Wildcat Nr. 75, Winter 2005/2006, S. 12–15 [w75_heinrich01.htm]
Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie
Mathematischer Kapitalismus...
… romantischer Antikapitalismus
Michael Heinrich:
Kritik der politischen
Ökonomie. Eine Einführung.Schmetterling Verlag, Stuttgart 2004.
234 Seiten, 10 Euro.
ISBN 3896575880
Marx ist wieder ›in‹. Die Liste der Neuveröffentlichungen zu Marxscher Theorie ist so umfangreich wie lange nicht mehr. Das neue Interesse an Marx begleitet dabei eine Hinwendung der Linken zur Realpolitik, für die die Existenz der Linkspartei und die Avancen auch aus den Reihen der ›radikalen Linken‹ an jene Partei deutliche Belege sind. Marx allerdings war kein Theoretiker des bürgerlichen Staates oder der Beteiligung an ihm. Er bietet keine Theorie der kapitalistischen Gesellschaft, die sich einfach so für reformistische Realpolitik benutzen ließe, sondern eine Theorie des Konflikts, des Kampfes, eine Theorie von Krise und Revolution. Diesen Marx kann der neue Reformismus nicht brauchen; er braucht einen Marx, der von allen Vorstellungen unlösbarer Widersprüche – Antagonismen – befreit ist, einen Marx, der sich die realen Produktions- und mithin Ausbeutungsverhältnisse nicht allzu genau ansieht, einen Marx, dem die Sprengkraft genommen ist, die in der Erkenntnis steckt, dass der grundlegende Widerspruch um die Enteignung der Arbeit im Zentrum der kapitalistischen Verwertung steht.
Michael Heinrichs »Kritik der politischen Ökonomie«
Ohne ein Befürworter staatsbezogener Hoffnungen zu sein, liefert Michael Heinrich in seinem Buch Kritik der politischen Ökonomie eine Einführung ins Marxsche Werk, genauer ins Kapital, die genau diese Bedingungen erfüllt. Positiv sei hervorgehoben, dass Heinrich eine angenehm zu lesende und verständliche Abhandlung präsentiert, in der er viel Mühe darauf verwendet, die verschiedenen Ebenen getrennt zu halten und sich nicht in Details verliert. In dieser Stärke liegt aber leider auch die Schwäche des Buches. Heinrich stellt die kapitalistische Verwertung als einen logischen, mathematisch zu analysierenden Prozess dar.
Während Marx den kapitalistischen Verwertungsprozess als ein Kampfverhältnis zwischen ›Kapital und lebendiger Arbeit‹ beschreibt, drückt Heinrich dieses Kampfverhältnis wie überhaupt den ganzen realen Produktionsprozess an den Rand. Er stellt stattdessen eine Tauschgesellschaft dar, deren wesentliche Verhältnisse sich mittels Bruchrechnen und Äquivalententausch erklären lassen. Dem entspricht die Formulierung Heinrichs, Marx habe versucht, »zu zeigen, wie das Kapital funktioniert«. Damit degradiert er Marx zu jenem »besseren Ökonomen«, als den er ihn an anderer Stelle gerade nicht verstanden wissen will. In seinem Versuch, Fehler und Irrtümer von Marx zu diskutieren, entsorgt er ihm unlogisch erscheinende Versuche, etwa die Gebrauchs- und Tauschwertseite des Kapitals im Begriff der organischen Zusammensetzung zusammenzudenken. Das passiert nicht zufällig. In Heinrichs Darstellung gibt es gar keine Gebrauchswertseite des Kapitals, er betrachtet den Produktionsprozess nicht qualitativ. Auch deswegen erscheint bei ihm das Kapital als ein potentiell unendlicher und nicht notwendig krisenhafter Prozess von Produktion und Reproduktion, von Angebot und Nachfrage, von (Tausch-)Wert und Zirkulation desselben.
Wert als Substanz oder Geltungsverhältnis
Heinrichs Buch bricht in einen bislang von der Krisis-Gruppe dominierten Bereich ein. Entsprechend wichtig ist ihm die Kritik an deren wertsubstanzialistischer Sichtweise. Vor allem die Vorstellung, der Wert ließe sich an einer einzelnen Ware festmachen, oder aber repräsentiere die zur Herstellung dieser individuellen Ware notwendige Arbeitszeit, kritisiert Heinrich zurecht, denn sie verbaut oft den Blick darauf, dass der Wert Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses ist. Im Wert manifestiert sich nicht einfach, dass ›menschliche Arbeit‹ in den Dingen steckt, sondern dass diese Arbeit innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse als Lohnarbeit geleistet wurde – deren eigene Produktivität und Macht sich ihr als Produktivität des Kapitals und Wert entgegenstellt. Diesen Punkt verpasst Michael Heinrich. Er bleibt bei der (richtigen) Feststellung stehen, der Wert einer Ware sei nur in Bezug auf die Gesamtheit der Waren zu fassen, insofern die in der Ware vergegenständlichte Arbeit nur als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit gilt.
