Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 46&ndash49 [w72_bolivia.htm]



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Bolivien: Verwandlung von
Bewegung in Institution?


Bolivien, September 2003. Nachdem bekannt wurde, dass transnationale Unternehmen bolivianisches Erdgas via Chile nach den USA exportieren wollen, kommt es zu Protesten und Blockaden. In Sorata, einem Dorf im Norden des »Altiplano«, sitzen einige Touristen fest, die wegen der Blockaden der Straße nach La Paz, dem politischen Zentrum des Landes, ihre Reise nicht fortsetzen können. Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada verfügt ihre gewaltsame »Befreiung«. Auf dem Weg nach Sorata werden die entsandten Soldaten mit Beschimpfungen und Steinwürfen empfangen, derer sie sich unter Einsatz von Schusswaffen erwehren. Wenig später kommt es in der Ortschaft Warisata zu einem Schusswechsel, bei dem sechs Menschen sterben, unter anderen ein achtjähriges Mädchen. Diese »Karawane des Todes«, wie sie später genannt wird, ist der Auftakt zu einem Wochen dauernden Volksaufstand, der letztlich das ganze Land erfasst und de Lozada zur Flucht nach Miami zwingt, aber auch zahlreiche Tote und Verletzte fordert. Seitdem ist das Andenland nicht zur Ruhe gekommen.

Schon in den Jahren zuvor war es zu Ausbrüchen gegen die Spar- und Privatisierungs-Politik gekommen. Im April 2000 verhinderten die Einwohner Cochabambas im sogenannten Wasserkrieg die Privatisierung der lokalen Wasserversorgung. In der Folge kam und kommt es immer noch zu Blockaden des dünnen Straßennetzes. Im Februar 2003 offenbarte sich die Krise nicht nur der Regierung sondern des ganzen politökonomischen Systems in Bolivien, als Polizeieinheiten gegen die Kürzung ihrer Bezüge protestierten und das Militär gegen sie eingesetzt wurde. Im Oktober eskalierte der »Krieg um das Gas«, Präsident Lozada floh.

Diese machtvolle Bewegung war schon wenige Wochen später praktisch unsichtbar. Offensichtlich gibt es eine Entwicklung vom »Wasserkrieg« in Cochabamba über viele kleine Blockaden und Proteste, die Februar-Unruhen bis zum »Krieg ums Gas«. Aber es gibt bisher kaum institutionelle Träger dieser Entwicklung. Die Netzwerke des Aufstands haben sich aufgelöst oder dienen wieder der Regelung des täglichen Lebens, der Schlichtung von Landstreitigkeiten oder lokalen Problemen. Die »soziale Bewegung« bleibt diffus und ist außerhalb des Aufstands nur schwer zu fassen. Außerdem ist die »Bewegung« sich nicht einig: die einzelnen Gruppen sind untereinander oft zerstritten und verfolgen ihre eigenen Ziele. Erfahrungen werden aus einer egoistischen Position heraus teilweise nicht weitergegeben und Unterstützung für andere verweigert. Hinzu kommt ein starker ethnischer Bezug, der eines der größten Probleme darstellt.


Mineros

Der Bergbau war lange Zeit der wichtigste Industriezweig in Bolivien. Nach dem Erfolg der nationalrevolutionären Erhebung von 1952 wurde die Bergbauindustrie verstaatlicht, die Arbeitskraft der staatlichen CoMiBol (Corporación Minera de Bolivia) war komplett gewerkschaftlich kontrolliert. Die Bergleute (Mineros) haben in den Klassenkämpfen immer eine herausragende Rolle gespielt, sie sind im Umgang mit Dynamit geschult und zögern auch heute nicht, es einzusetzen. Deshalb war eine der wichtigsten Maßnahmen der »Strukturanpassung« in den 80er Jahren die Privatisierung bzw. Schließung der staatlichen Bergbauindustrie. Trotz schwerer Kämpfe unterlagen die Bergleute letztendlich. Viele nahmen das Angebot der Regierung an, ein Stück Land in der Tropenwaldregion Chapare zu kultivieren – und sind heute als Cocaleros (Kokabauern) wieder eine wichtige politische Kraft. Andere Familien migrierten an die Peripherien der großen Städte Cochabamba und El Alto, wo ganze Kolonien ehemaliger Mineros entstanden. In den neuen Siedlungen bildeten sie Strukturen der Selbstverwaltung (Juntas Vecinales – Nachbarschaftskomitees), die in den jüngsten Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle spielten.

