Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 29–31 [w74_picking.htm]
»Wir picken 800. Kein Stück mehr.«
Interview mit einem polnischen Leiharbeiter in Irland
Das Interview erscheint in der Juli-Ausgabe der Monatszeitschrift Nowy Robotnik.
Wie bist Du nach Irland gekommen?
Ich hatte zehn Monate bei einer Firma im Raum Poznań als Handelsvertreter gearbeitet, und als die meinen Arbeitsvertrag nicht verlängert haben, habe ich beschlossen, zum Geldverdienen ins Ausland zu gehen. Von einem Freund wusste ich, dass man in Irland gar nicht schlecht verdient und dass es keine größeren Probleme gibt, da einen Job zu kriegen. Ich habe das dann sehr schnell entschieden. Ich kam in Dublin an mit 100 Euro in der Tasche. Mein großes Glück war, dass ich die ersten Wochen bei Freunden wohnen konnte und nichts für die Übernachtung im Hostel bezahlen musste. Meine Ausgaben habe ich auf den Einkauf der billigsten Lebensmittel begrenzt.
Und wie hast Du bei Tesco angefangen?
Ich habe auf jede mögliche Art Arbeit gesucht: mich in Geschäften beworben, wo Zettel hingen »Arbeiter gesucht«, die Hilfe des FAS in Anspruch genommen (was dem polnischen Arbeitsbüro entspricht, aber himmelweit effektiver und viel freundlicher zu den Arbeitslosen ist) und bei Bekannten rumgefragt. Beim FAS habe ich zwei Polinnen getroffen, die mir von der Agentur Grafton erzählt haben. Diese Firma, die seit kurzem auch in Polen aktiv ist, rekrutiert ArbeiterInnen für die großen Konzerne, u.a. auch für Tesco. Als ich mit meinem Lebenslauf ins Büro von Grafton kam, war Freitag; am Montag hatte ich schon ein konkretes Treffen mit dem Manager und am Dienstag arbeitete ich bei Tesco Distribution im Lager. Man muss schon zugeben, dass die Arbeitsagenturen zügig arbeiten.
Worin bestanden die Unregelmäßigkeiten und die Ausbeutung bei Tesco?
In diesem riesigen Lager, wo ich hinkam und jetzt seit sieben Monaten arbeite, gibt es Arbeiter, die direkt einen Arbeitsvertrag mit Tesco haben und Zeitarbeiter, die bei den Arbeitsagenturen eingestellt sind und an Tesco verliehen werden. Ich gehöre zur letzteren Gruppe, genau wie zig andere Polen, ein paar weniger Slowaken, Litauer, Tschechen und Ungarn, sowie ein paar Iren. Die Festeingestellten sind ganz überwiegend Iren plus eine Reihe von Schwarzen (wegen der political correctness), Russen, Türken, Franzosen. Auch ein Pole, der dort schon gearbeitet hat, bevor Polen der EU beigetreten ist.
Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass sich die beiden Gruppen außer den offensichtlichen Unterschieden im Nationalitätenproporz auch in anderen Fragen unterscheiden. Die Festeingestellten verdienen von 12,50 Euro die Stunde an aufwärts – der Stundenlohn hängt davon ab, wie lange man an einem bestimmten Arbeitsplatz arbeitet. Alle paar Monate bekommen sie Lohnerhöhungen. Dadurch verdienen sie etwa 550 Euro die Woche. Wir dagegen bekommen unverändert 9,52 Euro die Stunde, obwohl einige schon seit über einem Jahr an der Hundeleine der Agentur arbeiten. Keine Lohnerhöhungen! Dadurch kriegen wir in der Woche nur etwa 360 Euro, obwohl wir genau dieselben Arbeiten machen. Die Festeingestellten bekommen zu Weihnachten und Ostern spezielle Bonuszahlungen, wir nicht. Die Festeingestellten arbeiten jeden zweiten Samstag, wir jeden. Es gibt viele solcher kleinen Unterschiede. Jeder Zeitarbeiter träumt davon, bei Tesco fest eingestellt zu werden und sich von der Agentur zu befreien. Aber das grenzt fast an ein Wunder. Tesco hat eine wohlüberlegte Politik und weiß genau, dass die ArbeiterInnen aus dem Osten liebend gern auch für 7,60 Euro die Stunde (den Mindestlohn in Irland) arbeiten würden. Außerdem wird Tesco durch den Einsatz von Agenturen die Verantwortung für uns ausgeliehene Zeitarbeiter los. Die Agenturen stellen uns ein, entlassen uns, bezahlen uns, stellen die wöchentlichen Lohnzettel aus, verschieben uns von einem Lager zum anderen, wie ihre Kunden es brauchen, zahlen unsere Sozialversicherungsbeiträge und bezahlen bei einem Unfall die Entschädigungen. Außerdem sind wir laut der Verträge, die wir bei den Agenturen unterschrieben haben, Zeitarbeiter (temporary staff). Was das für unsere Rechte heißt, ist auch für Juristen schwer zu interpretieren. Das haben sie sich in diesen Zeiten der großen Migration schlau ausgedacht, um die dringend nach Arbeit suchenden ArbeiterInnen aus dem Osten, die ihre Rechte nicht kennen, maximal auszunutzen.
In diesem System von Agenturen und Tesco haben wir bis zu dem Moment gearbeitet, wo die Manager anfingen, uns eine Erhöhung der Tagesnormen reinzudrücken. Unsere Arbeit besteht grob gesprochen im Einsortieren von Produkten. Wir laden sie von Europaletten ab und sortieren sie in spezielle Körbe ein, die zu den Tesco-Supermärkten in fast ganz Irland geliefert werden. Unsere Hauptaufgabe ist das »Picken«.
Von den irischen Festeingestellten wissen wir, dass sie vor der EU-Erweiterung etwa 500 Kartons am Tag gepickt haben. Für die Überschreitung dieser ungeschriebenen Norm bekamen sie einen Zuschlag. Als dann die Polen kamen, hieß es, pro Schicht müssten 750 Kartons gepickt werden. Daran kann ich mich selbst noch aus den Anfängen meiner Karriere bei Tesco erinnern. Vor etwa zwei Monaten wurde uns in lockeren Gesprächen mit den Managern schon gesagt, es sei ok, wenn wir 800 bis 850 Kartons am Tag pickten. Diejenigen, die am eifrigsten von einer Festeinstellung träumten, haben aber bis zu 1400 Kartons gepickt, und ein Slowake hat mal in der Nachtschicht den Rekord von 1900 Kartons in siebeneinhalb Stunden aufgestellt. Vor einem Monat, als sie uns dann sagten, die Norm betrage 900 Kartons, sind wir zu sechst - alles Polen - zum Schichtführer gegangen und haben gefragt, was das heißen soll? Bei der Schulung hatten wir stundenlang Filme darüber gesehen, dass man die Wirbelsäule schonen soll, und jetzt sollen wir hier plötzlich 900 picken! Er sagte, wir könnten wir ja nach Hause gehen, wenn es uns nicht passte, denn draußen warteten viele, die unsere Arbeit gern machen würden.
Wie habt Ihr auf den Versuch reagiert, Euch auszunutzen?
Am nächsten Tag bin ich mit einem T-Shirt zur Arbeit gegangen, wo ich groß draufgeschrieben hatte: We are picking 800. No more. Wir picken 800, kein Stück mehr. Obwohl es Samstag war, tauchte ganz schnell der Hauptmanager auf und rief mich in sein Büro. Er holte auch meinen Vorgesetzten von Grafton dazu. Zusammen haben sie mich etwa zwei Stunden lang in die Mangel genommen. Warum ich das geschrieben hätte? Ob mir die Wirbelsäule wehtue? Was die Kollegen dächten? Sie waren sehr nett, vorsichtig und höflich. Sie haben mir sogar eine vegetarische Pizza bestellt, weil ich die Mittagspause verpasst hatte.
