Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 24–25 [w72_tschechien.htm]



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ArbeitsmigrantenInnen in Tschechien
Zwischen Repressionen und Mafia


Mit der Veränderung der Kapitalzusammensetzung in Tschechien nach 1989 ändert sich auch die Zusammensetzung der Klasse. Der starke Zufluss von ArbeitsmigrantInnen ist ein Teil dieses Prozesses. Man kann sie überall sehen – auf Baustellen, in der Automobilindustrie, in Krankenhäusern, im Einzelhandel, bei Reinigungsfirmen, in der Touristikbranche usw..

In Tschechien leben heute ungefähr 162 000 »legale« ArbeitsmigrantInnen.1 Mindestens doppelt so viele sind »illegal« hier, es wird geschätzt, dass in Tschechien insgesamt etwa 480 000 ausländische ArbeiterInnen sind, das wären neun Prozent aller Arbeitskräfte. Die Gesamtzahl der ArbeitsmigrantInnen in Tschechien steigt seit 1999 langsam an. Diese Steigerung verläuft parallel zum kräftigen Zufluss ausländischer Investitionen2, das ist kein Zufall – fast 60 Prozent aller ArbeitsmigrantInnen arbeiten auf dem Bau und in der Fabrik. Und 10 Prozent aller ImmigrantInnen leben in Prag, wo besonders die Bauindustrie in den letzten Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen hat. Etwa 74 Prozent der ArbeitsmigrantInnen sind Männer zwischen 20 und 39 Jahren.3

Im Vergleich zur »einheimischen« Arbeiterklasse haben die ausländischen ArbeiterInnen oft noch prekärere Bedingungen (befristete Arbeitsverträge, niedrigere Löhne, Beschäftigung nur mit Gewerbekonzession als »Selbstständige« usw.) und dienen dem Kapital als Druckmittel gegen die hiesige Arbeiterklasse und zugleich als Versuch, die Klasse nach Herkunft, Sprache und Ethnie zu zerteilen.

Flucht vor der wirtschaftlichen Misere in der Slowakei

Die Mehrheit – über 40 Prozent – der ausländischen ArbeiterInnen in Tschechien kommt aus der Slowakei. Die Arbeitswanderung nach Tschechien ist für Slowaken nichts Neues: bereits während der sogenannten Ersten Republik (1918-1938) war das üblich, und auch während der Ära des Staatskapitalismus (1948-1989) wurde daran nichts verändert. Ihre Beschäftigung wurde schon vor der EU-Erweiterung bedeutend erleichtert, ArbeiterInnen aus der Slowakei unterliegen nicht den starken gesetzlichen Restriktionen wie Leute aus sogenannten »Drittländern«, d.h. aus Nicht-EU-Ländern.4 Der Arbeitgeber muss lediglich den/die ArbeiterIn aus der Slowakei auf dem Arbeitsamt registrieren lassen; das Arbeitsamt ist dazu verpflichtet, sie sofort zu registrieren.5 Somit werden die Leute aus der Slowakei meistens legal beschäftigt, und werden deshalb auch nicht in die Hände der verschiedenen Mafias getrieben, wie es bei den ArbeiterInnen aus der Ukraine der Fall ist. Viele slowakische ArbeiterInnen sind bei Leiharbeitsfirmen beschäftigt, sehr oft auf dem Bau, aber auch in der Automobil- (z.B. Skoda/VW) und Elektroindustrie (z.B. ehemalige hiesige Produktion von Flextronics) oder im Einzelhandel (Tesco, Ahold, Billa etc.). Das Gesundheitswesen ist eine weitere Branche, in der viele Slowaken arbeiten, und zwar sowohl auf der Ebene des mittleren medizinischen Personals, wie auch der Ärzte.

