Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 04–05 [w74_edi.htm]
suicidal tendencies?
Ganz schön viel passiert seit dem letzten Heft: Hartz ruiniert die Sozialdemokratie. Schröder schmeißt das Handtuch. Offene politische Krise der Bundesregierung, weil die »Reformprogramme« nicht durchgehen.
Die Sozialdemokratie war historisch die Hauptkraft zur Eindämmung und Niederschlagung von revolutionären Klassenbewegungen; die Faschisten haben meist nur die Früchte geerntet. Dass die Sozialdemokratie nun nach 150 Jahren auf ihr Ende zumarschiert, ist eine gute Nachricht. Schöner lässt sich doch ein Sommer nicht einläuten!
Dazu kommt das ausrechenbar gewordene Ende der katholischen Kirche – der ältesten Institution überhaupt! Laut einer Prophezeiung von Nostradamus war Wojtyla der drittletzte Papst. In einer wahren Endzeitstimmung hatte er 473 Seligsprechungen durchgeführt, doppelt soviel wie in den 400 Jahren davor. Dass die katholische Kirche nun den Uralt-Knacker Ratzinger nimmt, ist fast schon Todessehnsucht. Selbst wenn nach seinem Ableben ein 30jähriger dran kommen sollte, wäre das Papsttum in einer absehbaren Zeit erledigt – falls Nostradamus recht behält.
Die katholische Kirche ist in einer anhaltenden Krise. Sie wächst nur noch dort, wo das Elend wächst und die kapitalistische Entwicklung so schwach ist, dass es keine Alternativen gibt.
Drittens das doppelte Debakel EU. Maastricht-Kriterien in den Wind geschossen, die Verfassung in zwei Referenden abgeschossen. Auch in Europa hat der Neoliberalismus vergeigt. Der Unterschied zu Lateinamerika ist »nur«: hier institutionelle Krisen allerorten – dort werden die Regierungen noch richtig in Handarbeit gestürzt. Aber auch die institutionelle Krise in Kombination mit der schweren Krise der Sozialdemokratie eröffnet große Möglichkeiten für eine radikale Linke.
Seit über zehn Jahren warnen wir davor, von »Neoliberalismus« zu reden, wenn das bedeutet, dass man den Kapitalismus vor seinen »Auswüchsen« und Übertreibungen retten will. Wenn wir jetzt vom »Ende des Neoliberalismus« reden, steht das dazu nicht im Widerspruch, im Gegenteil: beides Mal wollen wir vor den »Rettern« warnen!
Der Neoliberalismus war eine Antwort auf die Krise. Sein grundlegender Zug besteht darin, mit Hilfe von staatlicher Macht »Marktmechanismen« und die »Globalisierung« durchzusetzen. Darunter verstehen seine Verfechter Privatisierung, Flexibilisierung der Arbeiterklasse, massives Runterfahren der sozialstaatlichen Leistungen. Aber der Neoliberalismus war keine Erfolgsgeschichte für das Kapital: Die Wachstumsraten und vor allem die Akkumulationsraten sind in der ganzen »neoliberalen Phase« niedriger gewesen als in den Zeiten der diversen Wirtschaftswunder in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Und vor allem hat der Neoliberalismus in den letzten Jahren zu einer weltweiten Bewegung mit starken antikapitalistischen Zügen geführt, zu Aufständen und Streiks.
Die Kämpfe Ende der 60er Jahre haben dem Keynesianismus den Garaus gemacht. Wenn die aktuellen Bewegungen dazu führen, dass jetzt der Neoliberalismus durch Neo-Keynesianer abgelöst wird – womöglich mit Hilfe »von links« – dann wäre nichts gewonnen!
In der engen Provinz BRD sieht das so aus, dass die WASG versucht, die Sozialdemokratie zu retten; nach Ende der Großen Koalition kann man ja Koalitionen bilden oder wieder fusionieren…
FeLS und andere linke Gruppen schmeißen sich der WASG gegenüber in Positur. Zitat: Wir waren »auf die eine oder andere Weise an nahezu allen linken Bewegungen, Mobilisierungen, Kampagnen und Protesten der vergangenen Jahre beteiligt.« und: »Wir sind diejenigen, die in vielen Orten und Städten eine Politik von unten im Alltag erfahrbar machen und Projekte sowie Strukturen aufrecht erhalten.« Sie vermuten nämlich, dass dieser ganze Zoo, den sie da aufzählen als »WählerInnenreservoir der außerparlamentarischen Linken« für die WASG interessant sein könnte und versuchen deshalb, sich als dessen Repräsentant aufzustellen.
