USA–Dossier; Beilage zur Wildcat Nr. 73, Frühjahr 2005, S. 02–03 [w73_usa_einleitung.htm]



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Was bewegt die USA?

Keine 15 Jahre, nachdem von den USA aus das Ende der Geschichte ausgerufen wurde und keine zehn Jahre, nachdem sich der Gedanke, die USA seien das letzte Imperium, das die ganze Welt beherrscht, sowohl auf der Rechten wie auf der Linken durchgesetzt hat, wankt dieses Imperium seinem Ende entgegen. S. Huntington, der 1993 mit »Clash of Civilizations« das aggressive Interpretationsraster vorgelegt hatte, wonach ein Endkampf zwischen überlegener westlicher Zivilisation und zurückgebliebener islamischer »Kultur« vonstatten gehe, hat Ende 2004 mit »Who are we?« die Identitätskrise des Weltpolizisten beschrieben. Wie alle Imperien in der Geschichte (das Babylonische, das Römische, das Britische…) geht der Hegemon an einer Kombination aus drei Faktoren zugrunde: Erschöpfung der natürlichen Ressourcen, auf die sein Aufschwung und seine Macht aufgebaut waren (Erdöl); ökonomische Krise (»twin towers of deficit«: die höchste Staatsverschuldung und die höchsten Auslandsschulden in der Geschichte der USA; inzwischen ist ein dritter Turm gewachsen: die Privathaushalte sind erstmals mit mehr als 100 Prozent des Bruttosozialproduktes verschuldet), imperial overstretch (die USA haben ca. 446 000 SoldatInnen weltweit in 725 bekannten – plus einigen geheimen – Basen in mindestens 38 Ländern stationiert; dazu kommt eine formelle »militärische Präsenz« in mindestens 153 Ländern… – im Januar 2005 gelang es der US Marine nicht, Abgänge durch ausreichend Neu-Anwerbungen zu ersetzen).

Die US-Importe liegen inzwischen um 50 Prozent über den Exporten, was sich in einem Handelsdefizit niederschlägt, das fünfmal so schnell wächst wie das Bruttosozialprodukt der USA. Die USA können ihre Stellung nur halten, solange der Dollar Weltreservewährung ist. Der ist aber aus denselben Gründen unter massiven Druck geraten und wurde in den letzten zwei Jahren im Vergleich zum Euro um 30 Prozent abgewertet; wenn man vom Tiefststand des Euro (80 US Cent für einen Euro) zum bisherigen Höchststand (1.33 Dollar für einen Euro) rechnet, kommt man sogar auf 40 Prozent Abwertung. Die riesigen Dollarvorräte, die Banken weltweit halten (müssen), wurden in eben diesem Verhältnis abgewertet. Beim World Economic Forum in Davos sagte der Direktor des Nationalen Chinesischen Wirtschaftsforschungsinstituts Ende Januar, China habe das Vertrauen in die Stabilität des US Dollar verloren; man habe verstanden, dass der US Dollar weiter abwerten wird. Als Ende Februar bekannt wurde, dass asiatische Banken ihre Währungsvorräte stärker Richtung Euro diversifizierten, gaben die Aktienkurse stark nach und der Preis für die Unze Gold stieg an einem Tag um 7.10 Dollar.

Die prekäre Lage der US-Ökonomie hat sich inzwischen rumgesprochen, allüberall wird vor der zu großen Verschuldung gewarnt. In der Regel wird sie darauf zurück geführt, dass die USA zuviel importieren, »die Amerikaner« mithin »zuviel konsumieren«. Das ist nur oberflächlich richtig. In Wirklichkeit exportieren die USA viel zu wenig im Vergleich zu anderen Industrieländern. Die USA exportieren Waren im Wert von 7 Prozent des Bruttosozialprodukts, die BRD z.B. im Wert von 35 Prozent. Die industrielle Basis der USA ist zu klein geworden und in vielen Schlüsselbereichen (Maschinenbau, Flugzeugbau…) verlieren sie ihre Konkurrenzfähigkeit.

Selbst Huntington, der endgültig im Lager der Neokonservativen angekommen ist, sieht die wirkliche Gefahr nun im Innern: Seiner Ansicht nach machen dem Land die mexikanischen Einwanderer am meisten zu schaffen, weil sie sich nicht der weißen, angelsächsischen, protestantischen Mehrheitskultur unterwerfen und damit die »ureigenste Identität« des Landes in Frage stellen. Vom ganzen ideologischen Zinnober à la CSU-Wertedebatte befreit, ließe sich das auch anders fassen: die ImmigrantInnen – und darunter besonders die Latinos, gegen die er hier zum Kampf aufruft – haben einen ganz wesentlichen Anteil am Wiederaufschwung der Klassenkämpfe in den USA. Und damit wären wir beim Kern der Frage: wie entwickelt sich der Klassenkampf in den USA?

Die Kriegspolitik stößt weltweit und innerhalb der USA auf Widerstand. In den USA steigt die Armut, Sozialprogramme werden ausgedünnt, die Jobs werden schlechter. Trotzdem hat die Hälfte der Wähler Bush wieder gewählt. Seine Politik scheint Rückhalt in der Bevölkerung zu haben. Was ist mit der US-Arbeiterklasse geschehen, die doch Ende der 90er Jahre noch einmal einen Aufschwung an Kämpfen in den Autofabriken, bei UPS usw. hatte? Nimmt der Widerstand in der US-Armee zu, oder lassen sich die SoldatInnen auch weiterhin in jeden Winkel der Erde schicken, um Bomben abzuwerfen und Länder zu besetzen? Wir haben einige Beiträge von GenossInnen aus den USA zu diesen Fragen zusammengestellt.

