Wildcat Nr. 73, Frühjahr 2005, S. 14–16 [w73_usa_republicans.htm]



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Die Wahlen in den USA und das republikanische Proletariat

Chris Wright und Suprina Hawkins

Die Präsidentschaftswahl 2004 hat die USA weltpolitisch isoliert und innenpolitisch zwischen neokonservativ dominierten »roten« Staaten und liberal dominierten »blauen« Staaten gespalten. Der Wahlsieg von George W. Bush hat den größten Teil der Welt und viele von uns hier nachhaltig erschüttert. Der australische Journalist Mike Carlton hat Bush in einem Bericht über die Amtseinführung als den »dümmsten und bösartigsten Präsidenten seit dem Tod des skandalösen Warren Harding 1923« bezeichnet.1 New-York-Times-Journalist Thomas Friedman nennt Europa den größten »blauen Staat« der Welt.2 Der konservative französische Journalist George Malbrunot, der von der Gruppe Islamische Armee entführt und vier Monate lang ’auf Planet bin Laden‘ festgehalten wurde, sieht Bush als Unterstützer des Terrorismus: »Präsident George W. Bush ist für [die Islamische Armee usw.] ein großartiger Partner. Keine Seite will nachgeben. … Die Gruppen wollen Amerika im Irak eine Niederlage bereiten und einen Keil zwischen Europa und Amerika treiben.«3 Steht hinter dem Aufstieg der Neo-Konservativen und Bushs Sieg eine politische Verschiebung des Wahlverhaltens der Arbeiterklasse in den USA?

Während der Vorwahlen gingen beide Präsidentschaftskandidaten von der zivilisierenden Mission der USA aus. Tatsächlich kritisierte Kerry an Bush vor allem, dass er dieser Mission schade. Somit bot die Wahl zwischen dem Demokratischen und dem Republikanischen Kandidaten keine freie Wahl. Man konnte durch kein Votum für eine der beiden Seiten gegen die Besetzung des Irak, für die Unterzeichnung des Kyoto-Abkommens oder für die Wiedereinführung der Sozialhilfe stimmen. Wer für Bush stimmte, stimmte nicht für ein Abtreibungsverbot. Wie Thomas Frank schreibt: »Der Trick wird nie alt, die Illusion nützt sich nie ab. Stimm für ein Abtreibungsverbot, und du bekommst eine Senkung der Kapitalertragssteuer. Stimm dafür, dass unser Land wieder stark wird, und du bekommst Werksschließungen. Stimm dafür, dass den politisch korrekten Collegeprofessoren mal gezeigt wird, wo es lang geht, und du bekommst die Deregulierung der Energiekonzerne. Stimm dafür, dass die Regierung uns in Ruhe lässt, und du bekommst Konglomerate und Monopole in allen Bereichen von den Medien bis zur Fleischindustrie. Stimm für eine harte Linie gegen Terroristen, und du bekommst die Privatisierung der Sozialversicherung. Stimm dafür, dass die Eliten in ihre Grenzen verwiesen werden, und du bekommst eine Gesellschaftsordnung, in der der Reichtum ungleicher verteilt ist denn je zuvor in unserem Leben, in der die ArbeiterInnen überhaupt nichts mehr zu sagen haben und die Vorstandsgehälter in den Himmel wachsen.« Und doch gab es im landesweiten Fernsehen niemand, der wie früher Gore Vidal Wahlenthaltung propagierte. Nichtwählen wurde bei dieser Wahl zu einem Akt nicht entschuldbarer Gleichgültigkeit. Der Wahlakt selbst wurde moralisch aufgeladen. Da eine moralische Entscheidung keine Niederlage hinnehmen kann, scheint die Spaltung Amerikas unausweichlich.

What's the Matter with Kansas?

