Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 00–00 [w74_polska.htm]



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ArbeiterInnen in Polen seit 1989


Während der Revolution von 1980/81 gehörte zu den wirtschaftspolitischen Forderungen der ArbeiterInnen auch die Einführung der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben. Diese Forderung galt nicht nur als notwendige Bedingung zur Durchführung einer Wirtschaftsreform, sondern sollte auch der Humanisierung der Arbeitsplätze und der Emanzipation des Individuums dienen. Die Arbeiterselbstverwaltung sollte das Ausbeutungssystem vollkommen umwälzen. Solidarność bat 1981 alle Gewerkschaftsgliederungen um »jede erdenkliche Unterstützung und Hilfe bei der Gründung von Arbeiterräten«, die unabhängig »von der Staatsverwaltung, politischen Organisationen und Gewerkschaften« sein sollten.

Für eine prokapitalistische Privatisierung der Wirtschaft gab es damals laut Umfragen keine Mehrheit. Nach einer 1980 noch vor dem Ausbruch des Generalstreiks in Polen durchgeführten Umfrage sprachen sich 56,9 Prozent der ArbeiterInnen bedingungslos für staatliche und gesellschaftliche Eigentumsformen aus, und nur 11 Prozent bezeichneten sich als entschiedene Befürworter der Privatisierung. 1990, d.h. nach der Systemtransformation von 1989 sprachen sich immer noch 23 Prozent der ArbeiterInnen für staatliches Eigentum aus. 48,9 Prozent bezeichneten sich als Befürworter einer – allerdings sehr beschränkten – Privatisierung des Handels und die Landwirtschaft. Die Privatisierung des Handels (die sogenannte kleine Privatisierung) vollzog sich unerhört schnell und stieß in der Gesellschaft allgemein auf Zustimmung, aber noch 1992 sprach sich eine Mehrheit (60 Prozent) der PolInnen dafür aus, die Großindustrie in den Händen des Staates zu belassen.

Diese Daten zeigen, dass die Zustimmung zur Privatisierung im Lauf der Zeit zunahm, aber sie war nie bedingungslos. Dass die Zustimmung zur Privatisierung mit der Zeit stieg, lag auch an der uneindeutigen Haltung der Solidarność. Schon 1985 nahm sie in ihr Programm Thesen auf, in denen sie sich für die Marktwirtschaft und damit letztlich für die Privatisierung aussprach. Den neoliberalen Eliten kam es ohnehin weder auf den Umfang noch auf den Grad dieser Zustimmung an. Der 1989 begonnene Privatisierungsprozess nahm einen spontanen, nicht durch die Gesellschaft kontrollierten Charakter an und wurde auch oft als »wilde Privatisierung« bezeichnet.

Soziale Folgen der Strukturveränderungen in Polen

1989 trug die Privatwirtschaft 20,4 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, heute sind es ca. 75 Prozent. Anfang der 90er Jahre gab es noch 8500 Staatsbetriebe, im Jahr 2000 nur noch 2400. Diese werden jetzt kommerzialisiert, d.h. in sogenannte »Gesellschaften der öffentlichen Hand« umgewandelt und zum Verkauf angeboten, meist an ausländische Konzerne. Die Privatisierung betrifft nicht nur Branchen wie Energieversorgung und öffentliche Verkehrsmittel, sondern auch Bildung und Gesundheitswesen privatisiert, wofür es nie gesellschaftliche Zustimmung gab.

Der Systemwandel hatte viele negative Folgen: 1990-91 fiel das BIP um fast 18 Prozent, und die Arbeitslosigkeit stieg auf zwei Millionen. Immer mehr Menschen lebten unter der Armutsgrenze. Die Reallöhne fielen um fast ein Viertel. Die Zahl der Straftaten stieg von 1989 bis 1990 um 60 Prozent. Und so weiter.

Die politischen Reformen, die Freiheit bei der Gründung von Vereinigungen, Gewerkschaften und politischen Parteien, die Abschaffung der Zensur und besonders die Wiedergewinnung der territorialen Souveränität hatten auch positive Folgen. Die wirtschaftspolitischen Änderungen nach 1989 führten definitiv zu spürbaren Verbesserungen im Bereich der kommunalen Infrastruktur, zum Beispiel wurden dank der Investitionspolitik der Gemeinden ca. 18 000 km Wasserleitungsnetz gebaut (eine Zunahme um 60 Prozent). Die Länge des Kanalisationsnetzes wuchs um ca. 24 Prozent, die des Fernwärmenetzes um über 113 Prozent. Die Zahl der Telefonanschlüsse stieg um über 44 Prozent usw.

