Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 29–31 [w72_berlin.htm]



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Za granica – Niemcy
Polnische Schattenwirtschaft in Berlin


Will man etwas über die polnische informelle Ökonomie in Deutschland aussagen, stolpert man schnell über verschiedene Fußangeln. Zahlen gibt es naturgemäß nur wenig, schließlich handelt es sich um illegale oder halblegale Geschäfte, wobei außerdem die Grenzen zwischen informeller und formeller Ökonomie, zwischen Schmuggel und legalen Import-Export-Geschäften etwa, fließend sind. Erschwerend hinzu kommt, dass es auch kaum brauchbare offizielle Zahlen über die Einwanderung aus Polen nach Deutschland gibt, weil die einen als Aussiedler die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und andere gar keine dauerhaften Einwanderer sind, sondern sich offiziell als Touristen im Lande aufhalten.

Die Einwanderung aus Polen nach Deutschland hat bereits eine längere Tradition. Erinnert sei an die »Ruhrpolen«, die sich seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung hauptsächlich im Ruhrgebiet niedergelassen haben. Da sie aus den preußischen Ostprovinzen kamen, besaßen sie die deutsche Staatsbürgerschaft, weshalb man aus nationalstaatlicher Sicht eigentlich gar nicht von Einwanderung sprechen kann. Heute sind deren Nachfahren völlig assimiliert, nur die Nachnamen erinnern noch an ihre polnische Abstammung. Etwa 14 Prozent der deutschen Bevölkerung tragen heute slawische, größtenteils polnische Nachnamen, ohne dass jemand auf die Idee käme, von einem derart hohen Anteil polnischer Bevölkerung in Deutschland zu sprechen.

Die heute auf etwa zwei Millionen geschätzte Zahl dauerhaft in Deutschland lebender polnischsprachiger Zuwanderer kam zum allergrößten Teil erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, als die polnische Regierung als Reaktion auf die Streikwelle von 1970/71 Auslandsreisen für Privatpersonen zuließ, und ganz besonders in den 80ern, nach Ausrufung des Kriegsrechts und des sich zuspitzenden Niedergangs der polnischen Wirtschaft. Nur etwa drei Prozent erhielten als politisch Verfolgte Asyl, der Rest wurde entweder als Ostblock-Flüchtling geduldet oder konnte deutsche Vorfahren nachweisen und erhielt als Aussiedler direkt die deutsche Staatsbürgerschaft, ohne seine polnische unbedingt aufgeben zu müssen. Als Aussiedler kamen auch sogenannte »Autochtone«, die jahrhundertelang in den mehrheitlich deutschen Siedlungsgebieten in Schlesien lebten und noch 1919–1921 an den Aufständen für die Befreiung Oberschlesiens von den Deutschen teilgenommen hatten, sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht als vollwertige Polen behandelt fühlten.

Der polnische Staat betätigte sich seit den 70er Jahren auch als Sklavenhändler und verlieh seine Arbeiter an verschiedene Länder des Warschauer Pakts, zum Beispiel an die DDR. Diese Vertragsarbeiter verdienten in der Fremde wesentlich mehr als zu Hause. Vor allem aber konnten sie ihren Lohn darüberhinaus noch vervielfachen, indem sie regelmäßig begehrte und vor allem knappe Waren zwischen Polen und ihren Arbeitsorten hin- und herschleppten. Im Laufe der 80er Jahre entwickelten sich so regelrechte Handelsrouten durch ganz Osteuropa bis in die Türkei, die durch die osteuropäische Mangelwirtschaft sowie Preis- oder Währungsunterschiede den »Europareisenden« immense Gewinnspannen boten.

Besonders extrem waren die Preisunterschiede zwischen West und Ost. Deshalb konnten sich besonders die nach Westdeutschland oder Westberlin Ausgewanderten bereichern, sofern sie im Besitz eines »Konsularpasses« waren und ungestört zwischen Polen und – wegen der Nähe – vor allem Westberlin pendeln konnten. Dazu gehörten insbesondere viele Aussiedler, die sowohl deutsche als auch polnische Staatsbürger waren. Neben ihren Geschäftsreisen konnten sie Einladungen an Freunde und Verwandte ausstellen, womit weitere Menschen wenigstens gelegentlich die Möglichkeit erhielten, ihre kargen Einkünfte etwas aufzumöbeln. Mit diesen Einladungen konnte man selbstverständlich auch handeln. Eine solche nach Westberlin kostete immerhin mindestens 40 Mark.

War in den 80er Jahren das Ausmaß der polnischen Schattenwirtschaft in Westberlin noch vergleichsweise übersichtlich, änderte sich das schlagartig mit der Öffnung der polnischen Grenzen 1989. Westberlin konnte im Gegensatz zu Westdeutschland, aufgrund eines älteren Beschlusses des Alliierten Kontrollrats, von polnischen Staatsbürgern ohne Visum bereist werden und wurde dadurch über Nacht zum »Mekka« für polnische Glücksritter aller Art. Der legendäre illegale »Polenmarkt« auf dem Potsdamer Platz entstand. Dort konnte man alle erdenklichen Schmuggelwaren, besonders aber billige Zigaretten und Schnaps, zu erschwinglichen Preisen erstehen, und in dessen Umfeld breitete sich eine nebenberufliche Prostitution aus.

