Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 49–51 [w75_banlieues_soziale_frage.htm]



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… man erwartete den Islam und den Terrorismus.
Gekommen ist die soziale Frage.

Was GenossInnen in Frankreich diskutieren



Das französische Fernsehen hat die Ereignisse niedriger gehängt als die Berichterstattung im Ausland. Aber auch in Frankreich wurde tagelang ein Spektakel serviert: behelmte Bullen und kleine Gruppen zündelnder Jugendlicher, die sich gegenseitig provozieren. Ein Katz- und Mausspiel.

300 Gemeinden in 25 Departments waren von den Unruhen betroffen. Schwerpunkte waren Vorstädte von Paris, Evreux, Saint-Etienne, Toulouse und Lille. Insgesamt waren vielleicht 15 000 Leute beteiligt, aber bis auf den Anfang in Clichy waren immer nur ein paar Dutzend junge Männer gemeinsam aktiv, die darauf bedacht waren, direkten Konfrontationen mit der Polizei auszuweichen. Am 6.11. in Grigny/Essonne waren es auch mal 200. Die übrigen Leute aus dem Viertel haben sich nicht angeschlossen. Es gab kaum Plünderungen.

Angezündet oder verwüstet wurde so ziemlich alles, was im eigenen Stadtviertel rumsteht: viele Abfallbehälter und Wartehäuschen, Autos und Linienbusse, Kindergärten, Schulen, andere öffentliche Gebäude, ein MacDo, ein Wohnheim für Immigranten, ansonsten Lagerschuppen und Läden. D.h. die Angriffe waren nicht gegen Personen gerichtet, sondern eher symbolischer Natur: gegen die Schule, weil sie nicht zum versprochenen Aufstieg führt, gegen Busse, weil es ständig Zoff mit den Kontrolleuren gibt. Die Angriffe fanden so gut wie alle in den Vorstädten statt, nicht in den Vierteln der Reichen oder in den Innenstädten.

Die Jugendlichen wenden die Gewalt, die ihnen zugefügt wird, gegen die Welt um sie herum: gegen ihre Nachbarn, deren Autos sie anzünden, oder die anderen Proletarier. Ihre Revolte hat klare Grenzen. Sie ist ohnmächtig und perspektivlos. Aber das gilt für die gesamte soziale Bewegung. Treffend sagte es ein Jugendlicher gegenüber einem Reporter: »Wir haben keinen Hass. Wir revoltieren!« Die Revolte an sich hat keinen positiven Wert und die Revolte um der Revolte willen erschöpft sich bald von selbst. Aber ohne Revolte gibt es keine Subversion. Wo Revolte ist, ist auch Hoffnung.

Es gab auch richtig beschissene Aktionen. So wurden Busse mit Mollies in Brand gesetzt, in denen Leute saßen, die sich gerade noch retten konnten. Eine Frau im Rollstuhl wurde dabei schwer verletzt. Ein Rentner, der einen Brand löschen wollte, wurde von jungen Männern so geschlagen, dass er unglücklich hinfiel und starb. Es waren irrationale und verantwortungslose Gewaltausbrüche, wie sie in allen Revolten und Revolutionen verkommen, was man im Falle eines Sieges leicht vergisst.

Es waren keine Auseinandersetzungen zwischen Banden, wie es der Innenminister anfangs behauptete. Die Drogenhändler haben üblicherweise enge Beziehungen zur Polizei. Und einige waren offensichtlich bemüht, das von ihnen kontrollierte Gebiet ruhig zu halten bzw. die Bullen rauszuhalten.

Es war eine vereinte Revolte gegen den Staat, nicht gegen Individuen oder Gruppen. Die Klassenverachtung von oben hat eine wichtige Rolle gespielt. Hier wird nicht die Banlieue verhandelt, sondern die ganze Gesellschaft. Es haben sich durchaus Werte wie Solidarität oder Kampf um Würde gezeigt. Im Gegensatz zu den USA oder England (ethnische Gruppen gegeneinander) reagiert die Banlieue immer noch als eine Gemeinschaft von Ausgebeuteten, als Klasse. Aber die Jugendlichen stecken in dem Widerspruch, dass sie sich einerseits total mit ihrer Marginalisierung identifizieren, andererseits Gleichheit und Gerechtigkeit, das Ende ihrer Ausgrenzung einfordern.