Im Ganzen aber wurde die Transformation trotzdem gegen die Forderungen der Mehrheit der ArbeiterInnen durchgeführt. Das führte Anfang der 90er Jahre zu einer Zunahme der gesellschaftlichen Spannungen. Nach Angaben der staatlichen Statistikbehörde GUS beteiligten sich 1990 knapp 116 000 ArbeiterInnen an 250 Streiks. Laut Regierungsdokumenten »fanden 1991 im Verlauf von 10 Monaten 104 Demonstrationen meist friedlichen Charakters und geringer Reichweite statt«. 1991 wurde zum ersten Mal mit Gewalt gegen protestierende ArbeiterInnen vorgegangen, u.a. zur Niederschlagung eines Streik bei den Verkehrsbetrieben von Białystok, wo die ArbeiterInnen die Entlassung des Direktors, Lohnerhöhungen und Diskussionen über die Privatisierung des Betriebs forderten.

Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit

Zu den schmerzhaftesten Auswirkungen des Strukturwandels in Polen gehört das Ansteigen der Arbeitslosigkeit. Bei einer Analyse der Statistiken fallen die Unterschiede zwischen den 15 »alten« EU-Staaten, den »neuen« Mitgliedern und den »Beitrittskandidaten« ins Auge. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit in der EU betrug 2003 8,1 Prozent. In der Mehrheit der neu beigetretenen Staaten liegt das Niveau der Arbeitslosigkeit höher, v.a. in Polen (fast 20 Prozent) und der Slowakei.

Laut Volkszählungen von 1988 und 2002 gab es auch tiefgreifende Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur. Die Beschäftigungsquote sank von 65,2 auf 55,5 Prozent, dafür stieg der Anteil der nicht Berufstätigen um ca. 10 Prozentpunkte. Gegenwärtig leben 32,3 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre von Einkommen aus eigener Arbeit; 1988 waren es noch 45,4 Prozent, obwohl gleichzeitig der Anteil der Menschen im berufstätigen Alter an der Gesamtbevölkerung gestiegen ist.

Wegen der demographischen Entwicklung betrifft die Arbeitslosigkeit in erster Linie junge Menschen, die auf den Arbeitsmarkt kommen. Bei den 15- bis 24jährigen beträgt die Arbeitslosigkeit 29,4 Prozent. Am meisten Angst macht den Analytikern aber die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit auch zunehmend die Absolventen höherer Schulen betrifft. Bisher galt eine bessere Ausbildung als Schutz vor Arbeitslosigkeit. Hunderttausende von Jugendlichen studieren (Polen hat nach Finnland das höchste Schulbildungsniveau in Europa), aber gleichzeitig findet in vielen Regionen des Landes ein Drittel der HochschulabgängerInnen keinen Job.

Seit Ende 2003 steigt die Produktion in Polen langsam wieder (das BIP ist um 7 und die Industrieproduktion um 12,3 Prozent gestiegen), aber die Situation am Arbeitsmarkt bleibt schlecht. Die Firmen haben volle Auftragsbücher, aber die Arbeitsproduktivität steigt deutlich schneller als die Produktion und das wirtschaftliche Gesamtergebnis. Wir haben also ein sogenanntes jobless growth, d.h. ein Wachstum, das keine zusätzlichen Arbeitsplätze schafft.

Löhne und Einkommen

Glaubt man den Mythen der Politiker, sind an der hohen Arbeitslosigkeit vor allem die hohen Arbeitskosten und die mangelnde Flexibilität des Arbeitsmarktes schuld. Zum Beweis legen sie Statistiken vor, nach denen die Reallöhne steigen. Genauer betrachtet steigen mit der Privatisierung von immer neuen Sektoren der polnischen Wirtschaft aber nur die Gehälter der Chefs und der höheren Angestellten, während die Einkommen der normalen Büroangestellten und ArbeiterInnen sinken. Nach Angaben einer polnischen Wirtschaftszeitschrift aus dem Jahr 2002 liegen die polnischen Managergehälter um das Zehn- bis Fünfzehnfache über dem Durchschnittsgehalt im Land. »Nirgendwo in Europa«, kommentiert die Zeitschrift, »ist die Lohnspreizung so groß wie in Polen.« Ebenso wenig wird erwähnt, dass die Reallöhne in den ersten beiden Jahren der Strukturtransformation schon um bis zu 25 Prozent gefallen sind. Kaum irgendwo in Europa kostet die Arbeitskraft so wenig wie in Polen. In den privatisierten Branchen sind die Löhne deutlich niedriger als im staatlichen Sektor. So lag der Durchschnittslohn in der staatlich kontrollierten Bergbaubranche im Jahr 2003 bei 3801 Złoty (ca. 570 Euro), während er in der privatisierten Baubranche, im Handel und in den meisten Dienstleistungen fast um die Hälfte niedriger war; die Lehrergehälter betrugen durchschnittlich 2198 Złoty (ca. 330 Euro).

