Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 09–13 [w74_eineuro.htm]
»Sie halten uns kontrolliert arbeitslos«
Der Sozialstaat lebt!
Ein-Euro-Jobs –
offizielle Bezeichnung: MAE = Mehraufwandsentschädigung.
Bezieher von Arbeitslosengeld II werden in diese Jobs gezwungen, eine Ablehnung ihrerseits hat die Kürzung des Arbeitslosengeldes zur Folge. (Zunächst um 30 Prozent, in wiederholten Fällen reduziert auf die Zahlung der Miete und Essensgutscheine.) In Berlin arbeiten die Ein-Euro-JobberInnen für 1,50 Euro pro Stunde (teilweise auch nur 1,20 Euro), in der Regel 30 Stunden in der Woche. So verdienen sie etwa 180 Euro MAE zusätzlich zum Arbeitslosengeld II plus Miete. Die jeweiligen Beschäftigungsträger erhalten jedoch bis zu 500 Euro monatlich pro MAE-Stelle (für Qualifizierungen und den Verwaltungsaufwand). Die Ein-Euro-Jobs müssen laut Gesetz »zusätzlich« sein, d.h. sie dürfen keine regulären Arbeitsplätze gefährden. Sie sind kein Arbeitsverhältnis, dementsprechend gelten keine Arbeitnehmerrechte (Krankengeld, Urlaub oder Streikrecht).
Bundesweit sind derzeit etwa 176 000 MAE-Stellen eingerichtet worden, bis Jahresende soll die Zahl auf 600 000 steigen. Die Zahl der vom Arbeitsamt geförderten Umschulungen und Weiterbildungen ist dagegen innerhalb von nur wenigen Monaten um 67 Prozent (in Berlin sogar um 80 Prozent) gesunken.
Die Ein-Euro-Jobs sind nicht nur für ALG II-EmpfängerInnen vorgesehen, sondern auch für Leute ohne Arbeitserlaubnis wie AsylbewerberInnen und Flüchtlinge mit Duldungsbescheinigung.
Hartz I bis IV und ff. bedeuten vor allem eins: die permanente Änderung der neu geschaffenen repressiven Instrumente. Soeben (Ende Juni 2005) wurden die Jobcenter neu geordnet und deren Kompetenzen gebündelt. Das soll die Leute auf Trab halten – das zeigt aber ebenso klar, dass es keine strategischen Antworten auf die kapitalistische Krise mehr gibt. Die Umsetzung der Hartz-Gesetze und deren Nachbesserungen (z.B. Verlängerung der Bezugsdauer von ALG I bei älteren Arbeitslosen mit langer Arbeitstätigkeit) spalten und individualisieren weiterhin – genau dies ist die Funktion des Sozialstaats.
Die radikale Linke hatte gegenüber dem, was sie seit über 20 Jahren »Abbau des Sozialstaats« nennt, immer eine gewisse Erwartungshaltung: die proletarischen Reproduktionsbedingungen würden sich homogenisieren, die Linke würde sich proletarisieren. Bisher ist so etwas nicht eingetreten. Die Art, wie heutzutage neue soziale Subjekte konstruiert werden (das »Prekariat«), lässt eher drauf schließen, dass man gar keinen Bock mehr hat, sich die realen Veränderungen des Kampfterrains anzugucken.
Die Berliner Spaziergänge der noservice Gruppe zeigen, dass es auch anders geht. Sie sind zu den MAE-JobberInnen gegangen, um mit ihnen zu reden, um rauszukriegen, was tatsächlich passiert, was die »Betroffenen« sich dazu denken und wo sich mögliche Bruchpunkte oder gar gemeinsame Handlungsperspektiven ergeben. Wir hoffen, dass diese Praxis Diskussionen auslöst und sich verbreitet.
Zusätzlich haben wir Interview-Auszüge mit einem Beschäftigten eines privaten Trägers, der die neuen Zwangsmaßnahmen für Jugendliche umsetzt. Von diesem Bereich wissen wir viel zu wenig und er schreit nach einer entsprechenden Praxis.
herausfinden, einmischen …anzetteln
Spaziergänge zu Ein-Euro-Jobs in Berlin
Seit einem knappen halben Jahr sind wir alle zwei Wochen auf Spaziergängen zu Trägern und Einsatzorten von Ein-Euro-JobberInnen in Berlin unterwegs, um mit Leuten, die in den Bereichen arbeiten, zu diskutieren und uns einzumischen. Im Gegensatz zu den vereinzelten und anonymen Begegnungen auf den Ämtern kommen Leute über die Ein-Euro-Jobs neu zusammen und sehen sich täglich. Wir haben uns gefragt: Funktioniert das reibungslos, massenhaft Leute in diese Jobs zu stecken, oder regt sich Widerstand? Entsteht hier eine explosive Mischung von ehemaligen SozialhilfeempfängerInnen, AkademikerInnen, SchwarzarbeiterInnen, Hausfrauen und prekären JobberInnen? Oder wehren sich eher die Leute, die ihre regulären Jobs durch Ein-Euro-Jobs bedroht sehen?