In der Kantstraße unweit des Bahnhofs Zoologischer Garten schossen die Import-Export-Läden wie die Pilze aus dem Boden. Diejenigen, die bereits in den 80er Jahren nach Westberlin kamen, kauften dort die Waren ihrer polnischen Landsleute auf oder vermittelten Schwarzarbeit und vermieteten Unterkünfte. Das wilde Treiben vor aller Augen fand mit der deutschen Vereinigung und der Durchsetzung des Privatkapitalismus in Polen ein Ende.

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verschlechterten sich auch die Möglichkeiten für Polen, sich dauerhaft in Deutschland niederzulassen. Seit der 1991 eingeführten Regelung über die visumfreie Einreise polnischer Staatsangehöriger in sämtliche Mitgliedsländer der Europäischen Union gewann stattdessen die »Pendelmigration« immer mehr an Bedeutung. Die polnischen Migranten sind seitdem größtenteils keine Einwanderer mehr, sondern »Transmigranten«, Menschen, die nur vorübergehend hierzulande leben, um Geld zu verdienen. Selbst von denjenigen, die in den 80er Jahren kamen, sind viele wieder zurückgezogen oder leben sowohl in Polen als auch in Deutschland. Aussiedler konnten aufgrund ihrer polnischen Staatsbürgerschaft ihr im Schwarzhandel verdientes Geld in Polen in Immobilien anlegen (was Nicht-Polen verwehrt war) und betreiben heute legale Import-Export-Unternehmen, die Handelsbeziehungen in die ganze Welt unterhalten. Der polnische Wirtschaftsaufschwung der 90er Jahre speiste sich zu großen Teilen aus Kapital, das die Europa- und Westberlinreisenden seit den 80ern akkumulierten und mit dessen Hilfe sich viele heute als Unternehmer in Polen etabliert haben.

Seit Beginn der 90er ist der Schmuggel kein Massenphänomen mehr. Einerseits sind seit dem Ende der Planwirtschaft in Polen die Preisunterschiede bei weitem nicht mehr so groß wie einst, so dass es sich für Kleinschmuggler kaum noch lohnt, sich dem Risiko, erwischt zu werden, auszusetzen. Andererseits haben sich aus den informellen Netzwerken inzwischen größere Handelsunternehmen entwickelt, die entweder legalen Geschäften nachgehen oder den Schmuggel im großen Stil betreiben. Das bedeutet aber nicht, dass der Kleinhandel zwischen Polen und Deutschland ausgestorben wäre. Der alte Westberliner Polenmarkt hat sich längst nach Polen selbst, an die deutsche Grenze verlagert und der Handel mit deutschen Gebrauchtwagen in Polen scheint sich auch noch zu lohnen.

Da in Polen die Preise schneller gestiegen sind als die Löhne, rückte die Aufnahme von Arbeit in Westeuropa stärker in den Mittelpunkt. Die legalen Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme sind dabei sehr eingeschränkt, weil Polen zwar ohne Visum in die Europäische Union einreisen dürfen, aber nur als Tourist ohne Arbeitserlaubnis. Sie dürfen zeitlich befristet als Werkvertrags- oder Saisonarbeiter in Deutschland anheuern. So gab es in den letzten Jahren durchschnittlich etwa 20 000 polnische Werkvertragsarbeiter, die hauptsächlich im Baugewerbe schufteten sowie inzwischen über 300 000 Saisonarbeiter, die bis zu drei Monate in der Landwirtschaft ackerten. Darüber hinaus arbeiten nach polnischen Schätzungen 200 000 schwarz in Deutschland. Nach deutschen Schätzungen sind es noch deutlich mehr.

In Berlin hat sich inzwischen eine umfangreiche kommerzielle Infrastruktur für polnische Pendler entwickelt, die fast ausschießlich von polnischen Einwanderern betrieben wird, die einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Das sind weiterhin hauptsächlich diejenigen, die in den 80ern eingewandert sind, aber auch Putzfrauen, die durch ihren Job einen Deutschen heiraten konnten. So gibt es polnische Kneipen, in denen man polnisches Bier kippen kann oder ein polnischsprachiges Anzeigenblättchen namens Kontakty, wo sich polnischsprachige Rechtsanwälte finden lassen, jemanden zum Heiraten, Schlafplätze oder Jobs. Selbstverständlich gibt es auch polnischsprachige Gottesdienste, in deren Umfeld informelle Marktplätze entstanden sind wie zum Beispiel in der St. Johannes-Capistran-Gemeinde in Berlin-Tempelhof.