George Caffentzis stellt den Zusammenhang her zwischen dem Krieg gegen den Terror und dem Klassenkrieg in den USA. Wirtschaftspolitisch ist der »war on terror« der Versuch, den Zusammenbruch des Neoliberalismus aufzuschieben. Der Patriot Act greift gezielt die MigrantInnen an, die in den letzten 20 Jahren neu auf den US-Arbeitsmarkt gekommen sind und eine zentrale Rolle beim Wiederaufschwung der Klassenkämpfe spiel(t)en. Gleichzeitig schafft das Bush-Regime massiv neue Arbeitsplätze im Sicherheits- und Kontrollbereich für US-Bürger und verbietet die gewerkschaftliche Organisierung in weiten Bereichen des Öffentlichen Dienstes. Was Caffentzis etwas übertrieben den »Militärkeynesianismus« der Bush-Regierung nennt, versucht die Quadratur des Kreises zu schaffen: Investitionen, die nicht die Macht der Arbeiterklasse stärken. Während der ersten Amtszeit Bushs sind 760.000 Jobs im Privatsektor verloren gegangen, aber 879.000 im öffentlichen Dienst neu geschaffen worden. In seiner Konzentration auf »Gefängniswärter« einerseits und ImmigrantInnen andererseits kommt bei George Caffentzis die breite Mehrheit der US-amerikanischen Arbeiterklasse etwas kurz.

Am 26. Januar 2005 kommt der 54 Jahre alte Autoarbeiter Myles Meyers verspätet zur Arbeit in die Jeep-Fabrik (DaimlerChrysler) in Toledo, Ohio. Er hat ein Jagdgewehr unter dem Mantel, mit der er gezielt einen Vorgesetzten erschießt und dann sich selbst tötet. George Windau, ein Arbeitskollege, beschreibt in seinem Brief minutiös das Blutbad und seine Vorgeschichte: eine Firmenpolitik, die Arbeiter gezielt erniedrigt, um sie rauszuekeln.

Peter Linebaugh und Manuel Yang suchen in einem Gespräch am Tag danach Erklärungen für diese »Implosion« von Arbeiterverhalten zu Zeiten der schlanken Produktion. Sie ziehen Parallelen zur Lage der ArbeiterInnen in der Rüstungsindustrie der Nazis und den Toyota-Fabriken nach Zerschlagung der Arbeiterkämpfe im Japan der 50er Jahre.

Chris Wright und Suprina Hawkins analysieren, wie der evangelikale Konservativismus erfolgreich eine Lücke füllt, die Entlassungswellen in den Betrieben, die Sozialstaatsstreichungen und der Zwang zu ständigem Job- und Wohnungswechsel hinterlassen haben. Die »postmoderne Klassenreaktion« hat zur Herausbildung eines republikanischen Proletariats geführt, dem der »zivilisatorische Auftrag« der USA mehr zu bieten hat als der »Liberalismus« eines John Kerry.

Die »Troqueros« – die spanische Ableitung von Truckers – sind neben den Janitors ein Beispiel für diese kämpfenden Immigranten. Latinos bilden heute die Mehrheit der LKW-Fahrer in den US-Häfen. Sie haben sich außerhalb der Gewerkschaft Teamsters organisiert. Ein Aktivist erzählt in einem Interview von ihren Kämpfen um bessere Bedingungen und Anerkennung.

In der US-Armee nehmen Desertionen und Verweigerung zu. Der Artikel erinnert an die Tradition von Meuterei nach dem Zweiten Weltkrieg und in Vietnam, und geht näher auf das Desaster im Irak ein. Er berichtet über Proteste der Angehörigen und das Netz von Beratungsstellen und Organisationen für Deserteure.

Von Studs Terkel ist ein neues Buch mit Interviews auf Deutsch erschienen. Unter der Überschrift »Die Hoffnung stirbt zuletzt« schlägt Terkel einen Bogen über die US-Geschichte von der Weltwirtschaftskrise und den Sit-Down Strikes in den 30er Jahren über die 60er Jahre bis heute.

In keinem Land der Welt sitzen prozentual so viele Menschen im Knast wie in den USA. Christian Parenti beschreibt in seinem – leider nicht auf Deutsch veröffentlichten Buch »Lockdown America: Police and Prisons in the Age of Crisis« den niederschwelligen Bürgerkrieg, den die Polizeibehörden in den USA gegen Teile der Klasse führen. Die Entwicklung der Knäste ist nur zu verstehen im Zusammenhang mit der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung der US-Gesellschaft als ganzer – und mit der umfassenden Krise, auf die das Knastsystem zu antworten versucht. Die Krise Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre war ernster, als viele glauben: Das Land steckte in einer sozialen Revolution: eine riesige Anti-Kriegs-Bewegung unter den Soldaten in Vietnam und zuhause in den USA, eine allgemeine Kulturrevolte unter der Jugend, eine radikalisierte Bürgerrechtsbewegung, blutige Aufstände in den Städten, die Entstehung von bewaffneten revolutionären Gruppen… Zu diesem Zusammenhang siehe Seite 40.



aus: Wildcat 73, Januar 2005



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