Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 50–51 [w74_silver.htm]
Arbeiterunruhe im Weltsystem
Zwischenstand einer beginnenden Debatte
Beverly J. Silver, Forces of Labor – Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870.
Berlin – Hamburg 2005 (Assoziation A), ISBN 3-935936-32-X, 284 Seiten, 18 Euro
Nachdem im April das Buch Forces of Labor von Beverly J. Silver (siehe Besprechung in Wildcat 67) auf Deutsch erschienen ist, kam die Autorin Anfang Juni für eine Woche nach Deutschland, um ihr Buch vorzustellen und darüber zu diskutieren.
ArbeiterInnen auf der Suche – die »Entdeckung« von Macht
In den Veranstaltungen tauchte immer wieder die hier in der Linken stark diskutierte Frage der Prekarisierung auf: Können sich neue Kämpfe mit einem neuen Subjekt entwickeln, die die Grenzen der traditionellen Vergewerkschaftlichung sprengen, oder – so die »Postfordismus«-These – sind die neuen Arbeitsstrukturen und Beschäftigungsformen derart zersplittert, dass sie das endgültige Ende von Klassenbewegungen bedeuten? Silver hält es nicht für möglich, von heute aus solche Vorhersagen zu treffen. Sie wies aber auf eine Parallele hin: Auch zu Beginn der »fordistischen« Produktionsweise waren Linke und Sozialwissenschaftler überzeugt, dass das Fließband mit seinen multinational zusammengewürfelten Belegschaften den ArbeiterInnen jegliche Machtbasis entziehen und das endgültige Ende ihrer Bewegungen bedeuten würde. Erst nachdem die ArbeiterInnen in den Sit-Down-Streiks der 30er Jahre »entdeckt« hatten, dass sie mit dem Fließband als »kollektiver Gesamtarbeiter« über eine viel größere Macht dem Kapital gegenüber verfügten, weil es durch die arbeitsteilige Verkettung der Produktionsschritte ungleich verwundbarer durch kleinste Arbeiteraktionen geworden war, begannen auch die Linken und die Sozialwissenschaftler ihre Ideen über die neue Produktionsweise zu ändern. »Warum sollten wir in den nächsten Jahren nicht einen ähnlichen Perspektivenwechsel erleben, der dann auch die gesamte Einschätzung der Prekarisierung ändern würde?« Im Buch versucht sie, das mögliche Machtpotential der ArbeiterInnen in einigen ausgewählten Sektoren abzuschätzen. Bei genauerer Analyse stecke hinter dem oberflächlichen Anschein von Zersplitterung in vielen Fällen ein höherer Grad von Zentralisation des Kapitals. Auf den Veranstaltungen wies Silver auf die Grenzen theoretischer Vorhersagen hin. Letztlich komme es darauf an, ob und wie die ArbeiterInnen selber die Grundlagen ihrer Macht entdeckten: »Das ist ein Prozess des Experimentierens, des Ausprobierens.«
Kritik des Triumphalismus
Silver hält die strukturelle Macht der ArbeiterInnen aufgrund ihrer Stellung in der Produktion für geschichtsmächtiger als ihre auf Organisierung, Politisierung oder einem bestimmten Bewusstsein beruhende Macht (da sei ihre Sichtweise stark von Piven und Cloward geprägt). Aber trotz des optimistischen Grundtons, den viele in ihrem Buch entdecken, ist sie mit Vorhersagen über die gradlinige Weiterentwicklung dieser vom 19. zum 20. Jahrhundert definitiv gewachsenen Arbeitermacht vorsichtig geworden. 1984 hatte sie zusammen mit Giovanni Arrighi in dem Artikel Labor Movements and Capital Migration den Grundgedanken vom Anwachsen der weltweiten strukturellen Arbeitermacht entwickelt: Kapitalverlagerungen schwächen die Arbeiterklasse nicht als ganze, sondern nur lokal, und tragen durch die Verbreitung der neuen Produktionsweise dazu bei, dass die Arbeitermacht im kapitalistischen Weltsystem insgesamt zunimmt. Diese optimistische Einschätzung habe sich mit der schweren Krise der globalen Arbeiterbewegungen in den 90er Jahren nicht mehr halten lassen. Die Betonung der gegenläufigen, schwächenden Tendenzen, z.B. durch Spaltungen und Grenzziehungen, die gleichermaßen von oben wie aus der Arbeiterklasse selber kommen, sei eine selbstkritische Weiterentwicklung.