Trotz des Niedergangs ist der Bergbau immer noch einer der wichtigsten Industriezweige. Der körperlich harte Abbau der Erze unter Tage ist den ca. 600 Kooperativen überlassen, in denen heute 50 000 Bergleute arbeiten. Sie arbeiten unter hohem Risiko mit wenig und veralteter Maschinerie oftmals in Stollen, die schon seit Generationen bearbeitet werden. Die verbesserten metallurgischen Technologien machen auch den Abbau früher unwirtschaftlicher Erzvorkommen sinnvoll. Die Arbeit wird auf eigenes Risiko in Gruppen von vier bis sechs Männern gemacht. Die Einkommen liegen hier immer noch höher als etwa in der Landwirtschaft oder den zahlreichen Klitschen.

Wenn die Kämpfe heftig werden, sind die Mineros auch heute noch fast immer entscheidend beteiligt. Als sie sich im Oktober 2003 dem Protest anschlossen, gaben sie das Signal für die landesweite Ausweitung der Revolte.


Cocaleros

Der Koka-Anbau ist in Bolivien legal. Koka wird zum Teil traditionell konsumiert, aber der größte Teil fließt in die illegale Kokainproduktion. Die zulässige Anbaufläche wird stets überschritten, auch wenn der Anbau aufgrund der Repression und mit Hilfe alternativer Entwicklungsprogramme in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist.

In Chapare betreiben in der Regel ehemalige Minero-Familien die einträglichste Art der Landwirtschaft, die für sie denkbar ist. Die Kokapflanze braucht nicht viel Pflege und kann dreimal im Jahr geerntet werden. Davon leben in Chapare mehr als 60 000 Familien, in den Yungas bei La Paz noch einmal so viele.

Die Cocaleros sind in Sindicatos organisiert, »Gewerkschafts«-Basis-Gruppen, die auch das öffentliche Leben der Gemeinden organisieren. Diese Sindicatos bilden mehrere Federaciones. Die legale Anbaufläche für Koka würde ungefähr der Fläche entsprechen, die drei Federaciones bewirtschaften. Allein in Chapare sind es sechs.

Der Staat steckt in der Klemme zwischen dem US-amerikanischen »War against Drugs« und dem Druck der Cocaleros, denen keine vernünftige Alternative zum Koka-Anbau bleibt. Die politische Organisation der Cocaleros, der MAS (Movimiento al Socialismo), ist inzwischen auch im Parlament eine starke Fraktion und ihr Vorsitzender Evo Morales wäre aus den letzten Wahlen fast als Präsident hervorgegangen. Bei den Kommunalwahlen im Dezember 2004 hat der MAS vor allem auf dem Land bedeutende Stimmgewinne erzielt und stellt nun zwei Drittel aller Bürgermeister des Landes.