Ein-Euro-Jobs in Berlin
Wie ver.di versucht, die Durchsetzung der Ein-Euro-Jobs durch juristische Regulierungen zu begleiten belegt folgender Artikel in der Berliner Zeitung vom 4. Juni 2005:
»Zwanzig Strafanzeigen wegen Ein-Euro-Jobs«
Betrug, Subventionsbetrug und Untreue im Zusammenhang mit dem Einsatz von Ein-Euro-Jobs – so lauten die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft muss sich nach Angaben des Hauptpersonalrates bereits mit zwanzig Strafanzeigen und Klagen gegen Beschäftigungsgesellschaften auseinander setzen, die Ein-Euro-Jobs vermitteln und damit womöglich reguläre Arbeitsplätze vernichten. 17 Mal haben Privatfirmen mit Hilfe der Handwerkskammer geklagt, drei Anzeigen stammen von Ver.di. Der Ausgang der Verfahren ist offen. Auch zivilrechtlich wird gegen die Ein-Euro-Jobs vorgegangen.
Bei den zivilrechtlichen Klagen geht es aktuell um sechs Ein-Euro-Jobber an der Neuköllner Bruno-Taut-Schule und um neun Erwerbslose an der Neuköllner Regenbogenschule. Eine Personalrätin berichtete, dass im letzten Herbst 18 Bibliothekarsstellen an den Oberstufenzentren für überflüssig erklärt wurden. Die Mitarbeiter gehören nun zum Stellenpool. Dafür seien jetzt »Bibliotheksgehilfen« im Einsatz, die im Grunde die gleichen Tätigkeiten verrichteten. An einer Schule in Tempelhof-Schöneberg soll dem Hausmeister gekündigt worden sein, zwei Ein-Euro-Jobber hätten die Aufgaben übernommen. Der Anteil der Vermittlungen aus dem Stellenpool ist inzwischen auf zehn Prozent gesunken.
Ein weiteres Beispiel: Von einst 306 Stellen im Grünflächenamt Lichtenberg seien 150 übrig geblieben, 73 Mitarbeiter gelten im Stellenpool als »überflüssig«. Gleichzeitig hat der Bezirk 235 Ein-Euro-Jobber zur Gartenpflege gebucht. Die Behörden ließen die »überflüssigen« Gärtner umschulen.
Berlin gehört mit einer Erwerbslosenquote von 19,7 Prozent zu den Regionen mit sehr hoher Arbeitslosigkeit. Seit Anfang der neunziger Jahre hat eine starke Deindustrialisierung stattgefunden. Der Wegfall von Jobs in der Produktion und das Ende des Baubooms haben die Situation entscheidend geprägt. Ende Mai 2005 waren knapp 325 000 Menschen arbeitslos gemeldet, davon erhalten etwa zwei Drittel Arbeitslosengeld II. Während sozialversicherungspflichtige Stellen sowohl in Berlin als auch bundesweit immer weiter abgebaut werden, ist aufgrund der andauernden Ausweitung geringfügiger Beschäftigung durch Ich-AGs, Mini-Jobs und Ein-Euro-Jobs die Zahl der Arbeitslosen im Mai 2005 im Vergleich zum Vormonat erstmals leicht zurückgegangen. Derzeit gibt es in Berlin 17 200 besetzte Ein-Euro-Jobs, laut Senat sollen es bis Ende des Jahres etwa 45 000 werden. Bildungs- und Beschäftigungsträger (gsub, KUBUS e.V., Lowtec, BUF, KEBAB, der Internationale Bund, Goldnetz, pro futura e.V. u.a.) und Wohlfahrtsverbände (z.B. Caritas und AWO) sanieren sich am Ein-Euro-Geschäft gesund und expandieren.
