Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 06–08 [w72_widerstand.htm]
Ohne Widerstand
geht nix!
Es geht um die Durchsetzung von Arbeit.
Was seit über zwanzig Jahren als »Abbau des Sozialstaats« bejammert wird, ist der Umbau eines Systems, das dies nicht mehr ausreichend gewährleistet. Das verkündet heute die Regierungspropaganda, und es wird kein Hehl mehr daraus gemacht, dass es genau darum geht und immer gegangen ist. Darum ging es auch, wenn in den Betrieben immer neue Säue durch die Werkshallen getrieben wurden – von »Verlagerung« über »Gruppenarbeit« bis hin zu japanisch klingenden arbeitsorganisatorischen Maßnahmen.
Hartz IV tut nicht mehr so, als ob auch Positives damit verbunden wäre. Das ist das Neue: Es wird gar nicht mehr so getan, als ob es sich um eine vorübergehende Schwäche der »deutschen Wirtschaft« oder um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen oder die Anerkennung der Arbeiter als Subjekt wie bei der Gruppenarbeit handelt. Die Parole von »Hartz IV und Hartz« heißt: In Deutschland muss wieder mehr gearbeitet werden – für weniger Geld und mehr Profite.
Überraschend ist der Angriff nicht. Am Sozialstaat wird seit 25 Jahren rumgedoktert – verschärfte Zumutsbarkeitsregelungen für Arbeitslose, Pauschalierungen bei der Sozialhilfe, kommunale Zwangsarbeit, Rentenkürzungen, Lockerung des Kündigungsschutzes, Lebensmittelpakete für Asylsuchende, usw.. In den Betrieben führten neue Formen der Arbeitsorganisation zu einer Intensivierung der Arbeit und Verlängerung des Arbeitstags. Die 35-Stunden-Woche versprach zwar eine Verkürzung der Arbeitswoche, brachte aber die Flexibilisierung. Die Arbeit wurde nicht nur einfach länger, sondern die Arbeitszeit erstreckte sich über weit größere Teile des Lebens. Die Verfügungsgewalt über die eigene Zeit nahm ab; immer mehr hatten kein »Normalarbeitsverhältnis« mehr: Befristungen, Scheinselbständigkeit, ABM, prekäre Jobs, Dienstleistungs-Teilzeit. Der Lohn sank, vor allem für die am unteren Ende der Skala.
Trotzdem konnte bis Ende der 90er Jahre der Lebensstandard im Großen und Ganzen gehalten werden, wenn auch nur mit mehr Arbeit und Einsatz. Nicht offene Kämpfe einer Klasse verhindern den kapitalistischen Durchmarsch (von den Kämpfen in Ostdeutschland in der Hochphase der Deindustrialisierung 1991/92 einmal abgesehen), sondern ein Massenverhalten, das massiv mauert und sich gegen allzu große Zumutungen zur Wehr setzt.
Nach wie vor ist Deutschland eines der gleichsten Länder der Welt; der Staat hat in vielerlei Hinsicht dafür gesorgt, dass die Unterschiede im Lebensstandard – wenigstens für diejenigen, die einen halbwegs legalen Status haben – ausgeglichen wurden. Die Transferleistungen »von West nach Ost« kamen zwar zum allergrößten Teil direkt dem Kapital und nicht den Leuten zugute; dennoch federte der Rest die politischen Folgen der Deindustrialisierung und die Erprobung neuer Formen der Arbeit dort ab. Und der Staat alimentierte auch im Westen Millionen, die nicht für die Vernutzung als Arbeitskraft in der beschleunigten Leistungsgesellschaft taugten oder nicht schnell genug mitrennen wollten.
Als sich am Ende des Jahrzehnts die Propagandainhalte von Globalisierung und Toyotismus erschöpft haben und die Massenarbeitslosigkeit (noch immer) nicht als Drohung gegen die Arbeitenden wirkt, muß die Methode der Herrschaft geändert werden. Die »neue Sozialdemokratie« tritt europaweit auf den Plan und markiert zum Beispiel mit dem Schröder-Blair-Papier von 1999 die neue Richtung: »Keine Rechte ohne Pflichten«.
