Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 3 [w75_editorial.htm]
»Ruinen machen uns keine Angt«
Offiziell 1200 Tote, eine Million Obdachlose und 100 Milliarden Dollar Schadensbilanz, das waren die verheerenden Folgen – nicht so sehr der beiden Hurrikane Katrina und Rita, die im vergangenen Sommer New Orleans heimsuchten, sondern vor allem der absolut miesen Vorbereitung auf dieses vorhergesehene Ereignis und des staatlichen Umgangs mit den Betroffenen. New Orleans wurde am 29. August weitgehend zerstört. Wir haben einen Schwerpunkt zusammengestellt, der die Hintergründe, die sozialen Auswirkungen und die Selbsttätigkeit der betroffenen Menschen beleuchtet. (S. 18-34). Entgegen den sozialdemokratischen Utopien, wonach der Kapitalismus Schritt für Schritt den Lebensstandard aller Menschen hebt, waren in der revolutionären Tradition immer Vorstellungen verbreitet, dass der Kapitalismus zusammenbricht, dass die Herrschenden lieber alles kaputt machen, als kampflos abzutreten…
»Alle reden vom Wetter – wir nicht« war als Motto der Bahn in den 60er Jahren dermaßen bekannt, dass der SDS es damals zu dem weltberühmten Plakat (mit den Köpfen von Marx, Engels und Lenin!) umdrehen konnte – der kapitalistische Mythos der Naturbeherrschung auf der einen, der revolutionäre Anspruch, der auf eben dieser kapitalistischen Naturbeherrschung den »Sozialismus aufbauen« wollte, auf der anderen Seite. Das hat sich gründlich geändert.
»Wir wissen, dass wir nichts als Ruinen erben werden, denn die Bourgeoisie wird in der letzten Phase ihrer Geschichte versuchen, die ganze Welt in Ruinen zu verwandeln.«
Ruinen gab es in den letzten Jahren nicht nur durch Hungersnöte, Kriege und Tsunamis im »Süden« der Welt – zerstörte Großstädte, flächendeckende Stromausfälle und landesweite Revolten in den Vorstädten zeigen, dass die (soziale) Infrastruktur des kapitalistischen Gefüges auch in den Metropolen nicht mehr funktioniert. Aber obwohl Riots in der Geschichte oft die Vorläufer von breiten, revolutionären Bewegungen waren (in den 60er Jahren die Ghettoaufstände in den USA, Piazza Statuto in Italien …), hatte fast niemand ein revolutionäres feeling bei den wochenlangen Riots in den Banlieues. Wir haben französische GenossInnen gefragt, warum das so ist. Außerdem haben wir Auszüge aus alten Wildcat-Artikeln zu Riots reloaded, aus Zeiten, in denen Aufstände noch sehr viel positiver erlebt wurden (S. 46-57).
Heute haben viel mehr Leute das Gefühl, ausgebeutet zu sein, als vor 25 Jahren. Aber dieses Wissen, das früher ein treibendes Element der Arbeiteridentität ausmachte, wird heute zum Gefühl, verarscht zu werden. In Zeiten von »Geiz ist geil!«, von Ich-AGs, prekären Jobs und »Eigenverantwortung« erlebt man es individuell, ohne Anbindung ans Kollektiv.
Vor diesem Hintergrund gedeihen Verleumdungen. Gegen die BewohnerInnen von New Orleans wurde in den Medien massiv die Lüge von organisierten Vergewaltigungen im Superdome verbreitet. Gegen die Revoltierenden in den Banlieues wurde behauptet, sie seien von Drogenbossen gesteuert. Tage und Wochen später stellen sich die Lügen raus – dann ist es aber zu spät; politisch haben sie funktioniert! Und sie konnten funktionieren, weil sie an den Spaltungen und Vorurteilen innerhalb der Klasse andocken können; die meisten können sich vorstellen, dass es stimmt – die Idee, dass grundlegende Umwälzungen »von unten« ausgehen müssen, hat in diesen Zeiten nicht viel Kraft. Auch deshalb setzen wir uns im Heft mit grundlegenden Verleumdungen auseinander (S. 39 ff.) und mit den modischen Versuchen, sich einen »Marxismus« ohne Klassenkampf zu basteln (S. 12 ff.)
»Aber ich sage Ihnen noch einmal, uns, den Arbeitern, machen die Ruinen keine Angst, denn wir tragen eine neue Welt in unseren Herzen. Und diese Welt wächst in diesem Augenblick.« (Durruti)
Sie wächst vor allem in den Kämpfen, wie widersprüchlich diese auch sein mögen. Im Heft findet sich ein breites Spektrum: die rohe Arbeitergewalt bei Indesit (S. 35 ff.), der Streik bei Gate Gourmet (S. 6 ff.), der gewerkschaftlichen Tarifkampf (S. 4 f.) … und eben auch die Riots in Frankreich und die Versuche der Leute in New Orleans, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen, sich gegen Vertreibung zu wehren.
aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006