Ein-Euro-Jobs im Kontext der Hartz-Angriffe
In den Medien werden die Ein-Euro-Jobs als neue Chance zum Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt verkauft. Es wird aber keineswegs verschwiegen, dass es letztendlich darum geht, die Löhne und Sozialausgaben in Deutschland zu senken. Worauf zielen nun die aktuellen Angriffe, Hartz IV und speziell die Ein-Euro-Jobs, ab?
- Massive Verunsicherung: Schon vor dem Inkrafttreten von Hartz IV, wurde ein Drohszenario geschaffen, mit dem vor allem ArbeiterInnen in »regulären« Jobs unter Druck gesetzt wurden. Bei Siemens, DaimlerChrysler, Karstadt, den Berliner Vivantes-Krankenhäusern und vielen kleineren Betrieben wurden die Belegschaften mit Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen konfrontiert. Hartz IV bedeutet ein Jahr Arbeitslosengeld I, das sich am letzten Einkommen orientiert, danach Leben auf Sozialhilfeniveau und einen Ein-Euro-Job als eventuelle Zone der Demütigung. Das ist in den Betrieben angekommen, wie sich auch im einwöchigen wilden Streik bei Opel in Bochum zeigte.
- Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen: ALG II senkt das Niveau staatlicher Sozialleistungen, womit ArbeiterInnen gezwungen werden sollen, für noch niedrigere Löhne arbeiten zu gehen. Für viele kommt ein Ein-Euro-Job nicht in Frage, da sie ihn als demütigend empfinden, andere wiederum fallen über Bedarfsgemeinschaften ganz aus dem Bezug heraus. Um über die Runden zu kommen, müssen sie einen Niedriglohnjob annehmen. Der Ausbau des Niedriglohnsektors wird verstärkt. Allerdings ist diese Entwicklung auch widersprüchlich: ALG II plus Mietanteil plus Ein-Euro-Job kann u.U. 850 Euro betragen, was einem Bruttolohn von über 1000 Euro entspricht.
- Abbau regulärer Stellen:Mit der Einführung der Ein-Euro-Jobs findet indirekt eine staatliche Subventionierung kommunaler Aufgaben statt. Mittelkürzungen und Stellenabbau bei den Kommunen haben in den letzten Jahren große Löcher in die staatliche Infrastruktur gerissen, die mit Ein-Euro-JobberInnen wieder geschlossen werden sollen: im Garten- und Landschaftsbau, bei Instandsetzungs-, Renovierungs- und Reinigungsarbeiten, in sozialen Diensten, im Schul-, Bildungs- und Kulturbereich sowie in Pflegeeinrichtungen. Hinter den »zusätzlichen« Tätigkeiten der Ein-Euro-Jobs verbergen sich oft gesetzlich festgelegte Aufgaben der Kommunen, bei denen ganz bewusst auf die Qualifikationen der JobberInnen zurückgegriffen wird. Dagegen erhalten z.B. Handwerksfirmen immer weniger Aufträge, müssen weitere Stellen abbauen oder gehen pleite.
- Wirkung auf ideologischer Ebene:Vor allem Jugendlichen und jungen Leuten soll nachdrücklich klar gemacht werden, dass ein Leben ohne Arbeit nicht denkbar ist und dass es der Vergangenheit angehört, sich in der »sozialen Hängematte« auszuruhen. Es geht um eine Neudefinition dessen, was unter »normalen« Arbeits- und Reproduktionsbedingungen zu verstehen ist. Das Anspruchsdenken soll massiv herunter geschraubt werden.
- Disziplinierung und Kontrolle von Arbeitslosen: Arbeitslose mit einem Ein-Euro-Job sollen beweisen, dass sie früh aufstehen und sich einem Arbeitsrhythmus anpassen können. Bei der 30-Stunden-Woche eines Ein-Euro-Jobs wird es schwierig oder unmöglich, weiter schwarz zu malochen. Meldet man sich länger als zwei Wochen krank, wird der Ein-Euro-Job gekündigt, der Stress mit dem Arbeitsamt geht von vorne los. Auch ganz allgemein verstärken Ein-Euro-Jobs den Zugriff auf die Zeit von Arbeitslosen, verhindern das Verreisen und andere Dinge, die Spaß machen.