Hauptsächlich werden aber sowohl Jobs als auch Schlafplätze durch persönliche Kontakte weitervermittelt. Was indes nicht bedeutet, dass dies uneigennützig geschieht. Schlafplätze etwa werden pro Bett bezahlt, egal wie viele sich davon in einem Zimmer befinden. Dabei kostet eine Übernachtung für Anfänger etwa fünf Euro pro Nacht. Wer sich schon besser in Berlin auskennt und einen sicheren Aufenthaltsstatus hat, sei es durch Heirat, sei es durch Aufnahme eines Studiums, mietet selbst Wohnungen an und vermietet sie unter.

Ähnlich läuft das auch bei der Vermittlung von Putzjobs. Diese sind einigermaßen begehrt, weil sie vom deutschen Staat praktisch nicht kontrolliert werden können und weil sich über die daraus entstehenden persönlichen Kontakte zu Deutschen weitere Vorteile ergeben können. Putzjobs werden normalerweise von schon länger aktiven Putzfrauen mit guten Deutschkenntnissen gegen eine Vermittlungsgebühr weitergegeben. Diese Gebühr ist abhängig von der Lukrativität des Jobs. Neben der Bezahlung ist es wichtig, bei wem man putzt. Am wenigsten begehrt sind Stellen bei alleinstehenden jungen Frauen, während solche bei alleinstehenden jungen Männern sehr gesucht sind. Die alleinstehenden jungen Männer kann man eventuell heiraten und über die persönlichen Kontakte insgesamt kann man sich weiterempfehlen lassen und von der Chefin unabhängig machen, um dann anschließend selbst eine Putzfirma zu gründen. Um sich nicht zu viele abtrünnige Putzfrauen als Konkurrenz heranzuziehen, sind einige Chefinnen dazu übergegangen, die Putzstellen rotierend zu vergeben. So lassen sich einerseits schwerer persönliche Beziehungen mit den Kunden aufbauen, andererseits können die Putzfrauen auf diese Weise den größten Teil ihrer Zeit in Polen verbringen, ohne sich ständig neue Jobs suchen zu müssen.

Solidarischer als bei den Putzfrauen geht es unter den Autoscheibenwäschern zu, die seit Anfang der 90er Berlins Straßenbild bereichern. Damals kamen arbeitslose Jugentliche aus Warschau auf die Idee, den Jugendlichen aus der Banlieue von Paris nachzueifern und mit einem Gummiwischer und einem Eimer Seifenwasser in Berlin ein anderes Leben anzufangen als das in Polen möglich war. Oft sind sie bereits als Freundeskreis nach Berlin gekommen, wohnen gemeinsam in besetzten Häusern oder Wagenburgen und teilen die erzielten Einnahmen gleichmäßig untereinander auf. Obwohl sich im kleineren Kreise oder allein mehr Geld verdienen ließe, arbeiten sie lieber in größeren Gruppen, weil das einfach nicht so dröge ist. Offenbar wertet die Polizei deren Tätigkeit nicht als Arbeit. Jedenfalls schiebt man sie trotz häufiger Personenkontrollen nicht ab.

Ähnliche Strukturen wie in Berlin dürften sich auch in anderen europäischen Städten herausgebildet haben, zum Beispiel in Brüssel. Über die Größenordnungen läßt sich nur mittelbar etwas sagen. Laut dem taz-Redakteur Uwe Rada wird in Berlin derzeit jeder fünfte Euro schwarz erwirtschaftet, womit der informelle Sektor der am dynamischsten wachsende wäre. Allerdings scheint hier der alte amerikanische Traum, es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen zu können, eine Neuauflage zu finden. Aus informellen Netzwerken entwickeln sich schnell offizielle Unternehmen. Laut einer Umfrage von 1995 sind ein Drittel der polnischen Bevölkerung bereit, das Land zum Geldverdienen zu verlassen. Aber nur drei Prozent würden dies für immer tun. Mit der Niederlassungsfreiheit für Polen, die in ein paar Jahren gelten wird, dürfte trotzdem keine größere Wanderungsbewegung aus Polen zu erwarten sein als jetzt, denn wer möchte, ist längst hier. Es verbessern sich lediglich die Bedingungen des Aufenthalts und damit auch die Art der Jobs, die man annehmen kann.

Søren Jansen



Quellen:

Susanne Butscher
Informelle Überlebensökonomie in Berlin. Annäherung der deutschen Hauptstadt an Wirtschaftsformen der Dritten Welt.
Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1996.

Norbert Cyrus
Mobile Migrationsmuster. Zuwanderung aus Polen in die Bendesrepublik Deutschlan.
In: Berliner Debatte INITIAL 11 (2000) 5/6.

Ingeborg Haffert
Agnieszka – auf Achse. Polnische Putzfrauen zwischen Brüssel und der Heimat
WDR, Köln 2003.

Malgorzata Irek
Der Schmugglerzug. Warschau — Berlin — Warschau. Materialien einer Feldforschung.
Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1998.

Christoph Palleske
Zuwanderer aus Polen in Deutschland
www.rosaluxemburgstiftung.de

Uwe Rada
Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt
BasisDruck Verlag, Berlin 2001.



aus: Wildcat 72, Januar 2005



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