souveränität« ist, und es wird behauptet, dass letzteres »mit der Krise der Repräsentation« verbunden sei und dass die Leute sich »selbst als historische Subjekte entdeckt« hätten. In diesem Spagat zwischen interessanten Beobachtungen und richtigen Wahrnehmungen auf der einen Seite, und kaum belegten Wunschvorstellungen auf der anderen, bleibt das Buch bis zum Ende stecken.
MG
1 Die Autoren behaupten von vorneherein, Venezuela sei »von einem breiten Selbstorganisierungsprozess von unten erfasst« (S. 12) und wollen sich »mit diesem Aneignungsprozess von unten« beschäftigen (S. 12). Kaum erwähnt wird die Zuspitzung der Auseinandersetzungen »für oder gegen Chávez«, in der andere Initiativen, die sich auf diese »Alternative« nicht einlassen wollen, immer weniger Raum haben. Trotzdem gibt es solche Initiativen, siehe z.B. die spanischsprachigen websites: www.samizdata.host.sk, www.nodo50.org
2 J. Petras, der bekannte linke Soziologe und Lateinamerikaspezialist lieferte gerade ein Paradebeispiel dafür, als er in seinem Artikel »The venezuelan Referendum, The Truth about Jimmy Carter« die Opposition bezichtigte, die Erdölindustrie entnationalisieren zu wollen und nicht erwähnte, wann und durch wen die Nationalisierung stattfand. Dadurch entsteht für den Leser der Eindruck, die Regierung Chávez hätte diese Nationalisierung durchgeführt. Die Ironie der Geschichte ist dabei, dass die sozialdemokratische Regierung von Carlos Andrés Pérez die Erdölindustrie verstaatlichte und dass Carlos Andrés Pérez der Erzfeind von Hugo Chávez und die sozialdemokratische Partei (AD) einer der wesentlichen Eckpfeiler (wenn nicht der wichtigste) der Opposition ist.
3 »Man weiß, dass in der MVR [der politischen Partei des Präsidenten] Angehörige der alten Eliten sitzen, die ihre Privilegien und Posten nicht verlieren wollen, bzw. Leute, die gern Teil der Eliten werden wollen« (S. 83). Dies gilt allerdings auch für die im Buch gepriesene PPT samt ihren Ministern und dem Chef des staatlichen Erdölunternehmens (»einem Veteranen der marxistischen Linken« (S. 49), d.h. einem Anhänger der nationalen Befreiungsbewegungen). Gegen letzteren (Alí Rodriguez) läuft eine Gruppe radikalerer Nationalisten Sturm (siehe www.soberania.info).
aus: Wildcat 71, Herbst 2004