Im Netz der »Klienten«

Mit den ArbeitsmigrantInnen aus der Ukraine (und aus den sogenannten »Drittländern« insgesamt) ist es ein bisschen anders. Die ukrainischen ArbeiterInnen machen 25 Prozent aller ausländischen Arbeitskraft in Tschechien aus. Sie sind noch härterem Druck ausgesetzt als die aus der Slowakei. Sie brauchen eine Bewilligung vom Arbeitsamt, die an ihr Arbeitsvisum gebunden ist. Sie müssen Kranken- und Sozialversicherung bezahlen, aber falls sie ihren Arbeitsplatz verlieren, müssen sie innerhalb einer Woche das Staatsgebiet verlassen und sindsomit aus allen Sozialleistungen ausgeschlossen. Diese ArbeiterInnen sollen als reine Arbeitskraft funktionieren, der alle »Errungenschaften« des Sozialstaats vorenthalten werden. Seit Oktober 2004 können die Bullen Baustellen und Betriebe direkt durchsuchen. Gleichzeitig wurden die Bedingungen für die Erteilung der Arbeitsvisa verschärft und ihre Geltungsdauer verkürzt.

Bisher sind die Mehrheit der ukrainischen ArbeiterInnen in Tschechien (ca. 79 Prozent) Männer, die regelmäßig in die Ukraine zurückfahren bzw. ihre Löhne an ihre Familien schicken, die sie dort zurückgelassen haben. Meistens sind das Leute aus dem Arbeitermilieu, nur ein kleiner Teil hat Hochschulbildung. Etwa 60 Prozent dieser ArbeiterInnen wird auf Baustellen beschäftigt, andere in der Landwirtschaft, bei Reinigungsfirmen usw. – kurz gesagt überall dort, wo Hungerlöhne den Begriff ‘unqualifizierte Arbeit’ rechtfertigen sollen. Diese Leute wohnen gewöhnlich in der Arbeiterherberge, wo sich nicht selten mehrere Arbeiter ein Bett teilen. Einige der ukrainischen ArbeiterInnen bauen sich in der Umgebung von Prag in den Wäldern ihre eigenen provisorischen Behausungen oder besetzen leerstehende Häuser.

Obwohl die Arbeitszeit der Leute aus der Ukraine oft um die 12 Stunden täglich beträgt, verdienen sie weniger als 10 000 Kronen (ca. 323 Euro).6 Der Reallohn wird bei vielen von ihnen letztlich bei der Hälfte liegen. Denn die ukrainischen ArbeiterInnen werden nicht nur direkt in einem Kapitalverhältnis ausgebeutet, sondern zusätzlich noch im sogenannten »Klientsystem«. Der »Klient« stammt auch aus Ukraine, er (auch hier geht es meistens um Männer) hat aber in Tschechien ein langfristiges und legales Aufenthaltsverhältnis, vor allem aber hat er Kontakte zu den staatlichen Behörden und den verschiedenen Mafias. Der Arbeiter kommt mit ihm schon während der Abwicklung des Arbeitsvisums in Kontakt, wofür der »Klient« oft das Dreifache des üblichen Preises kassiert. Falls die ArbeiterInnen kein Geld haben, kann ihnen der »Klient« die nötige Geldsumme ausleihen und zwar nicht nur für das Arbeitsvisum, sondern auch für die notwendigen Ausgaben für die Reise ins Ausland, für Unterkunft und Essen. Die ArbeiterInnen zahlen ihm dann diese Schuld mit ein oder zwei Monatslöhnen zurück. Der »Klient« – diese mafiose Analogie der Leiharbeitsfirmen – besorgt den ArbeiterInnen einen Arbeitsplatz und er zahlt ihnen auch die Löhne aus. Ein Drittel des Lohns behält er als »Schutzgeld« für sich – angeblich schützt er sie vor der Behörde und der Mafia, aber nicht selten überlässt der »Klient« die ArbeiterInnen auf Gnade und Ungnade der Repression von Mafia und Polizei.