»Der finanzielle fix ist etwas völlig anderes …«
Den Hauptgrund für die globale Schwäche der Arbeiterbewegungen sieht Silver aber in der Finanzialisierung des Kapitals seit den 80er Jahren (der »finanzielle fix«). Sie stellte das auf den Veranstaltungen besonders heraus, weil ihr schon nach den ersten Gesprächen aufgefallen war, dass die Darstellung im Buch dies nicht deutlich genug macht. Das vierte Kapitel, das ursprünglich etwa die Hälfte des ganzen Buches ausmachen sollte, sei zu konzentriert geworden. Sie kann aber auf das 1999 von ihr und Arrighi veröffentlichte Buch Chaos and Governance in the Modern World System verweisen, in dem die Bedeutung und Theorie der Finanzialisierung des Kapitals anhand von drei hegemonialen Übergangsphasen herausgearbeitet wird.
Im Gegensatz zu den anderen drei fixes (räumliche Verlagerungen, technologisch-organisatorische Umstrukturierungen und Wechsel des Kapitals in neue Industriesektoren), die als permanente Prozesse liefen, trete der finanzielle fix nur in den Umbruchphasen der globalen Hegemonie auf. Das Kapital ziehe sich dann teilweise aus Produktion und Handel zurück und könne – für einen begrenzten Zeitraum – »Gewinn« aus Finanzspekulationen und Vermittlungstätigkeiten erzielen. Die bereits absteigende hegemoniale Macht, also heute die USA, könne dadurch eine »Renaissance« ihrer dominierenden Stellung im Weltsystem bewirken, ihren endgültigen Niedergang aber nur hinausschieben, nicht verhindern. Während die ersten drei fixes die Arbeitermacht auf Systemebene nicht schwächten, sondern sogar zur Ausweitung der strukturellen Machtbasis der ArbeiterInnen führten, sei der finanzielle fix mit einer globalen Schwächung verbunden. Den Sozialwissenschaftlern, die deshalb das endgültige Ende der Arbeiterklasse als soziales Subjekt verkünden, hält Silver allerdings entgegen, dass der finanzielle fix temporär sei. Er könne zwanzig oder dreißig Jahre andauern, den Niedergang der Welthegemonie und die damit einsetzende Phase systemischen Chaos' aber nicht ewig hinausschieben. Heute sei es angesichts der riesigen Zahlungsbilanzdefizite der USA eigentlich schwieriger, zu erklären, warum die US-Wirtschaft und mit ihr die Weltwirtschaft noch nicht zusammengebrochen sei, als diesen Zusammenbruch zu prognostizieren.
Überraschende Ergebnisse
Auf Nachfrage berichtete Silver, ihre Datensammlung seit 1870 habe nicht nur ihre Annahmen bestätigt, sondern habe etwas Überraschendes und Erklärungsbedürftiges ergeben. Ihre Thesen zur tendenziellen Stärkung der Arbeitermacht durch räumliche Verlagerung und technische Umstrukturierung seien durch die Datensammlung im wesentlichen bestätigt worden. In der Kurve der weltweiten Arbeiterunruhe habe es aber zwei Spitzen gegeben: direkt nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonders die nach dem Zweiten Weltkrieg sei – vor allem in der Peripherie – höher und länger als erwartet gewesen. Daran sei ihnen klar geworden, wie wichtig der Zusammenhang zwischen Klassenkämpfen und Krieg ist. Dies sei der Anstoß gewesen, die Kämpfe der ArbeiterInnen nicht nur mit »ökonomischen« Entwicklungen, sondern auch mit den großen weltpolitischen Zyklen in Zusammenhang zu bringen.