In »What‘s the Matter with Kansas?« zeigt Thomas Frank, wie mit Kansas eine frühere Hochburg der Demokraten immer röter geworden ist. Laut Frank können wir die Popularität der religiösen Werte als politische Wahl nicht auf den weißen Rassismus oder die Ignoranz der Rednecks schieben. Historisch war Kansas nicht von der Ideologie der weißen Vorherrschaft geprägt oder politisch konservativ. Vielmehr gab es hier eine Tradition des Widerstands gegen Sklaverei und Rassismus, starker Arbeiterbewegungen und des Feminismus. Die Hinwendung zu den Republikanern wurde laut Frank vom neoliberalen wirtschaftspolitischen Schwenk der Demokratischen Partei in den 1970er Jahren ausgelöst. Die monetaristische Finanzpolitik des Federal-Reserve-Chefs Paul Volcker unter der Carter-Administration leitete den extremsten Wirtschaftsabschwung seit der Großen Depression ein. Die zweite Amtszeit der Bush-Administration ist nicht ein Bruch mit der Geschichte, sondern Teil eines Teufelskreises; der Kahlschlag, den Bushs Politik implizit verspricht, hat in Kansas schon stattgefunden.

Der Rechtsruck in Kansas und in den USA insgesamt fand zu einer Zeit statt, als die Bürgerrechts- und die Frauenbewegung explodierten und der Ausbeutung ein neues Gesicht gaben. Adolph Reed Jr. schreibt, die Bürgerrechtsbewegung habe den Weg für Kapitalinvestitionen im Süden, »dem letzten noch nicht vom Großkapital durchdrungenen Gebiet in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg«, freigemacht, indem sie das dual labor system, d.h. den rassistisch gespaltenen Arbeitsmarkt durchbrach.4 Ebenso bot die Integration der für die Dienstleistungsbranche so wertvollen affektiven Arbeit nach der Frauenbewegung neue Investitionsmöglichkeiten. Da die Löhne für die unteren 80 Prozent der Bevölkerung zwischen 1975 und 2001 insgesamt um über 15 Prozent gefallen sind5, ging die Verringerung der ökonomischen Kluft zwischen Weißen und Schwarzen und zwischen Männern und Frauen wirtschaftlich in erster Linie zu Lasten der weißen männlichen Arbeiter.

Im Verlauf der letzten 30 Jahre ist der Sozialstaat zusammengestrichen worden, und der oder die durchschnittliche Beschäftigte in den USA arbeitet mehr Stunden pro Woche als die ArbeiterInnen in allen europäischen Ländern. Gleichzeitig hat sich durch Privatkredite der Konsumismus ausgeweitet, so dass der durchschnittliche Haushalt heute ungefähr mit einem Jahreseinkommen verschuldet ist. Vermarktet wird der Arbeitsethos mit Bill Gates und Hip-Hop-Stars.

Überproportional viele republikanische Proletarier arbeiten in den Bereichen Sicherheit, Rüstung und Bergbau.6 Die ArbeiterInnen und ihre Gemeinschaften identifizieren sich immer mehr mit dem Protektionismus, Militarismus und Knastsystem der USA und unterstützen offen das dunkle Gesicht des Imperiums als widerständische Geste des ausgeschlossenen und zu kurz gekommenen Kernlands gegen das liberaldemokratische System des Einschlusses.

Verändert haben sich im Verlauf der letzten 30 Jahre auch die Struktur der Arbeit und der Konsum der »Früchte der Arbeit« selbst. Die Zeiten, in denen sich ArbeiterInnen durch die bürokratische und routinemäßige Organisation von Zeit, Löhnen und Arbeitsbedingungen, institutionalisiert durch gewerkschaftliche Organisierung und staatliche Regulierung, langfristige Perspektiven und Ziele setzen konnten, sind vorbei. Aufgrund der Flexibilisierung und der Prekarisierung der Arbeit sind viele Menschen nicht mehr in der Lage, ein paar Jahre im Voraus zu denken, geschweige denn ein paar Jahrzehnte. Die Menschen wechseln immer häufiger ihre Jobs und ihre Wohnorte, und das macht alle Formen von langfristigen Beziehungen schwieriger und anstrengender. Die zunehmende Computerisierung der Arbeit macht die geleistete Arbeit immer schwerer durchschaubar. In dieser Situation einer ständigen Veränderung ohne Kontinuität, in der die menschlichen Beziehungen inner- und außerhalb der Arbeit ständig zerrissen werden, ist jedes Gefühl von Gemeinschaft, von Zugehörigkeit, von Engagement, von Charakterfestigkeit geschwunden. Wir sollten die alten Beziehungen nicht romantisieren, aber wir müssen zugeben, dass Beziehungen, die auf Vertrauen basieren und ein Gefühl von Kollektivität und Gemeinsamkeit vermitteln, was die Grundlage ist für kollektive Kämpfe, im Schwinden begriffen sind.

