Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 26–28 [w72_polen.htm]



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Hinter der Grenze – Polen
Migration, Industrie, Kämpfe…


In den letzten Wildcats hatten wir bereits Artikel über die »neuen Beitrittsländer im Osten«. In den nächsten Heften wollen wir uns genauer mit Polen beschäftigen: Klassenkämpfe, Lebenssituation, die politische, wirtschaftliche, kulturelle Lage. Das folgende soll dazu ein Einstieg sein. Am 16. Januar werden wir in Berlin ein offenes Redaktionstreffen zu Polen machen. Wer sich daran beteiligen will, soll uns bitte eine Mail an polska@wildcat-www.de schicken.


Von Berlin aus ist man in einer Stunde dort, im Supermarkt gibt es Lebensmittel aus Polen, MigrantInnen aus Polen sind allgegenwärtig… – trotzdem gibt es sehr wenige direkte Kontakte (mit Ausnahme vielleicht der Punkszene), die Sprache und die geographische Lage lassen den »Eisernen Vorhang« nur langsam verschwinden. Mit 312 680 km² und 39 Mio. Menschen (davon etwa 14 Millionen »Erwerbstätige«) ist Polen flächen- und bevölkerungsmäßig das bei weitem größte der neuen EU-Länder. Die Kämpfe der Arbeiterklasse haben hier direkt zum Scheitern des »Realsozialismus« beigetragen. Es liegt nahe, mit einem kurzen Rückblick darauf zu beginnen.

Im Juni 1956 entwickelten sich, parallel zum Aufstand in Ungarn, Demos und Streiks, die als »Polnischer Sommer« bekannt wurden. Anlass waren Normerhöhungen in Industrie und Landwirtschaft sowie eine verordnete Preiserhöhung. Die Regierung unterdrückte die Proteste zunächst gewaltsam, ging aber im »Frühling im Oktober« weitgehend auf die Forderungen ein, nahm die Kollektivierung der Landwirtschaft zurück und setzte Arbeiterräte ein.

1968 erreichte die internationale Studentenbewegung auch Polen. Um einen Keil zwischen Studenten und Arbeiter zu treiben, entfachte die Regierung eine antisemitische Kampagne gegen linke Intellektuelle, in deren Folge 15 000 Juden in die Emigration getrieben wurden. Die Studentenunruhen verpufften isoliert, aber bereits 1970 gab es die nächste breite Welle von Streiks von Bergarbeitern und Werftarbeitern gegen einen weiteren Versuch, die Preise zu erhöhen. Wiederum ging die Regierung nach der gewaltsamen Unterdrückung der Bewegung weitgehend auf deren Forderungen ein. In den 70er Jahren nahm sie massenhaft westliche Kredite auf (v.a. in der BRD), um gleichzeitig ihre ehrgeizigen Akkumulationsziele zu erreichen und die Konsumforderungen der ArbeiterInnen zu erfüllen. Dennoch sanken die Reallöhne. 1976 kam es erneut zu Arbeiterunruhen in den Warschauer Ursuswerken und in Radom. Es bildeten sich illegale Oppositionsstrukturen wie Streikkomitees und politische Gruppen wie das trotzkistisch beeinflusste »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter« (KOR). Aber auch die katholische Kirche fungierte immer mehr als Sprachrohr für soziale Bedürfnisse.

Nach einer erneuten Streikwelle im August 1980, in der sich das »Überbetriebliche Streikkomitee« (MKS) bildete, griff die Regierung erstmals nicht zu gewaltsamen Maßnahmen, sondern verhandelte mit dem MKS, aus dem dann die unabhängige Gewerkschaft Solidarność hervorging. Die Streiks gingen weiter und die wirtschaftliche Krise verschärfte sich. 1981 verhängte die Regierung unter dem Druck der UdSSR das Kriegsrecht und illegalisierte die Solidarność mit ihren inzwischen über 10 Millionen Mitgliedern. Damit wurden zwar die Streiks beendet, aber die Gesellschaft politisch tief gespalten. Eine drastische Verknappung des Warenangebots sorgte für leere Regale in den Läden und drängte den Konsum der Arbeiterklasse in kleinbäuerliche Selbstversorgung und einen blühenden Schwarzmarkt.