Die Arbeitslosigkeit und der Verfall der Löhne betrafen viele Berufsgruppen, führten zur Senkung des materiellen Existenzniveaus und ganz allgemein der Lebensqualität. 1989 lebten 15 Prozent der Gesellschaft unter der Armutsgrenze, 1996 schon 47 Prozent, heute sind es 58 Prozent. Diese Grenze ist definiert als Einkommen, das man braucht, um die für das Leben, für die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit nötigen Waren und Dienstleistungen zu erwerben und in gewissem Umfang an kulturellen Aktivitäten und am öffentlichen Leben teilzunehmen. Je nach Familiengröße liegt sie zwischen 500 und 800 Złoty (zwischen 111 und 177 Euro).

Gewerkschaften

In Polen gehören nach verschiedenen Daten und Zählungen zwischen 14 und 18 Prozent aller Beschäftigten (von insgesamt 13,2 Millionen) einer Gewerkschaft an. Dieser Anteil fällt seit vielen Jahren kontinuierlich. 1980 war die Solidarność eine Bewegung mit ca. 10 Millionen Mitgliedern, Anfang der 90er Jahre hatte sie noch 2,25 Millionen Mitglieder, und heute gehören ihr gerade noch 750 000 arbeitende Personen an. Der zweitgrößte Gewerkschaftsverband OPZZ, der Mitte der 80er Jahre als regimefreundliche Gewerkschaft entstand, hat ca. 730 000 Mitglieder. Der erst vor kurzem gegründete dritte Verband FZZ hat ca. 300 000 Mitglieder. Daneben gibt es verschiedene andere Gewerkschaften, die oft nur in einem einzigen Betrieb präsent sind, mit ca. 600 000 Mitgliedern.

Als Gründe für das Sinken der Mitgliederzahlen in der Gewerkschaftsbewegung werden am häufigsten die Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur genannt. Die früheren Gewerkschaftshochburgen Schwerindustrie und Bergbau sind nicht mehr die Sektoren mit der größten Beschäftigung. Inzwischen dominieren Handel und Dienstleistungen. In diesen Branchen aber unterscheidet sich die Arbeitsorganisation diametral von der Industrie. Die ArbeiterInnen im Handel und in den Dienstleistungen sind oft verstreut und sehr mobil und arbeiten in deutlich kleineren Gruppen. Im polnischen Bergbau z.B. gehören noch immer ca. 60 Prozent der ArbeiterInnen Gewerkschaften an, im Handel und in den Dienstleistungen aber nur sehr wenige (auf dem Bau z.B. 3 Prozent).

Der zweite und nicht weniger wichtige Grund, aus dem die Leute nicht Organisationen beitreten oder im Gegenteil aus ihnen austreten, ist der Verfall des Vertrauens in die Gewerkschaften. Dazu tragen auch die Verstrickung der großen Gewerkschaftsverbände in die politischen Spiele der Parteien und die in den Gewerkschaftsstrukturen weit verbreitete Korruption bei. Die 1989 begonnenen prokapitalistischen Reformen haben zu Massenarbeitslosigkeit, zum Abbau von Sozialleistungen und zum Sinken der Löhne der Fach- und BüroarbeiterInnen – der wichtigsten Basis der Gewerkschaften – geführt. Sogar die auf Druck der Solidarność im Jahr 2000 eingeführte und als Erfolg verkaufte Arbeitszeitsverkürzung auf 40 Wochenstunden hat sich als Fiktion herausgestellt, denn in Wirklichkeit arbeiten die Polen laut Umfragen über 45 Stunden pro Woche. Über die Hälfte der Arbeitgeber hält sich nicht an die Arbeitszeitvorschriften und zwei Drittel zahlen die Löhne nicht korrekt (vor allem zahlen sie nicht pünktlich). Insgesamt hat sich die Lage der ArbeiterInnen, die die Gewerkschaften eigentlich kompromisslos schützen müssten, verschlechtert.