Beverly Silver kam daher immer wieder auf die neue Kriegspolitik der USA zu sprechen. Sie verfolgt sehr genau die Entwicklungen im Irak und die Probleme, mit denen die USA dort konfrontiert sind. Vor allem gelinge es ihnen nicht mehr, genügend »Freiwillige« für ihre Berufsarmee zu finden. Und nun habe der verstärkte Einsatz von Werbeoffizieren an den Schulen dazu geführt, dass Eltern eine Kampagne von Gegenwerbern entwickelt hätten, die sich offensiv den Anwerbeversuchen entgegenstellten.
Die Veranstaltungstour
Einige grundlegende Fragen standen im Raum, blieben in den Veranstaltungen aber undiskutiert: etwa die Frage nach einem als spröde empfundenen Materialismus, der die Frage von politischer Organisierung oder Klassenbewusstsein scheinbar völlig ausklammert, oder die Frage, ob und wann der »historische Kapitalismus« möglicherweise auf sein historisches Ende als Gesellschaftsform stößt – was Beverly Silver als eine Möglichkeit andeutete, über die sich aber schwer spekulieren lasse.
Einige LeserInnen hatten sich irritiert geäußert, dass aus dem Wildcat-Umfeld ein eher akademisches Buch herausgegeben und beworben wird, in dem kein Wort von Revolution steht und das politisch extrem zurückhaltend ist. Auch das Herangehen an die Weltpolitik und die Weltgeschichte von einem »operaistischen« Ansatz, der die lokalen, oft kaum sichtbaren Arbeiterkämpfe mit den langfristigen Tendenzen auf weltpolitischer Ebene zusammenbringt, wirkt ungewohnt und sperrig. Die Diskussion um diesen Ansatz hat hier allerdings gerade erst begonnen.
Forces of Labor enthält viele Anregungen, wo theoretisch und in praktischer Untersuchung weiterzumachen ist. Diese Einschätzung hat sich in Silvers Vorträgen und Diskussionsbeiträgen bestätigt – sie hat Schwerpunkte verschoben, auf Probleme im Buch hingewiesen und ihre neue Beschäftigung mit China betont. Und vor allem hat sie immer wieder hervorgehoben, wie sehr die »Erkenntnisfortschritte« der Sozialwissenschaften auf der Entwicklung der Klassenkämpfe selber beruhen.
In den Veranstaltungen sprach die Autorin auch freimütig über Mängel der Darstellung und die Entwicklung ihrer Ideen in einem Prozess der »ständigen Selbstkritik« (schade, dass darauf im Buch kaum eingegangen wird, denn das hätte einige der zentralen Gedanken verständlicher gemacht).
c+r
Weiterführende Literatur:
Frances Fox Piven, Richard Cloward, Aufstand der Armen, Frankfurt 1986.
Piven und Cloward haben an vier sozialen Bewegungen der USA herausgearbeitet, dass Organisationen im Gegensatz zur Behauptung vieler Linker nicht die Voraussetzung von Kämpfen sind, sondern nur das Erbe oder die Versteinerungen von sozialen Aufständen und Bewegungen.
Giovanni Arrighi hat in der New Left Review Nr. 32/33 einen neuen Artikel »Hegemony Unravelling« über den Niedergang der amerikanischen Hegemonie veröffentlicht, in dem es auch um das Andauern des »Vietnam-Syndroms« geht.
Beverly J. Silver, Arbeiterbewegung, Krieg und Weltpolitik: Die gegenwärtige Dynamik aus welthistorischer Perspektive, Vortrag in Linz, September 2003
aus: Wildcat 74, Sommer 2005