Um scharf gegen den Substanzialismus zu argumentieren, lässt Heinrich den Wert nur im Moment des Tausches kurz aufblitzen: vorher ist er zwar irgendwie ›da‹, aber er lässt sich nicht bestimmen, die Wertgröße zeige sich erst im erfolgreichen Austausch, mithin im Verkauf der Ware, wenn klar wird, wieviel der vergegenständlichten Arbeit als gesellschaftlich notwendig gilt. Heinrich verrennt sich im anderen Extrem: der Wert ist ein reines Geltungsverhältnis, das sich nur in einer befriedigten Nachfrage nach der Ware zeigen kann.
Es ist richtig, dass der Wert auf der Ebene des Tausches nur einen kurzen Moment real ist. Aber auf dieser Ebene lässt er sich nicht begreifen, sondern nur im Kreislauf des Kapitals. Marx schreibt: »Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als eine bloße Abstraktion betrachten, vergessen, daß die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist.« (MEW 24, 109) Im Produktionsprozess erst tritt uns der Unterschied zwischen Gebrauchswert und Wert »aktiv« entgegen, so Marx. »Es sind nicht mehr wir, die ihn machen, sondern er wird im Produktionsprozess selbst gemacht.« (Resultate, S. 21) Damit ist auch gesagt, dass die Wert-bestimmung vor der Behandlung des Produktionsprozesses eine gedankliche Reflexion ist, die wir machen.
In der Darstellung des Produktionsprozesses greift Heinrich dann selbst auf ein substanzialistisches Bild zurück – und das muss er auch: der Wert der Maschinerie übertrage sich auf die mit ihr hergestellten Waren. Wie sich diese Bewegung eines reinen Geltungsverhältnisses denken ließe, ist schwierig nachzuvollziehen.
Abstrakte Arbeit
Heinrich diskutiert den Begriff der abstrakten Arbeit ausführlich. Er versteht ihn als Sohn-Rethel‘sche ›Realabstraktion‹. Die Arbeit werde erst durch den Tausch abstrakt: Im Vollzug des Tauschs abstrahieren die Tauschenden nämlich von der Verschiedenheit ihrer Arbeiten. Diese Argumentation passt zu Heinrichs Versuch, das Tauschverhältnis oder den Tauschvorgang ins Zentrum seiner Wert-Analyse zu stellen. »Abstrakte Arbeit« ist nicht die Eigenschaft einer Arbeit, besonders monoton und entfremdet zu sein, sondern ihre Abstraktheit ergibt sich erst aus dem Produktentausch. Wenn die Arbeit allerdings nur in diesem Sinne abstrakt wäre, warum sollte man dann von einem ›Doppelcharakter‹ sprechen, den die Arbeit im Kapitalismus annimmt?
In seinem Bemühen, wertsubstanzialistische Positionen zu kritisieren, abstrahiert Heinrich an dieser Stelle dann gleich ganz von der Realität, gerade so, als ob er den Kapitalismus von allen historischen und lokalen Zufälligkeiten und Verunreinigungen befreit sezieren könnte. Er übersieht im Bemühen, zu erklären, dass mit ›abstrakt‹ nicht ›entfremdet, langweilig, unter der Despotie des Meisters‹ gemeint sei, dass die Arbeit im Kapitalismus viel unmittelbarer ›abstrakt‹ ist: sie ist Lohnarbeit. Und in diesem Sinne, nämlich Arbeit für Lohn zu sein, deren Produkt den Produzenten herzlich egal sein kann – und es ja oft genug auch ist –, werden alle Arbeiten auf eine andere Art ›abstrakt‹. Dieser Abstraktionsprozess, die Unterwerfung der Arbeitskraft unter den Tauschwert, ist aber eng verbunden mit einer despotischen und gewalttätigen Produktionsweise, in deren Verlauf die Produzenten fortwährend der Grundlagen ihres eigenen Lebens enteignet werden.
Die Abstraktion erklärt sich nicht aus dem Tausch, sondern umgekehrt: Weil im Kapitalismus ein allseitiger Zusammenhang der voneinander verschiedenen Arbeiten existiert, so dass die einzelne Arbeit nur als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit zählt, als »bloße Organe der Arbeit« (MEW 13, 18) lässt sich so etwas wie Wert – also die abstrakte Seite der kapitalistischen Arbeit – überhaupt denken. Und erst vor diesem Hintergrund der »allseitigen Entäußerung der Arbeit«, verallgemeinert sich der ›Tausch‹. Die »allseitige Entäußerung der Arbeit« – die Lohnarbeit – ist die Voraussetzung für den Wert. Der abstrakte Charakter der Arbeit entsteht durch die Organisation des Produktionsprozesses, die den allseitigen Austausch erzwingt, nicht aber durch den Austausch als solchen.