ArbeiterInnenproteste 2002-03

2002-03 kam es zur größten Welle von Arbeiterprotesten seit 1989-91. Die unmittelbare Ursache dieser Bewegungen war die hohe Arbeitslosigkeit und die fatale Situation vieler von der Pleite bedrohter Industriebetriebe. Zusätzlich plante die Regierung unter dem Druck von EU und IWF viele tausend weitere Entlassungen im Stahlsektor und im Bergbau sowie Änderungen im Arbeitsrecht zu Lasten der ArbeiterInnen.

Das erste und vielleicht wichtigste Signal, dass die polnischen ArbeiterInnen mit ihrer Geduld am Ende waren, war der Protest der Szczeciner WerftarbeiterInnen. Sie organisierten sich außerhalb der Gewerkschaften und protestierten mehrere Monate lang zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze. Die Welle der Unzufriedenheit erfasste ganz Polen und viele Branchen. Mehrmals pro Woche gab es irgendwo Demonstrationen, Blockaden und Streiks. Auf die Straße gingen Bergleute, Stahlarbeiter, Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen, aus der Schwerindustrie und aus der Autoindustrie. Die Gewerkschaften bei der Eisenbahn und in Schlesien drohten mit Generalstreiks. Auf ein breites Echo stießen in Polen die Proteste bei Wagon in Ostrów, bei Tonsil in Września, bei Bison-Bial in Białystok und bei Uniontex in Łódź. Am 26. April 2002 protestierten in Warschau 70 000 Solidarność-GewerkschafterInnen gegen die Änderungen im Arbeitsrecht. Am 25. April 2003 forderten über 20 000 GewerkschafterInnen das Ende der Entlassungspolitik, die Wahrung der Arbeiterrechte, die pünktliche Auszahlung der Löhne und die Wiederherstellung der Arbeitslosenunterstützung und des Vorruhestandsgelds.

Am 11. September 2003 gab es einen gewaltsamen Protest von über 10 000 Bergarbeitern in Warschau. Fast unmittelbar nach Beginn der Bergarbeiterdemo begannen auch schon die Zusammenstöße mit der Polizei. Zuerst wurde am Sitz der SLD protestiert, wo Steine gegen das Gebäude flogen. Dann zog die – inzwischen verbotene – Demo zum Wirtschaftsministerium, wo es zu Zusammenstößen mit der zum Schutz des Regierungsgebäudes aufgezogenen Polizei kam. Nach Medienberichten setzten die Demonstranten Böller, Metallstöcke und Molotow-Cocktails und die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein. Die Fassade des Ministeriums wurde beschädigt. 40 Scheiben gingen zu Bruch. Bei den Auseinandersetzungen wurden 62 Polizisten verletzt, einige schwer. 22 Demonstranten wurden ärztlich behandelt, wenngleich die genaue Zahl der verletzten Demonstranten nicht bekannt ist.

Die größte Bedeutung für die öffentliche Meinung und die Eliten hatten aber die Ereignisse in Ożarów, wo im November 2002 nach über 200 Tage dauernden Protesten gegen die Schließung des dortigen Kabelwerks fünftägige Unruhen ausbrachen. Damals wurde klar, dass, wenn der Arbeitsmarkt sich selbst überlassen würde und noch weitere zigtausend Arbeitslose hinzukämen, die Situation außer Kontrolle geraten und Polen die argentinische Variante drohen würde.

Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik

Die Proteste führten zwar nur zu wenigen unmittelbaren Erfolgen, aber sie haben die Regierung zu einer wirtschaftspolitischen Kehrtwende bewegt und damit die Lage der ArbeiterInnen unterm Strich deutlich verbessert. Angesichts der Kritik und vor allem des Drucks der protestierenden ArbeiterInnen ließ sich die Behauptung, die Flexibilisierung des Arbeitsrechts und die Schließung von angeblich unrentablen Branchen seien vorteilhaft, nicht aufrechterhalten. Daher beschloss die Regierung im Jahr 2003, doppelt so viele Mittel für die Hilfe an in Schwierigkeiten geratene Betriebe zur Verfügung zu stellen wie in den Vorjahren. Der Staat zahlte den Betrieben 28 Milliarden Złoty und rettete damit hunderttausende von Arbeitsplätzen, zu deren Verteidigung die Protestierenden auf die Straße gegangen waren: 30 000 bis 60 000 nach unterschiedlichen Schätzungen allein in der Werftindustrie und 35 000 Stellen im Bergbau. Auch die Stahlbranche, wo 30 000 Beschäftigte entlassen werden sollten, erhielt bedeutende Beihilfen. Nicht nur große Firmen erhielten Hilfe vom Staat, sondern auch Kleinunternehmen mit insgesamt ca. 85 000 Personen! »Ein Berg öffentlicher Gelder in Schlamm verwandelt« – klagte die Überschrift der Gazeta Wyborcza vom 24. November 2004. Die Beihilfen führten dazu, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt sich nicht weiter verschlechterte und 2004 sogar verbesserte. Dazu kam das Wachstum der Konjunktur vor allem in der Stahl- und Bergbaubranche, für die Neoliberalen Bastionen der wirtschaftlichen Rückständigkeit und Verschwendung. Heute wird in der Werftindustrie und im Bergbau nicht nur nicht entlassen, sondern eingestellt.