»Aymara«, »Quechua«, »autochtone« Strukturen…

Bolivien ist das Land mit dem höchsten Anteil »indigener Bevölkerung« in Lateinamerika. 62 Prozent der Bolivianer verstehen sich als »Indigene«. Es werden über 30 Ethnien unterschieden, die ebensoviele Sprachen sprechen. Ein großer Teil der Bolivianer spricht auch heute noch kein Spanisch. Die größte sprachliche Gruppe bilden die Quechua-Sprechenden, die zersplittert um Cochabamba und Sucre sowie in den Bergbauregionen Potosí und Oruro leben. Die Aymara des nördlichen Altiplano um La Paz bilden die größte zusammenhängende nicht-spanischsprechende Gruppe. Sie leben von einer Mischung aus wenig ertragreicher Landwirtschaft, Kleinhandel und unqualifizierten Arbeiten in den Städten. Viele Aymara leben inzwischen in El Alto – einst ein Vorort von La Paz, heute eine selbstständige Metropole. 82 Prozent der Bevölkerung El Altos verstehen sich als »Indígenas«. Es gibt immer noch starke Verbindungen zwischen Stadt und Land, weil die Gelegenheitsarbeiter immer wieder aufs Land zurückkehren, der letzten Auffanglinie, auf der sie immer noch zu essen und ein Dach über dem Kopf haben.

Den Oktober-Aufstand haben die Aymara unmittelbar ausgelöst. Inmitten eines Protestes wegen eines Konflikts um die kommunitäre Justiz wurde die Nachricht vom Verkauf bolivianischen Gases publik. Der Aufstand pflanzte sich von den ländlichen Gemeinden des nördlichen Altiplano nach El Alto fort, von wo er Mitte Oktober nach La Paz übergriff und das Regierungsviertel praktisch lahm legte. Bereits vorher hatten die Aufständischen die Kontrolle über El Alto errungen. Sie wurden von den Juntas Vecinales organisiert , die die Zugänge zur Stadt kontrollierten.

Die Juntas Vecinales, die eigentlich die Funktion haben, Straßenbau, Wasser- und Stromversorgung etc. zu koordinieren, sind in vielen Fällen von ehemaligen Gewerkschaftsmilitanten dominiert. Sie stellen das urbane Gegenstück zu den »autochtonen« Selbstverwaltungsstrukturen der indigenen Gemeinden auf dem Land dar, die oft mit den lokalen Bauerngewerkschaften verwickelt sind. Dass soziale Bewegung in Bolivien (und anderswo) als Indígena-Bewegung auftritt, ist ein relativ neues Phänomen, dessen Ursprünge sowohl im Erfolg (Schleifen der alten Arbeiterbastionen) wie im Scheitern (keines der Versprechen auf Entwicklung ist in Erfüllung gegangen) des neoliberalen Projektes liegen. Während die früheren Klassenkämpfe durch den starken Syndikalismus und eine eher traditionelle intellektuelle Linke geprägt waren, hat die Zerstörung der materiellen Basis dieser Bewegung zu einer breiten Rückbesinnung auf traditionelle Kulturen und Strukturen geführt.


Die rechten Eliten von Santa Cruz de la Sierra

In der Region Santa Cruz, im Osten des Landes, wo die großen Gasvorräte lagern, fordern die reaktionären (weißen) Eliten Unabhängigkeit von der Zentralregierung in La Paz. Hier werden gute Kontakte zu rechten Kreisen in den USA gepflegt und man redet in den Zeitungen von Santa Cruz ganz offen darüber, dass es in einer bewaffneten Auseinandersetzung nicht um mehr Autonomie, sondern um die Abspaltung des bolivianischen Ostens vom Hochland gehen würde.

Dagegen setzt die Linke ebenso wie die Bevölkerungsmehrheit auf die nationale Einheit, die die Grundlage einer gerechteren Verteilung der noch vorhandenen Reichtümer sein soll. Das Militär hat bereits deutlich gemacht, dass es sich allen Segregationsversuchen in den Weg stellen wird. Die Urheber der Sprengstoffanschläge, die im Vorfeld der diesjährigen Kommunalwahlen zwei Militäreinrichtungen und den Fernsehsender des Präsidenten getroffen haben, sind deswegen wohl am ehesten im rechten Lager zu suchen, das auf eine Verunsicherung des Landes zielt. Es ist nicht auszuschließen, dass in Santa Cruz ein Staatsstreich gegen eine von wem auch immer dominierte »linke« Regierung vorbereitet wird.