Während unseres Gesprächs bekam ich von den Kollegen aus dem Lager SMS’e: »Wir sind bei dir!«, was sehr wichtig war, die Jungs sind sogar vor die Bürotür gekommen und haben sehr deutlich hören lassen, dass sie dort sind. Ich beharrte darauf, dass die Norm nicht höher als 800 Kartons sein dürfte. Sie baten mich, nicht mehr dieses umstrittene T-Shirt zu tragen. Ich fragte den Vertreter von Grafton, was er machen würde, wenn ich es nicht ausziehe. Er sagte, dann müssten sie mich vielleicht entlassen. Daraufhin habe ich ihm mit der Gewerkschaft gedroht. Er hat dann schnell das Thema gewechselt.
Das war ein Freudentag. Wir waren alle bestärkt in unserem – wie es uns schien – erfolgreichen Widerstand. Die Iren haben sich mit uns solidarisiert; als sie mein T-Shirt sahen, hoben sie den Daumen und erwähnten Lech Walesa. Sie gaben gute Ratschläge. Als nächstes meldeten sich bei uns Leute von der Gewerkschaft SIPTU (Services, Industrial, Professional and Technical Union), die uns das sagten, was die meisten von uns eh empfanden – dass wir ausgebeutet würden und es Zeit wäre, uns zu organisieren! Sie ermunterten uns, massenhaft in die Gewerkschaft einzutreten, damit sie uns erfolgreich vertreten könnten. Von der SIPTU wusste ich schon seit einigen Monaten, ich hatte sogar schon die Mitgliedschaftserklärung abgegeben, aber Grafton als mein Arbeitgeber hatte meinen Beitritt blockiert. Später stellte sich heraus, dass sie dazu kein Recht hatten.
Was geschah dann?
In der nächsten Woche besuchte einer der wichtigsten SIPTU-Aktivisten unser Lager. Am Treffen mit ihm nahmen Zeitarbeiter aus allen drei Schichten teil. Der Typ kündigte an, dass sie uns helfen würden. SIPTU ist die größte Gewerkschaft in Irland, man hört oft von ihren Aktionen im Radio, in Bussen hängt Reklame von ihnen. Sie sind sehr aktiv. Sie haben uns schon in einigen kleinen Fragen geholfen, Nach einem Anruf von ihnen bei der Agentur Jobs (früher Job Shop) hatten die Jungs z.B. sofort ihre P-60-Abrechnung, die sie für den Lohnsteuerjahresausgleich brauchten.
Wie viele von Euch sind in die Gewerkschaft eingetreten?
Ich denke, dass inzwischen über die Hälfte der Zeitarbeiter bei Tesco in der SIPTU ist. Vielleicht zwei Drittel von uns. Viele zögern aber noch, einige sind nur für die Ferien zum Arbeiten hergekommen und fahren nach drei Monaten wieder in ihre Heimatländer. Andere haben Angst, sich zu weit herauszulehnen. Es gibt auch welche, denen die 3,75 Euro Mitgliedsbeitrag pro Woche zu schade sind. Sie begreifen nicht, dass sie dabei mehr gewinnen können. Zur Zeit wird in Irland an einem neuen Arbeitsrecht gearbeitet. Solche Situationen wie die, in der wir uns im Moment befinden, sollen verboten werden: dass wir genau dieselbe Arbeit wie die Festeingestellten machen, aber etwa 200 Euro die Woche weniger verdienen! Die SIPTU macht intensive Lobbyarbeit, um diese kranke Situation zu ändern.
Wie sieht im Moment Euer Alltag bei Tesco aus?