Mit dem Heranwachsen einer neuen Generation kam es 1988 erneut zu Streiks in den Bergwerksregionen, denen sich schließlich 76 000 Arbeiter im ganzen Land anschlossen. Die Regierung holte die illegale Solidarność an den Verhandlungstisch, da sie nur dieser zutraute, die Streiks unter Kontrolle zu bekommen. Der berühmt gewordene Runde Tisch ging direkt in eine Regierungsbeteiligung von Solidarność-Funktionären und kirchennahen Intellektuellen über. Gegen 300- bis 500-prozentige Preissteigerungen brachen erneut Streiks aus, aber die politischen Forderungen wurden fallen gelassen, nachdem die Staatspartei PVAP die Regierung verließ.

Die innenpolitische Wende wurde von einer außenpolitischen Öffnung gegenüber dem Westen begleitet. Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich, die Auslandsverschuldung stieg weiter an, und das geringe Vertrauen in die Produktivität der polnischen Arbeiter machte die Umorientierung des Außenhandels vom RGW-Raum in Richtung Westen nicht einfacher. Die Versorgungslage wurde noch mieser. Die erkämpften Lohnerhöhungen wurden durch die galoppierende Inflation wieder aufgefressen.

Gegen die Lohn-Preis-Spirale wurde eine vom IWF diktierte »Schocktherapie« eingesetzt, die später in anderen Ländern nachgeahmt wurde. Die Deregulierung sämtlicher Preise führte zur Hyperinflation und damit zur Vernichtung der privaten Spareinlagen, die Streichung der meisten staatlichen Subventionen zur Selbstorganisation der Betriebe (»wilde Privatisierung«) und zur Umverteilung des bäuerlichen Besitzes. Die Industrieproduktion ging von 1988 bis 1992 um die Hälfte zurück. Die Auslandsverschuldung - das vorgebliche Ziel der Schocktherapie – sank nicht, sondern stieg bis 2001 um weitere 72 Mrd. Dollar an. Da in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Akzeptanz gegenüber der Solidarność größere Arbeiterkämpfe hemmte, trieben Inflation und sinkende Löhne viele Menschen in die schon in den 80er Jahren entstandenen Kleinhandels- und Schwarzmarktstrukturen sowie in die Arbeitsemigration.

Den Kern der »Transformation« stellte wie in allen osteuropäischen Ländern nach 1989 der Verkauf von Staatsbetrieben an ausländische Investoren dar. Große Kombinate im Stahl-Metallsektor, Banken, Telekommunikation und die staatliche Fluglinie LOT wurden zum Verkauf angeboten. Bis 1997 war die Privatisierung weitgehend vollzogen. Investoren wurden mit staatlichen Vorleistungen und steuerfreien Sonderwirtschaftszonen gelockt. Eine Lohnwachstumssteuer sollte die Lohnerhöhungen in den staatlichen Betrieben unter die Inflationsrate drücken.

Die Bergwerke werden zunächst ausgepresst (durch billigste Energielieferungen werden Betriebe saniert, um sie verkaufen zu können), danach wird die Macht der Bergarbeiter zerschlagen (mittlerweile sind etwa 300 000 Kumpel aus dem Staatsbetrieb entlassen und auf die Straße gesetzt).

Migration

Schon vor über 100 Jahren wurden in den Bergwerken und Fabriken Westeuropas und Nordamerikas massenhaft polnische Arbeitskräfte ausgebeutet, und die preußischen Junker ließen auf ihren Feldern vor allem polnische SaisonarbeiterInnen schuften, die dann regelmäßig von der kaiserlichen Ausländerpolizei abgeschoben wurden. Polnische Saisonarbeiter gibt es in Westeuropa noch immer, aber seit 1989 sind auch viele Facharbeiter ins Ausland gegangen. Zur Zeit geht die Migration in den hoch qualifizierten Bereichen wieder zurück, weil die Löhne in Polen steigen, aber die allgemeine Arbeitsmigration geht weiter. Gleichzeitig rücken für die polnischen ArbeiterInnen, ohne die die Bauwirtschaft in Berlin und die Landwirtschaft in der Pfalz kaum funktionieren würden, in Polen ArbeiterInnen aus der Ukraine und Weißrussland nach, die dort für noch niedrigere Löhne auf dem Bau arbeiten und die Ernte einbringen. Menschen aus dem asiatischen Raum steigen vermehrt in den Kleinhandel ein, vor allem in den östlichen Teilen Polens.