Herausfinden, Einmischen … Anzetteln
Im vergangenen Jahr waren auf den wochenlang anhaltenden Montagsdemos erstaunlich viele Leute (vor allem im Osten) selbstorganisiert auf der Straße, um gegen die Durchsetzung von Hartz IV zu protestieren. Parallel konnten wir (nicht nur in unserem Umfeld) eine breite Offenheit feststellen, über Arbeits- und Ausbeutungsbedingungen zu reden. Die Unzufriedenheit war spürbar. Wir wollten wissen, wie sich die Leute verhalten und jenseits von skandalisierenden Berichten in den Medien uns selbst ein Bild davon machen, wie es tatsächlich in den Ein-Euro-Jobs aussieht. Daraus entstand die Idee der Spaziergänge. Seit Anfang Januar sind wir alle zwei Wochen unterwegs, recherchieren dazu und diskutieren untereinander. Die Praxis der Spaziergänge beruht auf kleinen Grenzüberschreitungen: wir gehen unangemeldet rein, fragen nicht um Erlaubnis und lehnen die Vermittlung über Vorgesetzte ab. Wir wollen mit den Leuten direkt an ihrem Arbeitsplatz ins Gespräch kommen – dabei stößt unser Auftauchen fast immer auf Offenheit und Interesse. Nicht selten ergaben sich angeregte Diskussionen. Es stellte sich heraus, dass viele Leute (wie wir auch) zwischen Arbeitsamt, Maßnahmen und prekären Jobs hin- und herpendeln. Die Spaziergänge sind ein Ansatz, Isolation und Trennungen in den einzelnen Arbeitsbereichen aufzubrechen und die jeweiligen Erfahrungen der Leute an andere weiter zu geben.
Bei einem Berliner Beschäftigungsträger, der in vielen Bezirken, so auch in Neukölln, verschiedene Werkstätten und Einsatztrupps betreibt, haben wir etliche Leute getroffen, die über ihre ABM oder ihren Ein-Euro-Job nur abkotzten. Die Mischung aus stupide empfundener Arbeit (z.B. Abziehen der Isolierungen von Kupferkabeln oder Stricken kleiner, hässlicher Püppchen) und miesen Arbeitsbedingungen (rigide Pausenregelungen, Stundenabzug bei Zuspätkommen, Radioverbot,äußerst schlecht ausgestattete Werkstätten und ein winziger Aufenthaltsraum) schürt die Unzufriedenheit. Bisher waren in diesem Werkstättenbereich 120 Leute beschäftigt – inzwischen hat der Beschäftigungsträger umgebaut und expandiert: Ab Juni arbeiten dort an die 400 Ein-Euro-JobberInnen. Zu den voll besetzten Werkstätten (Holz-, Metall- und Nähwerkstatt) kommen verschiedene Trupps, die zur Pflege von Grünflächen und zur Müllbeseitigung eingesetzt werden. Qualifizierungsmaßnahmen, für die der Träger zusätzlich Geld kassiert, sind ein Witz: Bewerbungstraining, Belehrungen über den Umgang mit Feuerlöschern (ohne Feuerlöscher!) oder auch die Einarbeitung ins Bemalen kleiner Holzteilchen für Kinderspielzeuge. Dagegen werden die Leute gezielt ihren Ausbildungen und Berufserfahrungen entsprechend eingesetzt, sei es als Näherin, Schlosser oder Bauarbeiter. Die meisten finden ihren Job dort einfach nur Scheiße und verhalten sich entsprechend (von den üblichen Bummeleien, reihenweisen Krankmeldungen hin zu offenen Arbeitsverweigerungen).
Explosive Mischung?
Wir sind auf erstaunlich viele Leute gestoßen, die den Ein-Euro-Job »freiwillig« machen. In den Gesprächen mit ihnen wurde diese »Freiwilligkeit« jedoch schnell relativiert. Zum einen geben sie dem ständig wachsenden Druck und der Schikane vom Arbeitsamt nach, zum anderen sind die paar Euro ein wichtiger Zuverdienst. Die Leute wägen ab. Ein Ein-Euro-Job kann durchaus die bessere Alternative sein. So liegt z.B. der Tariflohn einer Bäckereiverkäuferin bei 5,52 Euro, was etwa ALG II plus Ein-Euro-Job entspricht, aber die Arbeitshetze ist größer, die Arbeitszeiten sind länger und ungünstiger.
Viele Leute erzählen, sie seien froh »mal raus zu kommen«. Sie hätten über den Ein-Euro-Job (oder die ABM) nette KollegInnen gefunden und/oder dort halbwegs was Interessantes zu tun. Ein deutlicher Ausdruck dafür, wie zermürbend für manche langjährige Arbeitslosigkeit sein kann.