Der Sozialstaat organisiert gerade in der Absicherung der extremen Risiken die Durchsetzung des lebenslangen Arbeitszwangs. Seit Beginn des letzten Jahrhunderts hat der Staat Versicherungssysteme für die Arbeiter eingerichtet. Dies hatte verschiedene Gründe; die Existenz ausbeutbarer Arbeiter auch dann abzusichern, wenn sie grade mal nicht vernutzt wurden. Oder die politisch infizierten Teile der Arbeiterklasse bewußt aus den Fabriken herauszuhalten. Der Sozialstaat bedeutet die Anerkennung der Arbeiterklasse als politische Größe. Die Versicherungsform erfüllte mehrere Zwecke. Zum einen band sie Lohnersatzzahlungen an die Arbeit, bzw. an vergangene (und immer auch wieder zukünftig zu leistende) Arbeit. Gleichzeitig wahrte sie damit den Schein des Tauschverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Dann erlaubte sie die Integration von proletarischen Streik- und Notfallkassen unter staatliche Kontrolle, machte aus Klassenkampf Arbeiterbewegung, indem sie viele Posten für die Aktivisten schuf und gleichzeitig Teile der Klassenkampfinhalte zu Auseinandersetzungen innerhalb der staatlichen Ordnung machte.
Sicher geht es bei Hartz IV auch schlicht um Einsparungen und um einen Abbau durch Absenken des proletarischen Einkommens – vor allem wenn es tatsächlich gelingt, mehrere hunderttausend ganz aus ALG2 auszuschließen. Hartz IV soll die Arbeitskraft verflüssigen. ›Arbeitsverweigerung wird nicht mehr geduldet‹ ist die Parole hinter den 1-Euro-Jobs. Es geht nicht um das Aufräumen der Friedhöfe an sich – das bringt niemandem etwas und erzeugt auch keinen zusätzlichen Profit. Es ist ein Angriff auf das Leben, die Arbeitsverhältnisse und letztlich auch den Lohn derer, die arbeiten. Direkt, indem 1-Euro-Jobs in bisher halbwegs reguläre Bereiche eindringen, etwa im Pflegebereich. Indirekt, wenn mittels der uniformierten Sozialsklaven, die durch die Stadt ziehen sollen, die Allgemeinheit des Arbeitsregimes demonstriert wird. Es geht darum, mit der Schließung von proletarischen Rückzugsräumen den Traum des Nicht-Arbeiten-Müssens auf das Leben nach 65 zu orientieren. Es geht darum, den Schrecken der Arbeit für Geld durch den Schrecken von sinnloser Arbeit fast ohne Geld zu ergänzen.
Der Sozialstaat wird nicht »abgebaut«, ganz im Gegenteil. Während das klassische soziale Netz die Revolte durch bescheidene Absicherung verhindern sollte, macht sich der moderne Sozialstaat daran, noch weit tiefer und umfassender den Zwang zur Arbeit direkt durchzusetzen. Die Gesellschaft wird in neuen Formen und Umfang vom Staat organisiert und durchdrungen. Bedürftigkeitsprüfung, Sozialkontrolle, Aufhebung des Bankgeheimnisses, Aufrüstung von Polizei, Zoll, BGS gegen »die Schwarzarbeit« usw. Allein in Mannheim (350 000 Einwohner) sollen pro Jahr 40 000 Besuche bei ALG2- Beziehern durchgeführt werden. Und falls das dazu führen sollte, dass viele sich ganz verweigern - also letztlich »kriminell« und/oder politisch werden sollten: auch für diesen Fall wurde in den letzten Jahren mit Polizeigesetzen bis hin zum Terrorismusgesetz Vorsorge getroffen. (Und noch weitergehend: Auch die Möglichkeit, innere Spannungen mittels Kriegsbeteiligung zu lösen, wurde durch Rot-Grün etabliert und die rassistische oder kulturrassistische Karte steckt als »Terrorismusbekämpfung« leicht verfügbar im Ärmel.)
Viele bürgerliche Kommentatoren haben bemängelt, dass die Regierung harte Maßnahmen durchsetzt, aber es versäumt, sie zu erklären, bzw. in eine politische Perspektive einzubetten. Für ein politisches Modell ist das »Fördern und Fordern« allerdings viel zu dünn. Ein tragfähiges Modell kann nicht dekretiert werden, es kann nur aus einem politischen Diskurs kompiliert werden, in den alle wesentlichen Kräfte eingebunden sind. Ohne Widerstand geht nichts. Nur wenn sich Interessen melden, Ansprüche gestellt werden und alternative Vorschläge welcher Art auch immer gemacht werden, kann ein neues Verständnis entwickelt werden, das irgendwie halbwegs Konsens in der Gesellschaft wird.