Industrie

Die Pattsituation im Klassenkampf (von der gescheiterten Normerhöhung 1956 bis zum Ausweichen in Auslandschulden in den 70er Jahren) bremste wie in anderen sozialistischen Ländern die Entwicklung der Produktivität; die polnische Wirtschaft war jahrzehntelang nur bedingt auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig. Die Stahlwerke in Stalowa Wola, Nowa Huta und Warschau, die Bergwerke in Katowice und Jastrzębie, die Schiffsmaschinenfabrik in Poznań, die Ursus-Traktorenfabrik in Warschau und die Werften in Gdańsk und Szczecin, um nur die größten zu nennen, lieferten bis zur Wende größtenteils verarbeitete, kapitalintensive Güter in den RGW-Raum und Rohstoffe sowie Halbfabrikate in den Westen.

Die größten Branchen sind heute Nahrungsmittel, Metall- und Maschinenbau, Bankwesen, Medien und Telekommunikation, Bau- und Transportwesen, sowie die Versicherungsbranche. Sie arbeiten vorrangig für den EU-Markt. Ähnlich wie vor 40 Jahren im Ruhrgebiet werden im oberschlesischen Kohle- und Stahlrevier Bergbau und Schwerindustrie abgebaut und gleichzeitig die Autoindustrie ausgeweitet. 100 000 Bergarbeiter stellen eine Arbeitskraftreserve für die Automobil- und Zuliefererbetriebe dar.

Nach 1989 beschränkten sich die meisten ausländischen Investitionen zunächst auf Endmontagestraßen zur Umgehung der Importsteuern auf westliche Autos, so übernahm Daewoo z.B. das FSO-Automobilwerk in Warschau. Diese Strategie scheint an ihr Ende gekommen zu sein. Inzwischen folgen andere Firmen dem erfolgreichen Beispiel von Fiat, das seit 1992 in Polen den Panda und den Seicento für den internationalen Markt fertigt, Opel seit 1998 den Agila und den Astra. Sowohl das Fiat-Werk als auch das Opel-Werk im oberschlesischen Industrierevier sind brandneu. Im ebenfalls oberschlesischen Bielsko-Biała produziert ein Joint-Venture von Fiat und GM Motoren für Fiat, Lancia, Opel und Suzuki.

Opel konnte seine 1200 ArbeiterInnen aus über 34 000 Bewerbungen auswählen. Die Arbeitslosigkeit in Polen ist Ende der 90er Jahre von etwa 12 Prozent auf über 20 Prozent gestiegen, und der Durchschnittslohn liegt um die 500 Euro. Dabei ist nach Aussage der Automobilkonzerne die Produktivität und Qualität in ihren polnischen Werken mit denen in Westeuropa vergleichbar. Die Frage ist wohl eher, ob die Werke hunderte Millionen Euro teure Inseln bleiben oder ob es auch in Polen gelingt, ähnlich wie im 30 km von Wien entfernten slowakischen Bratislava Regionen mit einem dichtmaschigen produktiven Gewebe zu entwickeln.

Polens EU-Beitritt im Mai 2004 hat die Investitionsbedingungen nicht grundlegend geändert, sondern den institutionellen Rahmen gefestigt und Entwicklungen festgeschrieben, die früher angefangen hatten. Allmählich verschieben sich die Warenströme zwischen den Ländern. Die positive Handelsbilanz, die Deutschland vor sechs bis sieben Jahren gegenüber Polen hatte, schrumpft ebenso wie die Bedeutung getrennter Märkte.