Manche sagen, so jung seien die Revoltierenden noch nie gewesen (10-18 Jahre). Die meisten der Festgenommenen sind allerdings älter. Es gab aber wohl eine offensichtliche Lücke zwischen den jungen Akteuren und ihren »älteren Brüdern«, die außerhalb standen und weitgehend machtlos der Explosion zusahen. Gegenüber der Polizei unterstützten sie dann natürlich ihre kleinen Brüder und versuchten, die Situation zu beruhigen. Die Jungen revoltieren auch deshalb, weil sie sehen, dass es ihre älteren Brüder trotz aller Anstrengungen zu nichts bringen in dieser Gesellschaft.

Von den Festgenommenen haben 90 Prozent einen französischen Pass, mehr als ein Drittel sind keine Kinder von Einwanderern. Vor allem im Norden (Lille) waren vorwiegend weiße Franzosen beteiligt. Dies zeigt, dass es eine soziale, keine ethnische Auseinandersetzung ist.

Es ging auch nicht um Religion. Im Gegensatz zu Anfang der 90er Jahre spielten die religiösen Führer keine aktive Rolle in den Revolten. Die Bärtigen machten eher die Clowns zwischen CRS-Bullen und brennenden Autos. Die radikalen Islamisten haben an so einem Chaos und den damit einhergehenden Polizeikontrollen auch kein Interesse. Eine Gruppierung sprach gar eine Fatwa gegen gewaltsame Aktionen aus – sehr zum Ärger liberaler islamischer Organisationen, die vor einer Konfessionalisierung des Konflikts warnen.

Wo waren die Frauen?

Mädchen oder junge Frauen waren nicht an den nächtlichen Aktionen beteiligt, unter den Festgenommenen ist keine einzige Frau. Mädchen halten sich selten auf der Straße auf, schon gar nicht nachts. Sie werden von ihren älteren Brüdern »beschützt« im doppelten Sinn des Wortes. Die Schule ist für sie die Gelegenheit, um rauszukommen. Die Rolle der Mädchen ist die übliche: wichtig, aber unsichtbar. Auf den Demos und als Unterstützung bei den Prozessen sind sie stark präsent.

Selbstorganisation?

Ein ganz neues Phänomen war die Verkettung der Aktionen und ihre rasche Ausbreitung im ganzen Land, was die Frage nach den Organisations- und Kommunikationsformen stellt, die über die einzelnen Ghettos hinausgehen. Wir wissen so gut wie nichts darüber. Es gab keine Erklärungen, keine Flugblätter der Akteure, keine Debatten mit den Beteiligten. Wir wissen nur, dass die Polizei verschiedene Websites gesperrt hat, auf denen u.a. Rezepte für Molotow-Cocktails veröffentlicht wurden. Und offensichtlich sind Gruppen von jungen Leuten in Vierteln aktiv gewesen, in denen sie nicht wohnen.

Es ist auch wenig bekannt über »positive« Formen von Selbstorganisation der Bewohner der Viertel während der Unruhen. In einigen Vierteln waren wohl jede Nacht Gruppen von Eltern und Bewohnern unterwegs, zeigten Präsenz auf der Straße, redeten mit den Jugendlichen, dass sie die Bullen nicht provozieren sollten. Diese hielten sich deutlich zurück, wenn Erwachsene in der Nähe waren.

»Wegkärchern!«

Die Jugendlichen haben ein gemeinsames Bewusstsein darüber, dass dieses System ihnen nur Repression zu bieten hat. Ihre Revolte machte die Grenzen einer rein repressiven Behandlung der proletarischen Überbevölkerung deutlich.

Die Regierung schürte in der Bevölkerung die Angst vor dem »Gesindel« aus den Vorstädten und setzte ihren Zero-Tolerance-Kurs fort. Sie ließ demonstrativ Bereitsschaftspolizei in massiver Stärke in den Cités aufmarschieren, die allen Ansammlungen von Jugendlichen auf die Pelle rückten und durch ständige Personenkontrollen provozierten. Diesmal hat die CRS (Bereitschaftsbullen) wohlüberlegt nicht scharf geschossen. (Die Studentenbewegung 1986 hatte sich schlagartig radikalisiert, nachdem die Bullen auf einer Demo den Studenten Malik erschossen hatten. In fast jedem der jetzt »aktiven« Viertel hat die Polizei in den letzten Jahren junge Männer erschossen und entsprechende Reaktionen gekriegt.)