Dabei ginge es um die Definition, bzw. Verunglimpfung von Interessen, Kämpfen, Hoffnungen und der Wut als Partikularinteressen und deren anschließende Einteilung in Gut und Böse, in berechtigt und unberechtigt, in brauchbar und unverwertbar. Damit das gelingt, braucht es eine Form von Protest, der zuerst in der allgemeinsten Frage nach der Arbeit und dann überhaupt mit sich reden lässt. Zur Durchsetzung des repressiven Sozialstaats ist derartiger Protest unverzichtbar. Überspitzt formuliert: Ohne Montagsdemos kann die Agenda 2010 nicht durchgehalten werden, bzw. sie würde ihren Zweck verfehlen.
Das soll keine Verunglimpfung der Montagsdemos sein – sie gehören zur eindrucksvollen »Wiederkehr des Proletariats« dazu. Dass noch nicht die Zeit der allgemeinen Ablehnung aller kapitalistischen Zumutbarkeiten ist, ist zuallerletzt ihnen anzulasten. Auf der einen Seite haben sie proletarischen Protest rehabilitiert und etabliert, auf der anderen Seite aber auch die Bedrohung der Arbeitenden durch die Arbeitslosigkeit mit Leben gefüllt. Die stumpf gewordene Drohung des Meisters: »Wenn Du nicht willst – draußen stehen hunderte, die das für die Hälfte machen« wurde frisch in Bilder gefasst, als tausende hinter dem Schild »Wir wollen Arbeit« marschierten.
Gar nicht genug verunglimpfen kann man allerdings diejenigen, die heute schon anfangen, getarnt als Kritik an Hartz IV, Alternativvorschläge zum Einsatz von Arbeitslosen und ALG2-EmpfängerInnen zu machen. Und jene, die im Zuge der Verengelen-Keferisierung des Widerstands bald in den Kontrollgremien sitzen werden.
Eine ambivalente Rolle spielen die Alternativen, die in den 1-Euro-Jobs eine neue Möglichkeit sehen, ihr Projekt zu finanzieren. Sie legitimieren das »Fordern und Fördern« – aber welches Ausmaß hat dies heute noch? Was ist mit der Legitimation durch diejenigen, die den Verschärfungen des Arbeitsregimes der letzten Jahre nicht folgen konnten oder wollten und in diesen Jobs eine Möglichkeit sehen!? Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Jobs meist nicht an diejenigen gehen, die sie sogar macht würden, sondern vor allem als Disziplinierung funktionieren sollen.
Weil die Arbeitsleistung der 1-Euro-Jobber selbst nicht im Vordergrund steht, wäre es nicht sonderlich überraschend, wenn weniger 1-Euro-Jobs eingerichtet werden, als Clement sich erhofft. Es geht ums Prinzip und die politische Demonstration, und das geht mit -zigtausend so gut wie mit hunderttausend. Nur wenn die Leute selber die Sache verweigern oder ad absurdum führen – am besten mit den ArbeiterInnen der Betriebe oder Einrichtungen, deren Bedingungen unter Druck gesetzt werden sollen –, wird es nicht nur nicht funktionieren, sondern vielleicht sogar nach hinten losgehen.
Der gesellschaftliche Diskurs über die Partikularinteressen kann dann nicht funktionieren, wenn nicht über einzelne Gruppen, sondern über die Arbeiterklasse als ganzes geredet wird. Die bisherige Form der sozialen Absicherung als Versicherung war die Anerkennung der Arbeit als konstitutivem Teil des Kapitals und damit die verquere Anerkennung der Arbeiterklasse als politischer Größe. Dass mit Hartz IV die Arbeitslosenversicherung abgelöst wird durch staatliche Almosen, die mit (»sinnloser«) Kontrolle verbunden sind, ist tatsächlich von den Arbeitern als Aberkennung ihrer Leistung verstanden worden. Nach einem Jahr ist alles weg – das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern wird als Demütigung, Rückstufung, Kränkung verstanden. Der mehr oder weniger brav arbeitende »Bürger« wird von seinem Staat wieder zum »Proletarier« erklärt, der letztlich nichts hat außer seiner Arbeitskraft. Das muß eine neue proletarische Debatte über das eigene Selbstverständnis provozieren und tut das auch – sogar mit praktischer Umsetzung: Die Zumutungen ausgerechnet der Großkonzerne, die nicht mit Bankrott drohen können, sind sofort in direktem Zusammenhang mit Hartz IV verstanden worden. Die Streiks bei Daimler und Opel Bochum waren zwar nicht sieg- wohl aber erfolgreich. Und zwar indem sie entweder weit über die Gewerkschaftskontrolle hinausgingen oder ganz ohne Gewerkschaft stattfanden. Eine Aufbruchstimmung wie bei den großen selbstständigen Streiks 1973 bei Ford in Köln oder bei John Deere in Mannheim kam noch nicht rüber. Aber immerhin.
aus: Wildcat 72, Januar 2005