Auch im Südosten des Landes, in der Region Tarija, wo in letzter Zeit neue Gasvorkommen entdeckt wurden, gibt es Tendenzen zur Abspaltung, wenngleich sie nicht die Kraft der »Camba« haben. Im Gegensatz dazu melden sich die ebenfalls in Tarija lebenden Guarani zu Wort: seit Mai 2004 hält eine Gruppe Guarani ein Gasfeld besetzt, um ihrer Forderung nach Verstaatlichung der Gasvorkommen Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig fordern die Guarani eine Beteiligung an den Gewinnen, die aus »ihrem« Gas fließen.


Eine neue Verfassung

Nach der Flucht Lozadas trat der bisherige Vizepräsident, Carlos Mesa, an seine Stelle und versprach demokratische Reformen: so sollte eine neue Verfassung erarbeitet und in einem Referendum über die Erdgasvorkommen abgestimmt werden.

In Bolivien beherrscht eine dünne Schicht »weißer« Nachfahren der europäischen Eroberer, die höchstens 10 Prozent der Einwohner ausmachen, auch heute noch das Land und verwaltet es mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken und zum persönlichen Vorteil. Ihre Willkür und das Ausmaß der Korruption sind sprichwörtlich. Ein politisches Amt – und sei es nur das des Bürgermeisters einer 1000-Einwohner-Gemeinde – wird oft zum Mittel persönlicher Bereicherung bzw. zur Vergabestelle staatlicher (bolivianischer wie internationaler) Gelder an Parteifreunde. Entsprechend gering ist das Vertrauen in diese Strukturen.

Gegen diese Ordnung stellt sich das gemeinschaftliche Leben in den indigenen comunidades. Parallel zu den staatlichen Autoritäten wie Bürgermeister, Gerichtsbarkeit oder Polizei bestehen noch Formen von Selbstorganisation und -verwaltung, die allerdings oft ebensowenig in der Lage sind, auch nur die unmittelbarsten Probleme zu lösen. Das führt immer wieder zu Konflikten, etwa weil die indigene Justiz der staatlichen zuwider läuft. Es geht keineswegs nur um Viehdiebstahl: in der Gemeinde Ayo Ayo im Nordwesten des Landes z.B. wurde der Bürgermeister »wegen Korruption« hingerichtet. Die Gemeindevorsteher werden nun vor einem staatlichen Gericht der Lynchjustiz angeklagt.

Hier hakt die versprochene Verfassungsreform ein: Sie soll vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerung verankern. Diesen Vorstoß unterfüttert die Regierung mit dem Versuch, dem breiten Misstrauen der indigenen Bevölkerung mit einer Einbindung der sozialen Bewegungen zu begegnen. So gab es im März 2004 in Cochabamba eine Versammlung, zu der mehrere tausend Gemeindevorsteher angereist waren, um ihre Vorstellungen einer neuen Verfassung zu diskutieren. Außerdem waren Vertreter der Regierung anwesend, die inzwischen auch einen Verfassungsentwurf vorgelegt hat. Neben einer größeren Autonomie der Indígena-Gemeinden und der Rechte der indigenen Bevölkerung sollen die beiden Indígena-Sprachen Aymara und Quechua als gleichberechtigte offizielle Sprachen verankert werden, die Wehrpflicht soll reformiert werden, mehr Rechte für Frauen, für Jugendliche und Kinder, mehr direkte Demokratie. Zur Erarbeitung der Verfassung soll eine verfassungsgebende Versammlung (Asamblea Constituyente) einberufen werden, die frei und unabhängig vom Parlament arbeiten soll.