Es ist nicht die Frage, ob der Neoliberalismus überlebt – das wird er nicht. Die Frage ist, was sich aus dem weltweiten Aufbegehren entwickelt. Wenn es revolutionär werden soll, müssen sich die Leute ihre eigenen Ziele setzen, unabhängig vom kapitalistischen Zwang zur Profitmaximierung und zur Arbeit – und unabhängig von »linken« Kopfrockern auf parlamentarischem Repräsentationstrip!
Und da sieht es letztlich gar nicht so schlecht aus: Auch von unten ist ne Menge passiert: in Bolivien wurde mal wieder eine Regierung gestürzt – von einer beeindruckenden Massenbewegung (S. 39). Außerdem hat sich in Lateinamerika ausgehend von Argentinien in den letzten Monaten eine Streikwelle für höhere Löhne entwickelt (S. 44). Dazu haben wir ein Interview mit einem Arbeiteraktivisten bei Subte auf unsere Website gestellt. Die 1900 ArbeiterInnen der Subte, der U-Bahn von Buenos Aires, haben im Februar eine Lohnerhöhung von insgesamt 44 Prozent durchgesetzt.
In der BRD gibt es vor allem defensive Kämpfe: sehr viele Mobilisierungen gegen Betriebsschließungen und/oder Verlagerungen. Besonders massiven Widerstand haben die ArbeiterInnen des Bosch-Siemens-Hausgerätewerks in Berlin/Spandau geleistet. Auf S. 16 findet Ihr die Geschichte der Kämpfe in diesem Werk und ein Interview mit einem Arbeiter. Um genauer zu erklären, worum diese Kämpfe gingen, haben wir diesmal einen mehr als 20 Jahre alten Artikel reloaded: Taylors Alpträume (S. 54).
Ab S. 59 beschreibt ein Genosse aus dem Iran, dass entgegen der skandalisierenden Darstellung in den Medien die Herrschenden geschlossen gegen das drohende soziale Erdbeben stehen. Währenddessen gehen die Arbeiterkämpfe (z.B. in der Autoindustrie) weiter.
Ein Genosse aus Polen hat ein Interview mit einem polnischen Saisonarbeiter in Irland gemacht: »Wir picken 800. Kein Stück mehr.« (S. 29) und einen Artikel über ArbeiterInnen in Polen seit 1989 geschrieben (S. 32).
Ihr würdet nie erraten, welcher Artikel diesmal die emotionalen Wellen am höchsten gepitcht hat – bevor jetzt die große Raterei los geht, sagen wir es lieber gleich: Auslagerungen in der IT-Industrie (S. 23). Damit wollen wir den Einstieg in eine genauere Diskussion und Untersuchung hinkriegen: Qualifizierung der Leute, Arbeitsprozess, Zusammenhang mit der Produktion…
Relativ ruhig hingegen die Zusammenarbeit mit der Berliner Gruppe no service, die ihre Spaziergänge zu Ein-Euro-Jobs vorstellt (S. 9); danach ein Interview mit einem Sozialpädagogen, der in einer U25-Maßnahme arbeitet.
Unter http://filipsworld.proboards42.com/ und dem Namen »Home of Durruti and Friends« ist ein Forum von Beschäftigten von Philips Semiconductors Hamburg, das rege zur Diskussion genutzt wird, z.B. über den Versuch von Philips, Zulagen für Schichtarbeiter zu kürzen und Widerstandsmöglichkeiten dagegen. Im Heft gehen wir auf ähnliche Versuche von Blogs ein (S. 68).
Und wenn Ihr jetzt einfach umblättert, findet Ihr die Fortsetzung unseres Kollektivschwerpunkts im letzten Heft.
29.6.2005
aus: Wildcat 74, Sommer 2005