Aus Polen in den Bergbau, aus Nord-Korea hinter die Nähmaschine

Der drittgrößte Teil der ArbeitsmigrantenInnen in Tschechien sind Leute aus Polen (fünf Prozent). Im Vergleich zu den Leuten aus der Slowakei und der Ukraine arbeiten sie aber alle in einer Region und einer Branche, und zwar im Ostrauer Gebiet, wo es Bergbau und einige Stahlwerke gibt. Auch sie werden von Leiharbeitsfirmen beschäftigt, das heißt, wir finden hier das übliche Szenario: wenn jemand entlassen werden muss, sind immer sie als erstes an der Reihe. Und das funktioniert in so empfindlichen Bereichen, wie Bergbau und Stahlwerke es sind, bisher leider sehr effektiv.

Die ArbeiterInnen aus der Slowakei, der Ukraine und Polen sind also die wichtigsten Teile der ArbeitsmigrantenInnen in Tschechien. Über die Anzahl der anderen können wir nur Vermutungen anstellen, da sie oft in geschlossenen Fabriken malochen und fast nicht in Kontakt zur umliegenden Welt kommen. Das ist z.B. der Fall für ein paar hundert Arbeiterinnen aus Nordkorea7, die in der Textilfabrik der italienischen Firma Kreata und einigen anderen Betrieben arbeiten oder für chinesische MigrantenInnen in Werken, wo unverzollte Zigaretten produziert werden.

Leider kann ich nichts über Kämpfe der ArbeitsmigrantInnen in Tschechien berichten. Es gibt sie nicht oder wir wissen bisher nichts darüber. Der Zusammenhang mit dem Klassenfrieden, der hier herrscht, ist offenkundig; aber auch mit unserer Beschränkung auf Berichte in den Medien – persönliche Kontakte zu knüpfen wäre daher sehr hilfreich! Auf jeden Fall haben bestimmte Kreise Befürchtungen, es könne in diesen Bereichen zu offenen Kämpfen kommen. Das sagte zumindest kürzlich der Kommentar einer tschechischen Zeitung (Hospodarske noviny, 30.9.2004), die sich mit ukrainischen ArbeitermigrantInnen beschäftigte: »Es geht nicht um einen dramatischen sozialen Konflikt. Der würde erst ausbrechen, wenn die Ausländer aufhören würden zu arbeiten und sich nur noch für die Höhe der Sozialleistungen interessieren würden.« Es ist an der Zeit!

Solidaritan

 


Fußnoten:
1 Alle Zahlen, soweit nicht anders angegeben: www.migraceonline.cz
2 Mehr über die Verlagerung und ausländische Investitionen siehe »Investitionen in Tschechien: Aufschwung oder Absturz?«
(Wildcat 70/2004)
3 27,3 Prozent sind zwischen 20 und 29 Jahre, 32,4 Prozent zwischen 30 und 39 Jahre alt.
4 Aus »Drittländern« stammen etwa 51 Prozent der ArbeitsmigrantenInnen in Tschechien. Der größte Teil von ihnen sind ArbeiterInnen aus der Ukraine (48 Prozent), an zweiter Stelle stehen die Vietnamesen (25 Prozent), die aber meistens als Kleinhändler arbeiten.
5 Die ArbeiterInnen aus der Slowakei bilden 89 Prozent aller ArbeitsmigrantInnen aus den EU-Beitrittsländern in Tschechien; die restlichen 11% sind Polen.
6 Diese Angabe ist aus dem Jahr 2001, damals haben in einer anonymen Untersuchung 68 Prozent der ukrainischen ArbeiterInnen geantwortet, dass ihr Lohn weniger als 10 000 Kronen (323 Euro) beträgt, 33 Prozent gaben an, dass sie sogar weniger als 8 000 Kronen (ca. 258 Euro) verdienen.
7 Das Arbeitsregime dieser nordkoreanischen Arbeiterinnen bei Kreata hat fast eine militärische Form: Seit 2001 müssen sie mindestens acht Stunden pro Tag hinter der Nähmmaschine stecken. Nach der Arbeit müssen sie direkt in die nahegelegene Herberge gehen, wo sie unter Überwachung bis zum nächsten Morgen stehen. Diese Arbeiterinnen verdienen angeblich etwa 6000 Kronen (193 Euro).


aus: Wildcat 72, Januar 2005



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