Über die Zusammensetzung der Asamblea gibt es anhaltende Diskussionen: so macht etwa die selbsternannte politisch rechte und ökonomisch mächtige »Nación Camba«* aus der Region Santa Cruz kaum drei Prozent der Bevölkerung aus, so dass ihre Politiker bei einer demokratischen Verhältniswahl wenig Chancen hätten. Deswegen präferieren sie ein Wahlverfahren, in dem Körperschaften und Interessenverbände (Unternehmer, Gewerkschaften, Studenten, ethnische Gruppen, soziale Verbände…) unabhängig von einer freien Wahl ihre Vertreter in die Asamblea delegieren – ein korporatistisches Modell, wie es aus dem Faschismus bekannt ist. Vor allem kleinere Organisationen und Bevölkerungsgruppen unterstützen diesen Vorschlag. Die »soziale Bewegung« in Form der unzähligen Initiativen, Kleingruppen, Organisationen, ist derzeit allerdings weder an der inhaltlichen noch an der formalen Diskussion zur Asamblea Constituyente in breitem Maße beteiligt.


Das »Tramparendum«

Ein erster Akt »direkter Demokratie« sollte das Referendum über das Erdgas sein, das im Juli 2004 durchgeführt wurde. Spätestens hier offenbarte sich die in dieser Frage ausweglose Situation der Regierung, die zwischen sozialen Bewegungen und internationalen Konzernen bzw. ausländischen Regierungen eingeklemmt ist.

In dem Referendum sollte das berüchtigte Gesetz Nr. 1689 annulliert werden, das Gesetz über fossile Brennstoffe (ley de hydrocarburos), mit dem die vorherige Regierung den Verkauf des Erdgases regeln wollte. Außerdem wurden weitere vier Fragen gestellt, teilweise umständlich verklausuliert, deren Konsequenzen eine Verstaatlichung des Erdgases betreffend bis heute nicht klar sind.

Es existieren ca. 80 Verträge mit ausländischen Unternehmen, die Erdgas fördern und verarbeiten. Sie zu kündigen, brächte den bolivianischen Staat in beträchtliche politische und finanzielle Schwierigkeiten. Die komplette Enteignung der bolivianischen Gasindustrie ist kaum umzusetzen, zumal Bolivien extrem von »Unterstützungszahlungen« durch ausländische Banken bzw. internationale Institutionen wie Weltbank oder IWF abhängig ist und kaum über technische Mittel verfügt, um die Gasvorkommen ausbeuten zu können.

Den Staat zum Eigentümer an den fossilen Brennstoffen zu erklären, ist der Trick der Regierung, um formal der Forderung der Bevölkerung und der sozialen Bewegung zu entsprechen, ohne die internationalen Ölunternehmen zu verprellen. Bereits im Frühsommer erklärte die spanische REPSOL, die Neufassung des Brennstoffgesetzes werde für sie keine wesentlichen Veränderungen bringen.

Die linken Parteien und Gruppen hatten deswegen zum Boykott des Referendums aufgerufen. Die Beteiligung war zwar mit landesweit 60 Prozent relativ gering, aber vor allem in El Alto, dem Zentrum des Oktober-Aufstands, war sie viel höher, was darauf schließen lässt, dass die Akteure der Revolte sich eher beteiligt haben, als die Bevölkerung auf dem Land, wo die politischen Instrumente des Staates ohnehin nicht sehr tief verankert sind. Dennoch wird die geringe Beteiligung und die hohe Anzahl der ungültigen Stimmen (ca. 25 Prozent der abgegebenen Stimmen) vor allem in der Linken als eine breite Ablehnung des »Tramparendums« (Zusammensetzung aus »trampa – Falle, Betrug« – und »Referendum«) interpretiert.

Die Regierung Mesa wertet das Ergebnis des Referendums als Zustimmung zu ihrer Politik. Die gültigen Stimmen sprechen sich mehrheitlich für die »Wiedererlangung des Eigentums an den fossilen Brennstoffen durch den bolivianischen Staat« aus, sowie für die Verwendung der Gelder, die aus deren Ausbeutung fließen, für soziale Zwecke, Bildung, Gesundheitswesen und Straßenbau.

