Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 03-05 [w71editorial.htm]


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…nach oder zu?
Das Sich-Entwerfen
des Menschen im Handeln.


»Gegenentwürfe« haben wir den Schwerpunkt dieser Nummer genannt. Er ist entstanden aus Interviews in Berlin, Potsdam, Mannheim und Stuttgart, die sich um die Frage drehten, wie Leute den Zwang Geld zu verdienen mit ihrem Leben und ihren politischen Projekten zusammen kriegen. (S. 31). Wenig arbeiten und sich nicht korrumpieren lassen: wie ist das möglich? Dazu passt auch die »Geschichte ohne Titel, doch aus dem wahren Leben«, die der englische Bergarbeiter John Dennis vor seinem Tod mit viel Witz aufgeschrieben hat – und dabei noch 80 Jahre englischer Klassengeschichte unterbringt (Beilage).

Laut Brockhaus ist bei Sartre »Entwurf« (projet) der »zentrale Begriff einer existenziellen Anthropologie, wobei das Sich-Entwerfen des Menschen im Handeln kennzeichnend ist für seine Existenz und zugleich die Struktur der Freiheit ausmacht.«

Ganz und gar Gegenteiliges lieferte die Suche nach »Entwurf« bei google am 11. September, und zwar an zweiter Stelle das: »USA drohen in neuem UNO-Resolutionsentwurf mit Sanktionen – Khartum soll Sicherheitslage in Konfliktregion spürbar verbessern – Sonst Sanktionen gegen Ölindustrie angedroht«. Auf den Sudan gehen wir ab Seite 69 genauer ein.

Und an erster Stelle das: »Die Regierung will den Entwurf zum Sozialbetrugs- Gesetz noch einmal überarbeiten... Konkret soll der Strafrahmen für Sozialbetrug (im Entwurf bis zu zehn Jahre) noch einmal überdacht werden... Aufgegeben wird der Plan, auch Kleindelikte – etwa das Erschleichen von Sozialleistungen – in das Gesetz aufzunehmen. Wer also beispielsweise mit unwahren Angaben Sozialleistungen erschwindelt oder zu Unrecht Krankengeld bezieht, der wird damit wie bisher als Betrüger verfolgt.« Dieser Schwachsinn spielt in Österreich – ArchäologInnen behaupten, dort seien noch nie Eier auf PolitikerInnen geworfen worden... Eine google-Ausgrabung findet unter der Überschrift Der Griff nach den Eiern einen sehr schönen Beitrag von Gerburg Treusch-Dieter im Freitag vom 3. September:

»Die Ehre, mit Eiern beworfen zu werden, wurde letzte Woche dem Kanzler in Wittenberge und Finsterwalde, diese Woche seinem Rivalen, Oskar Lafontaine in Leipzig zuteil. ... Was ist zuerst, die Henne oder das Ei? Wunderbar, Sie haben es erraten, es ist der Hahn... auf dem Mist, der entweder vögelt oder Hahnenkämpfe ausficht... die Hackordnung (spricht) sich in dem aus, was der Kanzler über seinen Rivalen verlauten ließ, als dieser am Montag unter Tausenden gegen ihn demonstrierte, "jeder", sagte der Kanzler, "hat das Recht, sich selbst zu diskreditieren".

Jeder ist gemeint, der unter Tausenden in 190 Städten der BRD gegen seine Diskreditierung demonstrierte. Allen wird von der Spitze der Hackordnung aus das "Recht" auf Selbstentwertung zugesprochen, durch das die hart gesottenen Reformen am Arbeitsmarkt, genannt "Hartz IV", sich legitimieren. Dass das Volk aus der Perspektive des Gockels auf dem Mist ein "weiblich" qualifiziertes Federvieh ist, sollte der Kanzler durch die Eier dieses Viehs hautnah spüren, die ihm... keineswegs hart gesotten, entgegen geschleudert wurden.

Schröder verhielt sich, als sei die Schande des Lebens aller über ihn gekommen. "Anschlagsangst" titelten die Medien, er selbst sprach von der "Zerstörung der politischen Kultur"... Der Kanzler vergisst nicht nur, dass er selbst Eier hat, sondern er vergisst auch das Sprichwort, "wer Eier will, darf die Hühner nicht braten". Er muss seine Sichtweise also revidieren, weil die Hackordnung des Hahn-Henne-Modells auf Eierraub basiert. Dass dabei die Bestohlenen die Schande der sie Bestehlenden auf sich zu nehmen haben, ist klar, da der Eierraub unbemerkt bleiben, da er sich vollziehen soll, als ob "nichts" genommen worden sei. Fehlt doch was? Dann machen Sie doch von ihrem "Recht" auf Selbstentwertung Gebrauch! Kommen Sie Ihrer Pflicht zur Selbstausbeutung nach, dann fehlt ihnen nichts. Die Eierwürfe spiegeln zurück, dass dieser Griff nach den Eiern begriffen ist.« (www.freitag.de)