Bis zum 30. November wurden 4770 Leute festgenommen, die Hälfte davon nach Ende der Unruhen. Der Anteil der »Ausländer« bzw. Einwanderer ohne Papiere entspricht dabei mit 7,5 Prozent ihrem Anteil an der Bevölkerung Frankreichs. 422 wurden von Schnellgerichten schon zu Haftstafen verurteilt, 577 wurden dem Jugendrichter vorgeführt. Die höchste bisher verhängte Haftstrafe (vier Jahre) bekam ein 20jähriger für Brandstiftung.

Die Häftlingszahlen sind in Frankreich in den letzten 15 Jahren um 39 Prozent in die Höhe gegangen. Die Zahl der in den Vorstädten eingesetzten Sicherheitskräfte steigt ebenfalls. Im Rahmen des Jugendbeschäftigungsprogramms wurden z.B. ein Zehntel der etwa 350 000 Stellen, mit »Sicherheitshilfskräften« und Mediatoren besetzt.



Bericht eines Lehrers

»Seit jenem Tag weiß ich, dass ich fähig bin zu töten. In echt zu töten. Wäre ich in diesem Moment dazu in der Lage gewesen, ich hätte es gemacht.« Der dies am 7. November in meiner letzten Philosophiestunde äußert, ist kein eingesperrter »Wilder«, »Gesindel« oder brandschatzender Halbstarker, sondern einer meiner besten Schüler in der Abschlussklasse im Gymnasium von Stains, Seine-Saint-Denis. Er erzählt uns gerade mit sich überschlagender Stimme, wie er sich letzten Sommer bei einer »Personenontrolle« in seinem Wohnblock unter Zwang öffentlich ausziehen musste und aus heiterem Himmel gedemütigt wurde. Ein Polizist tätschelte ihm selbstgefällig grinsend den Hintern mit den Worten: »Da stehste drauf, was, kleine Schwuchtel, flenn doch ein bisschen vor deinen Kumpels!«. David hat in der Tat geheult. Verdacht auf Drogenhandel im Viertel … Diese »Personenkontrolle« hatte keinerlei Folgen. Sein Arzt hat ihm Beruhigungsmittel verschrieben. Er weiß nichts oder so gut wie nichts von den Ereignissen dieses feurigen Novembers: »Ich schaue kein Fernsehen, weil ich weiß, dass ich sonst nicht schlafen könnte … und in Gefahr wäre mitzumischen.« Er steht kurz vor dem Abi.

Bilal regt sich auf: Schon zum dritten Mal fordert ihn der Lehrer heute auf, in der allgemeinen Unruhe während des Unterrichts den Platz zu wechseln. Entnervt verlässt er – laut auf einen Tisch klopfend und die Tür schlagend – das Klassenzimmer.

Disziplinarstrafe: Gewalt und Bedrohung eines Lehrers, endgültiger Schulausschluss. Ich verteidige ihn später auf der Lehrerkonferenz: Der Schulrektor verringert die Strafe auf einen Monat Schulausschluss mit Bewährung.

17. September. Ein Anruf. Einer meiner Schüler von vor fünf Jahren: »Kennen Sie einen guten Anwalt? – Ja schon, aber warum? Was ist dir passiert? – Man hat mir gesagt, dass ich in Revision gehen soll … – Revision! Aber gegen wen oder was?« Er erzählt: Eine Firma in der Gepäckabfertigung auf dem Flughafen Roissy will ihn einstellen. Dazu braucht er ein Führungszeugnis der Gemeinde. Verweigert. Grund? Er wird verdächtigt, 1995 »gewalttätig in ein Schulgebäude eingedrungen zu sein«. Damals war er 14 und begleitete einen Freund, der einen Verwaltungsvorgang in der Schule zu erledigen hatte.

Was ist passiert? Irgendjemand Durchgeknalltes hat aus irgendeinem Grund die Bullen gerufen, die die beiden am Eingang aufgehalten haben, und die – sie kennen ihr Geschäft – haben sie erst nach über einer Stunde wieder laufen lassen. So waren sie in die Akten geraten. Zehn Jahre später bedeutet das für Omar, die Bewilligung verweigert zu bekommen, in Roissy zu arbeiten … Er hofft auf ein Revisionsverfahren vor dem Kammergericht.



collective bargaining by riot?