Der MAS, die wichtigste »oppositionelle« Partei, wertet das Ergebnis als Votum für die vollständige Verstaatlichung der Erdgasindustrie. In dieser Einschätzung wird der MAS von einer breiten Basis unterstützt, die in den folgenden Monaten mit Straßenblockaden und Protestmärschen den Gesetzesvorschlag der Regierung zu Fall gebracht hat. Aber auch der MAS fordert inzwischen nicht mehr die Verstaatlichung sondern – ebenso wie die Regierung – eine 50-prozentige Steuer auf die Gewinne der Unternehmen (in etwa eine Verdoppelung der Steuern) – allerdings sofort, während die Regierung eine schrittweise Anpassung über 35 Jahre vorsieht.


Das Projekt der Regierung: Einbindung der Bewegung in den Staat

Auch wenn in der Frage der Erdgasvorkommen Uneinigkeit herrscht, genießt Carlos Mesa in der Bevölkerung ein hohes Ansehen. »Der beste Präsident, den Bolivien je hatte« – das mag angesichts seiner Vorgänger weder ein großes Kompliment noch eine besondere Schwierigkeit sein, aber seine unideologische Politik, die auf Integration der bislang Ausgeschlossenen und ihrer Bewegungen zielt, kommt an.

Das Projekt Carlos Mesas, moderne, rechtsstaatliche Strukturen unter Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung durchzusetzen, kann sich der sozialen Bewegung bedienen, die kein grundsätzlich antistaatliches Programm hat. Weil sich sozialer Protest in Bolivien inzwischen als »Indígena-Bewegung« formiert, gibt es keine großen »linken« Parteien (mehr), die die sozialen Gegensätze als Klassenverhältnis thematisieren würden. Die beiden wichtigen »linken« Parteien, der MAS und der MIP (Movimiento Indígena Pachakuti – Indigene Bewegung »von der Erde«) sind als die politischen Organe der jeweiligen Basisbewegungen der Cocaleros und der Aymara-Bauern zu verstehen, wobei sich das Verhältnis oft umkehrt und die Basismilitanten mit ihren Blockaden und anderen Aktionen dazu benutzt werden, die parlamentarischen Debatten zu unterlegen.

Weil die sozialen Gegensätze als ethnische oder rassistische Gegensätze erlebt und thematisiert werden, ist die Einbeziehung der indigenen Bevölkerung in das staatliche Projekt eine Voraussetzung für dessen Erfolg. Die Asamblea Constituyente ist dabei ebenso eine Möglichkeit wie die Kommunalwahlen vom Dezember 2004, zu denen erstmalig »Bürgervereinigungen« von ausschließlich lokaler Bedeutung zugelassen waren. Dieser Einbindung der Bewegung in das staatliche Reformprojekt kommt entgegen, dass sowohl die Asamblea Constituyente als auch das Erdgas-Referendum Forderungen waren, die im Oktober 2003 auf den zahlreichen Märschen geboren wurden. Eine unter Beteiligung der sozialen Bewegung erarbeitete Verfassung würde dem Staat eine neue Legitimation verschaffen. Außerdem führt die Umwandlung der Debatten und Forderungen der sozialen Bewegung in Gesetze zu einer »Verstaatlichung« der Bewegung – zu ihrer Institutionalisierung.

Dieser Prozess ist extrem widersprüchlich, denn die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation ist groß und die Propaganda für die »partizipative Demokratie« allgegenwärtig, die Diskussion darum heftig: Die einen wollen die Bewegung durch ihre Institutionalisierung über ihren Höhepunkt hinaus verlängern; den anderen, radikaleren, ist die Beteiligung an dem staatsbildenden Prozess zu reformistisch, sie erklären die Institutionalisierung zum Geschäft der Herrschenden.