Das hatten zuvor bereits die Arbeitsniederlegungen der DaimlerChrysler-ArbeiterInnen Mitte Juli »zurückgespiegelt« (S. 18), endlich wird in Umrissen eine Grenze für den neoliberalen Durchmarsch sichtbar. Eine Kraft, die mit der Opferperspektive bricht, und das jenseits des Deliriums »wir kippen Hartz IV«. Wobei »wir« in diesen Fällen jeweils die Demo-Anmelder plus ihre FreundInnen sind, eine Selbstüberschätzung, die nur im Verbund mit Gewerkschaften und PDS funktioniert – die »Struktur der Freiheit« an den Montagsdemos war hingegen, dass die Mobilisierung ohne solche Bündnispartner und Kontrollinstitutionen funktioniert hat.

Das Drohen mit einem »heißen Herbst« war schon immer eine Gewähr dafür, dass er hernach alles andere als heiß wurde. Aber der Hartz hat zum fünften mal gekräht und angekündigt, dass VW zwei Milliarden sparen muss, er möchte den gesamten VW-Konzern nach dem Modell von Auto5000 umstrukturieren (zu Auto5000 siehe S. 24). Neben der angekündigten Herbstoffensive der Arbeitslosen-Initiativen lauert also eine Unbekannte: lässt sich »das Federvieh« bei Opel und VW widerstandslos ausnehmen? oder nehmen sie den Entwurf der Daimler-ArbeiterInnen auf?

Ein google-Tipp zum Schluss – sucht mal nach »Gesundung der deutschen Wirtschaft«:

»... die Höhe der von Gehalt und Löhnen, von Steuern und Soziallasten bedingten Gestehungskosten (steht) einer Anpassung der deutschen Wirtschaftsverhältnisse an die Umwälzungen auf dem Weltmarkt und damit auch einer Gesundung der deutschen Wirtschaft hemmend im Wege... Die deutsche Sozialpolitik muss endlich den seit Jahren von ihr eingehaltenen verhängnisvollen Weg der fortgesetzten Erhöhung der Einnahmen und der Leistungen der Sozialversicherungsträger aufgeben und das Ziel verfolgen, die Ausgaben ohne Zuschüsse aus dem ...etat zu decken. Das kann aber nur durch eine Senkung der jetzt weit überhöhten Leistungen geschehen ...

Die gegenwärtige Wirtschaftslage verlangt mehr als je eine Auflockerung der bestehenden Erstarrung auf dem Gebiete von Lohn und Arbeitszeit... Wir halten ... die bisher durchgeführten Lohnsenkungen in ihren Auswirkungen noch nicht für zureichend. Die Selbstkosten müssen von der Lohnseite eine weitere Entlastung erfahren. Nur auf diesem Wege kann auf die Dauer eine Verringerung der Arbeitslosigkeit und eine Vermehrung der Arbeitsplätze erzielt werden.«

Das sind Ausschnitte aus einer Stellungnahme des Reichsverbandes der deutschen Industrie vom 4. Mai 1931 an Reichskanzler Brüning.

(gefunden auf steinbergrecherche.com, wo sich auch einer der besten deutschsprachigen aktuellen Texte zum Sudan findet)

Und noch was: seit dem 17. September 2004 sind die Maggi-Arbeiter in Singen im Vollstreik. Dem aktuellen Zeitgeist entsprechend wollte die Leitung des zum Néstle-Konzern gehörigen Unternehmens die Wochenarbeitszeit um eine Stunde erhöhen, Pausen und Lohnzuschläge kürzen. Bleibt zu hoffen, dass das Beispiel Schule macht.

In diesem Sinne: Entwerft Euch im Handeln! Greift zu den Eiern!




Neben vier neu erschienenen Tonträgern (S. 63) besprechen wir in diesem Heft auch jede Menge bedrucktes Papier: Willi Hoss: Komm ins Offene, Freund! (S. 45), Mike Davis: Planet of Slums (S. 47), Jonathan Neale: Der amerikanische Krieg 1960-1975 (S. 51), Zelik/Bitter/Weber: made in venezuela (S. 54), Christian Bröcking: Respekt! (S. 59), testcard 13(S. 61).

Nicht mehr reingepassst haben folgende geplante Buchbesprechungen, die wir im nächsten Heft nachholen werden: Mohr, Viehmann (Hg.): Spitzel. Eine kleine Sozialgeschichte, Verlag Assoziation A. isw, Weltordnungskriege und Gewaltökonomien. Lohoff, Trenkle u.a. (Hg.) Dead men working, Unrast-Verlag. Atzert, Müller (Hg.) Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, Westfälisches Dampfboot. Gerhard Hanloser: Krise und Antisemitismus, Unrast-Verlag



aus: Wildcat 71, Sommer 2004



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