Die religiöse Rechte versucht diese Lücke zu füllen, und bisher auch mit Erfolg. Der evangelikale Protestantismus rechtfertigt den Konsumismus und das Arbeitsgebot, wie wir aus den berühmten Untersuchungen von Max Weber und E.P. Thompson wissen.7 Seine dezentrale und horizontale Organisation ist in Struktur und Funktion postmodern und spiegelt die moderne Konzernstruktur wider.8 Er ist kompatibel mit der Konsumgesellschaft und christianisiert auch noch die widerborstigsten kulturellen Formationen wie Rock und Politik mit Erfolg. Gleichzeitig bietet er engagierte, langfristige familiäre, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Bindungen bzw. Scheinbilder davon. Er scheint genau die Festigkeit und Kontinuität zu bieten, die in allen anderen Beziehungen nicht mehr erreicht werden kann. Statt völlig beliebiger persönlicher Beziehungen bietet er die Absolutheit der »Familie«. Statt eines »moralischen Relativismus« bietet er universelle »Werte«. Statt der Ungewissheit von »fließenden Identitäten« bietet er zeitlose Rollen, die die Vergangenheit und die Gegenwart in einer zusammenhängenden, wenn auch letztlich irrationalen Erzählung verbinden. Statt der Isolation eines »säkularen Individualismus« bietet er eine Gemeinschaft Gottes.

Während soziale Gleichheit, persönliche Freiheit und Brüderlichkeit nur noch die glatte Verpackung von ausbeuterischen Konzernen und Mainstream-Medien sind, dominieren rechte Radio-Persönlichkeiten und ganze Medienkonzerne den Alltagsdiskurs und mobilisieren die Menschen über die religiösen und weltlichen Themen der christlichen Rechten wie Abtreibung, Beten, Waffen und Homoehe. Die Grundzüge der politischen Debatte werden von der intellektuellen Produktion der rechten Think Tanks bestimmt. Die fundamentalistischen Einwände gegen die Vermarktung von Pornografie und Gewalt widersprechen der Rolle des Marketing im Verhältnis zu Gesellschaft, Kultur und Religion überhaupt nicht, sondern sind selbst ein Teil davon.

Nach dem 11. September hat Bush sich zum bescheidenen Diener des amerikanischen Volks und des Ideals von Amerika erhoben. Die Moral setzte sich gegen die ethischen Entscheidungen durch. Bushs Politik ist der unendliche Aufschub eines Akts hinter dem Schleier endloser Aktivität beim Niederreißen der Sozialdemokratie und der politischen Autonomie. Bushs Universalismus leugnet jeden besonderen Inhalt, ist bar jedes besonderen Inhalts. Besondere Menschen, Interessen und Handlungen lassen sich nur instrumentell als gut oder böse im Verhältnis zum Fortschritt beurteilen, und darunter wird Amerika verstanden. Das unmittelbare Eigeninteresse deckt sich mit dem leeren Universellen. Historische Beispiele für Tyrannei und Menschenrechtsverletzungen werden daher regelmäßig als Mittel zum Zweck und somit als erlaubt beurteilt.

Die neoliberale wirtschaftliche Globalisierung hat zwar zu einer massiven Zunahme der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und damit zur Ersetzung der früher reichlich vorhandenen und ’guten‘ Jobs durch niedrigere Löhne, verlorene Sozialleistungen und Verlagerungen ins Ausland geführt, aber das republikanische Proletariat ist ganz eindeutig mit dem politisch-militärischen Zivilisationsauftrag der USA einverstanden. Wenn wir das Zentrum der Freiheit und der Zivilisation sind, dann sind wir das moralische Zentrum der Welt. Die Republikanische ProletarierIn hat nichts dagegen einzuwenden, wenn die moralischen Werte, mit denen er oder sie sich identifiziert, weltweit angewandt werden.