Die SIPTU bereitet im Moment eine Klage gegen die Agenturen Grafton und Jobs wegen der Gesamtheit ihrer Unregelmäßigkeiten vor. Die nächste Sache, die vors Arbeitsgericht geht, betrifft die Entlassung eines unserer Kollegen in der letzten Woche, der die auferlegte Norm nicht erfüllt hat. Das ist clever eingefädelt. Tesco meldet der Agentur, welche ArbeiterInnen gehen müssen. Die Agentur teilt dem Delinquenten auf sehr rüde Art mit, dass er nicht mehr arbeitet, zum Beispiel sagt sie ihm das morgens um sechs vor dem Tor vom Lager, wenn er sich in die Liste eintragen will. Es gab schon zwei solche Vorfälle. Rechtlich gesehen muss die Agentur dem Entlassenen eine andere Arbeit für mindestens denselben Lohn anbieten. Sie muss ihm auch die Ausfallzeit bezahlen, wenn sie keine Arbeit für ihn hat. Die wenigsten wissen das, und davon profitieren die Agenturen. Wenn du kein Urlaubsgeld einforderst, denken die von der Agentur ganz sicher nicht von allein dran!
Seit drei Wochen beträgt die Tagesnorm bei uns jetzt 1000 Kartons! Letztlich stellte sich heraus, dass unser Widerstand wenig erfolgreich und unsere Freude unbegründet war. Die Manager luden uns alle nacheinander zum Gespräch vor und sagten wie alte Freunde, wir müssten mehr schaffen und das sei ein Befehl von oben, auf den sie keinen Einfluss hätten. Sie würden uns ja mögen, aber wenn wir uns nicht anpassten, dann müssten sie uns austauschen. Und schließlich würden einige ja 1200 oder sogar 1400 schaffen, wieso könnten die anderen dann nicht mal 1000 picken? Damit kriegen sie viele rum, und immer mehr Jungs picken 1000. Und das überlastet unsere Wirbelsäulen wirklich! Es ist nur noch eine Handvoll von uns übrig, die konsequent bei 800 bleibt. Wir sind auf dem Sprung, aber wir zählen auf die Hilfe der Gewerkschaft.
Wie wird dieser Konflikt Deiner Meinung nach ausgehen?
Nach dem Erfolg der »T-Shirt-Aktion« wollte ich losschlagen und ein Agenturarbeiterkomitee bei Tesco gründen. Wir haben uns sogar nach der Arbeit getroffen, um drüber zu reden. Ich dachte an eine Pressekonferenz, um die Sache an die große Glocke zu hängen. Tesco hat Angst vor Kritik, das ist offensichtlich. Wenn rauskäme, wie sie mit den Arbeitern aus dem Osten umspringen, würde ihr sorgsam gepflegtes Image leiden. Aber die meisten aus unserer Clique meinten, das hätte keinen Sinn, gegen so einen Koloss kämen wir nicht an. Wir Radikalen sind nur eine Handvoll, gerade mal drei, die bereit sind, die Arbeit aufs Spiel zu setzen, um die Würde zu bewahren - und eine gesunde Wirbelsäule. Danach hatte sich die Idee mit dem Komitee erledigt. Aber ich denke, es bringt vielleicht auch etwas, sich auf die SIPTU zu verlassen. Das sind Profis. Sie haben Angestellte, Räume, Unterstützung im Volk. Als Anarchist bin ich nicht mit allem einverstanden, was die SIPTU von sich gibt. Und wenn mir die Agentur mitteilt, dass ich nicht mehr bei Tesco arbeite – vielleicht kette ich mich dann ja an den Gabelstapler. Seit sie einen von uns wegen Nichterfüllung der Norm entlassen haben, gehe ich wieder mit dem T-Shirt zur Arbeit: We are picking 800. No more. Ich bin entschlossen zum Widerstand bis zum Ende. Zum Glück hat mich das bei unseren Landsleuten verbreitete Sklavensyndrom noch nicht befallen!
Interview: Jarosław Urbański
aus: Wildcat 74, Sommer 2005