Eine neue Verfassung könnte das Ende der weißen Oligarchie bedeuten. Die sich abzeichnende Umkrempelung des politischen Systems in Bolivien, wird die Macht vielleicht neu verteilen, aber nicht in Frage stellen. Dass sich die Eliten neu sortieren, bedeutet noch keine tiefgreifende Veränderung eines in sich unmenschlichen Systems. Nur die weitere Organisierung an der Basis und das bitter notwendige Einmischen in die eigenen Belange kann die Situation tatsächlich dauerhaft verändern. Eine große Gefahr für die Bewegung besteht heute darin, die gesellschaftlichen Widersprüche auf ethnische oder kulturelle Widersprüche zu reduzieren. Die rassistische Tendenz, die einer Bewegung, die sich über ethnische Zugehörigkeit definiert, immanent ist, der Bezug auf das »eigene Blut« steht jeder emanzipatorischen Idee und Praxis entgegen. Inwieweit der Staat mit der Einbindung der Bewegung erfolgreich ist, muss sich erst noch zeigen. Die Gefahr allerdings besteht – und bereits jetzt feiern Linke die bevorstehenden Veränderung des bolivianischen Staatswesens, die von Seiten der Herrschenden nach dem Motto: »Alles ändern, damit sich nichts ändert« betrieben wird.




Zum Oktoberaufstand in Bolivien findet ihr mehrere Texte auf unserer website.

»Camba« werden die Einwohner der Region Santa Cruz traditionell genannt. In den letzten Jahrzehnten ist die erst in jüngster Zeit zugezogene weiße Oberschicht von Santa Cruz dank reicher Erdgasfunde zu beträchlicher ökonomischer Macht gekommen. Sie definieren sich heute als »Nación Camba«, um ihre kulturelle Verschiedenheit zu betonen und ihren Anspruch auf Unabhängigkeit zu begründen (»Wir sind groß, weiß und sprechen englisch.«). Sie haben mit den dort seit Jahrhunderten lebenden »Camba« tatsächlich nichts zu tun, es kommt sogar bisweilen zu bewaffneten Auseinadersetzungen zwischen diesen und jenen »Camba«.

Die Rolle der NGOs — Im Prozess der »Verstaatlichung« autonomer Strukturen und Prozesse haben die zahlreichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine wichtige Rolle, oft übernehmen sie originär staatliche Funktionen. Die Verankerung der staatlichen Verwaltungsstrukturen auf dem Land nimmt in unzähligen Seminaren dieser Organisationen Gestalt an: Wie wird ein Stimmzettel für das Referendum richtig ausgefüllt? Wie liest man eine Zeitung in spanischer Sprache? Welche Rechte habe ich gegenüber Polizisten? Was macht die Regierung? Wie kann ich für das Bürgermeisteramt meiner Gemeinde kandidieren? Die Zielrichtung ist dabei die Überwindung des Gegensatzes zwischen den staatlichen und den autonomen Strukturen. Das Aufgehen der hergebrachten Organisationsformen in der staatlich-politischen Organisation wäre natürlich mit der Anerkennung der Spielregeln und der Aufgabe der eigenen Regeln verbunden: Mehrheitsentscheidungen anstelle von Konsens, Delegation anstelle von Beteiligung, …

Ein Wahlspot der des MIP zur Kommunalwahl 2004 kolportierte die Parole:»Alles war Friede, bevor die weißen Dämonen kamen. Obwohl sie Katari [Túpac Katari – Anführer einer Guerilla-Bewegung im 18. Jh.] getötet haben, kehren wir Aymara zurück. Stimm für dein Blut!«


Aktuelle Informationen (in spanischer Sprache) findet ihr auf:
Indymedia Bolivien
Econoticias Bolivia
BolPress
rebelion.org




aus: Wildcat 72, Januar 2005



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