Gegenwärtig sind die sozialen Proteste abgeflaut, was man vor allem mit den staatlichen Hilfen und der sich stabilisierenden Situation in vielen Branchen in Verbindung bringen muss. Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union aber werden staatliche Interventionen in dieser Größenordnung nicht mehr möglich sein. Auf dem EU-Gipfel in Stockholm vor einigen Jahren haben sich die Staaten der Gemeinschaft verpflichtet, öffentliche Hilfen auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen. In Polen haben sie 2003 aber 3 Prozent betragen! Die Anpassung an die EU-Bedingungen könnte zu den nächsten wirtschaftlich-sozialen Problemen und zur nächsten Welle von ArbeiterInnenprotesten führen, besonders wenn das Wirtschaftswachstum nicht zur Entstehung neuer Arbeitsplätze führt und der westeuropäische Arbeitsmarkt nicht den Großteil der polnischen Arbeitslosen absorbiert.

Politisches Erdbeben

Die steigende Unzufriedenheit der ArbeiterInnen führte auch zur größten politischen Krise seit 1989: Die beiden großen Regierungsparteien AWS und SLD werden bei den nächsten Wahlen wahrscheinlich nicht wieder ins Parlament einziehen. Die Eliten suchen jetzt ein neues politisches Programm, um die Legitimation des herrschenden Systems zu verlängern. Sowohl die neoliberale PO als auch die konservativen PiS und LPR bedienen sich revolutionärer Rhetorik. Die PO will einen grundlegenden politischen Wandel im Sinne Piłsudskis; Die PiS verspricht eine Regierung der harten Hand und will die 3. Republik durch eine 4. Republik ohne Korruption und Nomenklatur-Apparate ablösen; die LPR tritt noch autoritärer auf als die PiS und lässt zum ausdrücklichen Beweis die Schlägertrupps der Młodzież Wszechpolska aufmarschieren.

Natürlich berührt diese Rhetorik die ArbeiterInnen wenig und das Interesse an den diesjährigen Parlamentswahlen ist niedriger denn je in den letzten 15 Jahren (und es war noch nie allzu hoch). Wahlenthaltung lässt sich also auch als politische Antwort der Arbeiterklasse auf den Pomp der da oben verstehen. Wenn sich konkrete Veränderungen daran messen lassen, dass sie Arbeit und Lebensunterhalt garantieren, dann erwartet die Mehrheit der Polen vor allem eine Revolution in der Organisation des Wirtschaftssystems.

Jarosław Urbański




Solidarność: Niezależny Samorządny Związek Zawodowy Solidarność (Unabhängige selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität)

OPZZ: Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych (Gesamtpolnischer Gewerkschaftsverband)

FZZ: Forum Związków Zawodowych (Gewerkschaftsforum)

AWS: Akcja Wyborcza Solidarność – Wahlaktion Solidarność: aus der gleichnamigen Gewerkschaft hervorgegangenes Parteienbündnis, das von 1997 bis 2001 an der Regierung war.

SLD: Sojusz Lewicy Demokratycznej – Union der demokratischen Linken: Bündnis »linker« Parteien und der Gewerkschaft OPZZ, das sich 1999 zur Partei konstituierte und seit 2001 an der Regierung ist.

PO: Platforma Obywatelska Bürgerplattform.

LPR: Liga Polskich Rodzin – Liga der polnischen Familien.

PiS: Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit, oder auch: Recht und Justiz.

Młodzież Wszechpolska – Allpolnische Jugend: Jugendorganisation der LPR.

Józef Piłsudski: Zunächst Sozialist, dann nach der Unabhängigkeit Polens 1919 Staatspräsident bis 1923, führte 1920 Krieg gegen die Sowjetunion, nach Staatsstreich 1926 bis zu seinem Tod 1935 »Marschall« in einer rechten, antisemitischen Diktatur.



aus: Wildcat 74, Sommer 2005



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