In den vergangenen Monaten wurden jedoch auch zunehmend Leute zu Ein-Euro-Jobs zwangsverpflichtet. Die sind schon deshalb unzufrieden, weil der ihre eigenen Pläne durchkreuzt. So erzählte uns ein »Hausmeister«, dass er seinen Schwarzjob auf dem Bau nicht mehr machen kann. Davon hatte er die vergangenen Jahre gelebt. Ein Mann aus einer Metallwerkstatt brachte es auf den Punkt: »Wir werden hier kontrolliert arbeitslos gehalten, damit wir nicht nebenbei schwarz arbeiten.« Andere kotzen über die Ein-Euro-Jobs ab, weil sie eine einschlägige Ausbildung haben, aber keinen regulären Job mit entsprechendem Gehalt finden.
Egal, ob »freiwillig« oder zwangsverpflichtet, nahezu alle, mit denen wir gesprochen haben, sind unzufrieden damit, dass im Krankheitsfall der Zuverdienst wegfällt und kein bezahlter Urlaub gewährt wird. Bezahlt blau machen geht nicht mehr. Auch gibt es grundsätzliche Kritik am Zwangscharakter der Jobs. Die wenigsten versprechen sich von der Maßnahme einen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt.
Doch wie kann sich diese Kritik radikalisieren?
Schwierigkeiten …
Die Bedingungen, die im Bereich der Ein-Euro-Jobs vorherrschen, erschweren die Entstehung kollektiver Formen von Widerstand:
- Die Ein-Euro-JobberInnen arbeiten oft vereinzelt oder nur mit wenigen Leuten zusammen und bekommen so kaum etwas voneinander mit.
- Es entsteht kaum eine gemeinsame Perspektive, da sie nur relativ kurze Zeit zusammen arbeiten (die Maßnahmen sind auf neun Monate begrenzt). Danach stehen sie wieder vereinzelt vor einer unklaren Situation.
- Da die Leute ihren Qualifizierungen entsprechend eingesetzt werden, trifft es nur bedingt zu, dass Leute mit unterschiedlichen Erfahrungen aufeinandertreffen.
- Der Unmut von (noch) Festangestellten und Ein-Euro-JobberInnen trifft im Alltag oft nicht aufeinander, da sie getrennt voneinander arbeiten (z.B. in Handwerks-, Gartenbaubetrieben und bei Beschäftigungsträgern). Oder der Stellenabbau hat bereits in den vergangenen Jahren stattgefunden, wie an Schulen und Kitas.
An Berliner Schulen arbeiten etwa 5000 bis 8000 Ein-Euro-JobberInnen. Im Stadtbezirk Neukölln ist jeder vierte Beschäftigte an Schulen und Kitas ein Ein-Euro-Jobber. Manche Schulen funktionieren nur noch über Maßnahmen. Wir waren im März in einer Grundschule, an der mehr als 30 Leute, darunter Schulabgänger, Akademiker, Handwerker, Langzeitarbeitslose, ehemalige Hausfrauen, als ABMler oder Ein-Euro-Jobberin arbeiten. Sie sind zuständig für: Hausmeisterarbeiten, Renovierung, Betreuung der Kinder auf der Schulstation, Einzelfallhilfe, Wartung und Betreuung des Computerraums, Küchenarbeiten in der Schulkantine… Zwei feste ErzieherInnenstellen in der Schulstation waren schon vor fünf Jahren gestrichen worden und sind jetzt mit Ein-Euro-JobberInnen besetzt. Die einzigen Festangestellten sind offensichtlich die LehrerInnen.
…und Möglichkeiten des Widerstands
Dennoch haben wir immer wieder Leute getroffen, die versuchen, den Bedingungen etwas entgegen zu setzen. Viele entgehen der Disziplinierung, indem sie sich wiederholt für ein paar Tage krank melden, dann wieder erscheinen, um so keine Kündigung zu riskieren. Langsam arbeiten, Pausen überziehen und »organisiertes Bummeln« gehören zum Arbeitsalltag der Ein-Euro-JobberInnen. In einigen Fällen werden sie darin auch von Festangestellten unterstützt. »Ihr werdet schlechter bezahlt als ich, also arbeitet auch entsprechend weniger.« So die Einstellung eines (regulär beschäftigten) Hausmeisters seinen Ein-Euro-»Gehilfen« gegenüber.