Landwirtschaft

Knapp 60 Prozent der Fläche Polens werden landwirtschaftlich genutzt. Wie in allen RGW-Ländern wurde nach 1945 im Zuge der Bodenreform der Großgrundbesitz aufgeteilt. Aber in Polen konnte der spätere Zwangszusammenschluss zu Produktionsgenossenschaften nicht gegen den Widerstand der Kleinbauern durchgesetzt werden. Das Kleinbauerntum hielt sich durch die ganze sozialistische Zeit. Auch im Jahr 2004 ist immer noch etwa ein Viertel aller Beschäftigten Polens auf den 2,1 Mio. Höfen tätig. Es sind vor allem Familienbetriebe, die durch eines der niedrigsten Nutzungsniveaus von Chemie im europäischen Raum eine große Vielfalt von Tieren und Pflanzen erlauben. Viele von ihnen wirtschaften für den eigenen Bedarf oder produzieren für den lokalen Markt. Wenn man die Subsistenzwirtschaft mitzählt, lebt etwa die Hälfte aller EinwohnerInnen Polens von der Landwirtschaft. Wegen der in den letzten fünf bis sechs Jahren stark gestiegenen Arbeitslosigkeit steigt die Zahl der in der Landwirtschaft Tätigen aktuell sogar, während die Anzahl derer, die außerhalb ihres Hofes noch Geld verdienen, sinkt. Viele Menschen müssen ausschließlich von den Produkten ihrer kleinen Hofstelle leben.

Neben Betrieben, die im Laufe der Zeit riesige Flächen bis zu  1000 ha erwarben, wächst auch die Zahl der »ökologisch wirtschaftenden« Großbetriebe. Mit durchschnittlich etwa 45 ha übertreffen sie die gängige Größe der polnischen Höfe und werden immer wichtiger für Supermarktketten. Bald könnten bestimmte Bio-Monokulturen die Landschaft regelrecht verwüsten. Die großen Flächen bieten enorme Möglichkeiten für eine Kapitalisierung der Landwirtschaft – nicht nur weil die Hälfte der sechs Mio. deutschen Weihnachtsgänse vor dem Rupfen »Wesołych Świąt« sagten.

Kämpfe

In den übrig gebliebenen Staats- und Großbetrieben gibt es bis heute eine kämpferische Tradition und ein kollektives Gedächtnis an die Kämpfe der letzten Jahrzehnte. Hier sind auch die verschiedenen Gewerkschaftsverbände noch präsent. Landesweite Streikwellen gibt es allerdings nicht mehr. Im Unterschied dazu sind die neuen privatisierten Bereiche bisher praktisch streikfrei. Berichte sprechen von harter Arbeit, langen Arbeitszeiten, unpünktlichen Lohnzahlungen, Mobbing und willkürlichen Rausschmissen. Gerade hier wäre es wichtig zu sehen, ob sich Kämpfe entwickeln und wie sich die (jungen) ArbeiterInnen in diesen Bereichen verhalten.

In einigen Staatsbetrieben konnten Belegschaften, meist gegen die großen Gewerkschaftsverbände, durchsetzen, als Alternative zur Schließung der Betriebe die Produktion in Eigenregie weiter zu führen. Soweit wir von solchen Beispielen aus Städten wie Szczecin, Poznań oder Łòdź gehört haben, scheinen hier die hierarchischen Verhältnisse im Betrieb nicht in ähnlicher Weise aufgehoben zu werden wie z.B. bei Zanón in Argentinien.

Im Jahr 2002 gab es eine Reihe von Protestwellen der ArbeiterInnen vor allem gegen die Schließung von Staatsbetrieben und geplante Reformen im Arbeitsrecht und im Sozialsystem. Wir wissen bisher wenig darüber, inwieweit diese Proteste von unten her organisiert waren. Jedenfalls gelang es den Gewerkschaftsverbänden und Organisationen wie der rechtspopulistischen »Bauernorganisation«/Parlamentspartei Samoobrona (Selbstverteidigung), sich an die Spitze zu setzen. Die amtierende, neoliberal ausgerichtete sozialdemokratische Regierung reagierte mit der teilweisen Rücknahme einiger Reformvorhaben und mit massiven Subventionen für die von Schließung bedrohten Großbetriebe, warf also letztlich wie die früheren sozialistischen Regierungen Geld auf die Kämpfe und nahm den Mobilisierungen damit vorerst den Wind aus den Segeln. Dieser Weg dürfte aber durch die mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Defizitgrenzen in Zukunft versperrt sein.



aus: Wildcat 72, Januar 2005



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