Michael Moore stellt für viele eine ungewöhnlich provokative Stimme des Dissens dar, vor allem durch seine Filme und Bücher, seine Analyse ist jedoch sehr begrenzt. Die von Michael Moore dokumentierte Zerstörung der Arbeiterklasse hat bereits stattgefunden, und eine reine Politik der Verteidigung gegen diese Katastrophe geht daran vorbei, dass die Bush-Welt bereits in den 1970er und 80er Jahren geschaffen wurde. Moores alptraumhafte Zukunft spielt in Wirklichkeit in der Vorvergangenheit. Wenigstens ist Moore insofern lehrreich, als seine Sichtweise an diesem Punkt letztlich typisch für die ganze Linke ist. Sie begreifen noch nicht, dass unsere Gegenwart die Konsequenz aus der Vergangenheit ist, und daher können sie sich nur eine Politik vorstellen, die so aussieht wie die Kämpfe der Vergangenheit.

Michael Moores alptraumhafte Zukunft spielt in Wirklichkeit in der Vorvergangenheit …

Die Basis der Neokonservativen ist eine ganz eigentümliche, sehr konservativ organisierte, aber gleichzeitig sehr gegenwärtige, ja postmoderne Klassenreaktion. Sicherlich beruht sie auf einer besonderen Art und Weise, schwierige Zeiten zu überleben, indem man vor der vollen Last der Ausbeutung Schutz auf Kosten anderer Schichten der Arbeiterklasse sucht, national wie international. Aber sie versucht auch die ganz besonderen Probleme zu überwinden, die durch die Reorganisation der Totalität des gesellschaftlichen Lebens seit den 1970er Jahren entstanden sind, ohne bisher die Grundlagen dieser Reorganisation zu bedrohen. Es fragt sich, wie lange das noch weitergehen kann, bevor seine tiefen inneren Widersprüche das Republikanische vom Proletariat trennen.

Die Formulierung einer radikalen Politik muss die Kritik dieser Grundlagen aufnehmen und die Querverbindungen zwischen dem Verfall der menschlichen Beziehungen und der Prekarität zeigen, die die kapitalistische Neuzusammensetzung der Akkumulationsverhältnisse durch Neoliberalismus, Globalisierung, Flexibilisierung und die ganzen anderen Schlagwörter, die sie partiell und fragmentiert aussehen lassen, geschaffen hat. Der Liberalismus der Demokratischen Partei, der eine andere, aber genauso bedrohliche Versöhnung mit dieser Neuzusammensetzung sucht, hat nichts zu bieten und hat in den USA durch die Wiederwahl von George W. Bush seinen Bankrott offenbart. Wenn wir den Verfall der menschlichen Beziehungen leugnen oder als »fortschrittlich« verherrlichen, dann werden wir weiter leere Abstraktionen verbreiten und das spürbare Missvergnügen haben, mit niemandem außer uns selbst zu sprechen.

 


Fußnoten:
1 Mike Carlton, »The Emperor of Vulgarity«, Sydney Morning Herald, 22. Januar 2005.
2 An American in Paris, Op-Ed-Beitrag, New York Times, 20. Januar 2005 .
3 »Four months on planet bin Laden« von Jody K. Biehl, 22. Januar 2005.
4 Adolph L. Reed Jr., »Black Particularity Reconsidered«, Telos 39, 1979.
5 Bis 1995 lag dieser Rückgang bei fast 21 Prozent, denn seit dem Aufschwung nach 1995 haben sich die Reallöhne endlich ein bisschen erholt.
6 Die Zeiten von »organization man« and »company man« sind vorbei. Statt dessen gibt es den Aufsteiger im Konzern, dessen erstes und wichtigstes Ziel darin besteht, voranzukommen. Siehe Christopher Lasch, The Culture of Narcissism.
7 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, und E.P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, besonders die Abschnitte über den Methodismus, der sich genau als eine Religion der Arbeit und Sparsamkeit für die arbeitenden Klassen, nicht für die Bourgeois, entwickelte.
8 Hier werden Deleuze' und Guattaris rhizomatische Organisationsstrukturen Wirklichkeit.


aus: Wildcat 73, Januar 2005



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