Mit den Spaziergängen haben sich auch unsere Fragestellungen geändert. Nach unserem ersten Besuch in den Neuköllner Werkstätten des oben beschriebenen Trägers hatten wir den Eindruck, dass die Leute dort tatsächlich mal gemeinsam auf den Putz hauen werden. So waren wir mehrmals dort und haben versucht, gezielter mit ihnen über die Möglichkeiten eines Streiks nachzudenken. In ihren Überlegungen überwog jedoch die Angst vor einer Kürzung des ALG II. Die Vorstellung einer eigenen Macht fehlte.
Wie können wir (gemeinsam) diese Ohnmacht aufbrechen? Wo gibt es Angriffspunkte, wie kann Widerstand wirksam werden?
Die Ein-Euro-Jobs sind zur Zeit überall Thema. Ein Streik von Ein-Euro-JobberInnen würde – auch wenn er keine bedeutenden Produktionsprozesse lahmlegt – eine breite öffentliche Präsenz schaffen. Wenn Ein-Euro-JobberInnen sich offen hinstellen und für bessere Bedingungen kämpfen, würde das nicht nur die einschüchternde und demütigende Wirkung der Ein-Euro-Jobs aufheben. Der Protest könnte von vielen Seiten unterstützt werden und eine starke politische Bedeutung bekommen. Bei der weit verbreiteten Unzufriedenheit und dem Frust auf Hartz IV könnte er sich auf andere Bereiche ausweiten. Auf die Beschäftigungsträger ließe sich direkt Druck ausüben, da ihre Ein-Euro-Jobs oft nicht wirklich die Kriterien erfüllen (Zusätzlichkeit, geleistete Qualifizierungen, …), sie aber von der dafür bewilligten Kohle abhängig sind.
Offener Prozess
Wir haben inzwischen viel herausgefunden und die Informationen in Berichten festgehalten, die u.a. auf labournet.de und wildcat-www.de veröffentlicht wurden. Es ist jedoch sehr schwierig, einen kontinuierlichen Kontakt mit den Ein-Euro-JobberInnen aufzubauen. Wir erfahren kaum etwas darüber, wie die Leute untereinander weiter diskutieren, was wir durch unser Auftauchen anzetteln. Dennoch liegt hier eine mögliche Wirkung der Spaziergänge: Wir haben uns überlegt, offensiver aufzutreten und verstärkt Ideen und konkrete Überlegungen in die Diskussion zu werfen – z.B. in einem Flugblatt zum Thema ›Streik im Ein-Euro-Bereich‹. Wir wollen uns dabei auf Orte konzentrieren, an denen viele Leute zusammenkommen und es möglich ist, sich kollektiv mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen.
Andere linke Gruppen haben die Idee der Spaziergänge zu Ein-Euro-Jobs aufgegriffen (z.B. in Köln), wir hoffen, dass sich diese Praxis über die übliche linke Kampagnenpolitik hinaus ausweitet. Außerdem diskutieren wir, wie wir den alleinigen Fokus auf die Ein-Euro-Jobs aufheben können. Denkbar sind Spaziergänge auch zu anderen Orten, an denen Leute miese Jobs machen müssen …
no service ist eine Gruppe aus Berlin von etwa zehn Leuten, die meisten arbeitslos, mit oder ohne Schwarzjob, manche haben reguläre Jobs, z.B. in der Pflege oder im IT-Bereich. Seit über zwei Jahren treffen wir uns und setzen uns mit Themen zu Arbeit und Reproduktion, der Funktion des Sozialstaates, Krieg und Kämpfen dagegen auseinander. So organisierten wir eine Veranstaltungsreihe zum Thema »Prekär – das Normalarbeitsverhältnis als Sonderfall«, bei der es u.a. um das Berliner »Praktikantenunwesen«, Studies als prekäre JobberInnen oder den Kampf von illegalisierten Arbeitsmigranten auf einer Berliner Baustelle ging. Zudem versuchen wir selbst aktiv zu werden und uns einzumischen, z.B. während der Auseinandersetzungen in den Vivantes-Krankenhäusern im Frühjahr 2004. Seit Januar 2005 organisieren wir die Spaziergänge zu Ein-Euro-Jobs.
no service ist unter der email-adresse noservice@gmx.de zu erreichen.
Die ausführlichen Berichte und das Flugblatt zu den Spaziergängen könnt ihr u.a. hier nachlesen.
aus: Wildcat 74, Sommer 2005