Einige Intellektuelle wie Emmanuel Todd oder André Glucksmann sahen in den Revolten die »normale französische Art der Integration«. Wir halten das für eine falsche Übertragung von anderen sozialen Kämpfen (wenn die Gewerkschaften die Arbeiter zündeln lassen, während sie verhandeln). Die Jugendlichen haben nichts gefordert, der Staat hat rein repressiv geantwortet.

Mit dem Maßnahmepaket, das mit großen Pomp am 8. November verkündet wurde, rückt die Regierung zwar von ihrem Kurs der Streichung von Geldern für die Problemviertel ab, aber es ist klar ein »antiproletarisches Paket«, das da geschnürt wurde. Ein Schwerpunkt liegt auf Maßnahmen, die unter 25jährigen in den »zones sensibles« in Arbeit zu bringen. Langzeitarbeitslose, die eine Arbeit annehmen, bekommen eine Prämie von 1000 Euro und ein Jahr lang 150 Euro monatlich. 20 000 neue Jobs für Jugendliche sollen geschaffen werden. Die Schulpflicht wird verkürzt: mit 14 Jahren statt mit 16 können Unternehmen in Zukunft Jugendliche in die Lehre nehmen. Dabei zahlen sie einen um 50-70 Prozent verminderten Mindestlohn. Das ist das Ende der Einheitsschule und führt dazu, dass die Kinder armer Familien eine noch schlechtere Ausbildung bekommen. 15 neue steuerbegünstigte Gewerbegebiete wurden ausgewiesen. An den 1200 Collèges der Problemviertel werden 5000 neue Stellen geschaffen – allerdings nur Betreuungs- und Aufsichtspersonal, keine Lehrerstellen. Die Zahl der Stipendien wird von 20 000 auf 100 000 erhöht, für vielversprechende und motivierte Jugendliche sollen gar zehn Internate eröffnet werden …

Mit 100 Millionen Euro zusätzlich sollen die vom Staat unterstützten 14 000 Vereine gestärkt werden, die in den Problemvierteln neutralisierend wirken: die Regierung hat erkannt, dass sie sonst keine Vermittler mehr hat. 2000 neue Planstellen für die Polizei gehören auch dazu.

Die schlimmsten Wohnblöcke sollen abgerissen werden – die Brände im Sommer, bei denen Einwanderer aus Afrika starben – sind der beste Vorwand dafür; die BewohnerInnen können sehen, wo sie bleiben, v.a. wenn sie keine Papiere haben. Das Einwanderungsrecht wird verschärft. Geplant ist, im nächsten Jahr 25 000 Einwanderer ohne Papiere auszuweisen. Die Familienzusammenführung wird erschwert, eine Heirat führt nicht mehr automatisch zum Recht auf Aufenthalt. Ausländische StudentInnen werden einer strengeren Vorauswahl unterworfen. Die Ankündigung, das Polygamieverbot streng zu kontrollieren, haut dann noch einmal in die rassistische Kerbe. So wird die »soziale Frage« zu Problemen verschiedener Minderheiten, die gesondert behandelt bzw. denen mit harter Hand begegnet werden muss.

Die Regierung fühlt sich durch die Zustimmung der »öffentlichen Meinung« in ihrer harten Linie bestätigt und versucht, auf dieser Welle weiter zu reiten. Die Sozialistische Partei hat sich seit Jahren dem »Sicherheitsdiskurs« angeschlossen, für sie gibt es kein Zurück zu einer anderen Einwanderungs- oder Sozialpolitik.

Ein paar tausend neue Niedriglohnjobs für Jugendliche, Verschönerungsmaßnahmen an den Wohnblocks oder eine neue Sporthalle werden nichts an dem Grundproblem ändern: eine proletarische Überbevölkerung von ein paar Millionen Menschen, die sich auf europäischem Niveau reproduzieren will und keine Sklavenbedingungen mehr akzeptiert. Die Revolte wurde durch staatliche Gewalt unterdrückt. Sie nicht vorbei.





Geografie der Riots (Wikipedia)
Seine-Saint-Denis
Clichy-sous-Bois
Grafik

Flashballs: Gummigeschosse mit 44mm Durchmesser, im Internet beworben als Flashball® – L‘ârme à létalité atténuée/ The less lethal weapon = die weniger tödliche Waffe!



aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006



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