Diese Frage ist zentral: leben wir in einer Tauschgesellschaft, deren bestimmendes Merkmal der allseitige Äquivalententausch ist, oder in einer Klassengesellschaft, deren Wesen darin besteht, die Produzenten beständig von den Mitteln der Produktion zu trennen, ihnen die Kontrolle über die Reproduktion ihrer materiellen Bedingungen zu nehmen und sie damit fortgesetzt zum Arbeiten oder Hungern zu zwingen? Was steht im Zentrum dieser Gesellschaft? Der Kampf, die Konfrontation oder der gleiche und gerechte Tausch?
Klassenkampf oder Lohnkampf
Die ganze Darstellung Heinrichs läuft auf ein Kapital hinaus, das eigentlich funktionieren könnte. Es gibt Äquivalententausch, es gibt keinen tendenziellen Fall der Profitrate, es gibt irgendwie die Harmonie der (Tausch-)Verhältnisgleichungen. Der Klassenkampf, dem er ab der zweiten Ausgabe doch ein ganzes Kapitel widmet, kommt im Buch als etwas dem Kapital äußerliches vor. Heinrich fasst ihn lediglich in den kapitalistischen Fetischformen, die ihrerseits ja schon die Vermittlung des Konflikts darstellen: Klassenkampf ist für ihn Lohnkampf, das Klassenverhältnis ist das Lohnverhältnis.
Sachen wie Maschinensturm, Sabotage, Leistungszurückhaltung, Betriebsbesetzungen, Kämpfe um job control, wilde Streiks, oder gar der alltägliche Kleinkrieg fallen aus solchen Betrachtungen komplett raus – wiederum im Gegensatz zu Marx, der nicht nur im Kapital immer wieder auf den alltäglichen Widerstand gegen die Arbeitsabpressung, die Insubordination, den Maschinensturm usw. zu sprechen kommt.
Heinrich und die übergroße Mehrheit der deutschen ›radikalen Linken‹ übersehen zwei Punkte:
- wenn das Klassenverhältnis als gesellschaftliches Verhältnis gefasst wird, in dem den meisten Menschen gewaltsam die Mittel zu ihrer eigenen Reproduktion und also die Kontrolle über ihr eigenes Leben vorenthalten werden, ist Klassenkampf der Kampf gegen diese Vorenthaltung, gegen die Abtrennung von den Reproduktionsmitteln und um die Kontrolle im Produktionsprozess. Das umfasst nicht nur den Kampf um mehr Lohn, sondern die Auseinandersetzung um die Abpressung der Arbeit, den Kampf gegen die Arbeit, den Kampf gegen das Diktat der Chefs und der Maschinen, den Kampf gegen die Warenförmigkeit aller Lebensgrundlagen (Mietstreiks, Besetzungen, Aneignungsbewegungen). Der Kampf gegen die Arbeit stellt ganz andere Fragen als der Kampf um mehr Lohn, er stellt Fragen nach einer anderen Produktionsweise, nach einer anderen Gesellschaft…
- aber auch im Kampf um den Lohn passieren zwischen den Kämpfenden Prozesse, die Fragen nach dem Wie und Wozu kapitalistischer Produktionsweise stellen, die Kämpfenden sind gezwungen, sich selbst zu organisieren, ohne die Kontrolle der Meister, sie entdecken, dass sie selbst es sind, die die Produktion kontrollieren können. Die Sprengkraft eines Kampfs um Lohn oder gegen Entlassungen liegt womöglich nicht so sehr im erreichten oder nicht erreichten Ziel des Kampfes, sondern im Verlauf desselben, einem Prozess, in dem die Fetischformen des Kapitals schwächer werden, gerade weil diese Leute dabei sind, ihr Leben selbst zu organisieren.
Wenn der Klassenkampf der kapitalistischen Verwertung aber nur als äußerliche Daseinsbedingung auferlegt ist und nur als Verteilungskampf existiert, dann ist er auch verhandel- und regulierbar. Das Hauptproblem der kapitalistischen Verwertung ist dann, ob sich die produzierten Güter verkaufen lassen; und vor dem Hintergrund eines funktionierenden Verwertungsprozesses lässt sich mit den Lohnforderungen der ArbeiterInnen irgendwie umgehen.
Wird aber der Klassenkampf als etwas gefasst, das im Produktionsprozess selbst beheimatet ist, wird die alltägliche Insubordination, die Verweigerung, die Sabotage in den Blick genommen, dann wird klar, dass der Klassenkampf den Produktionsprozess formt. Die kapitalistische Technologie, die Organisation der Produktion und die Maschinerie sind selbst Formen des Kampfes gegen die Aufsässigkeit und Verweigerung der Arbeit. Die technische Entwicklung des Kapitals richtet sich zuvorderst gegen die ArbeiterInnen, entzieht ihnen die Kontrolle über die Produktion, enteignet sie von ihrer Arbeit und ihrem Leben. Dieses ist die wesentliche Daseinsbedingung des Kapitals und der Ort, an dem das passiert, ist die Fabrik.
Konkurrenz, Maschinerie, Dienstleistung
Weil Heinrich das Kapital nur als ein System von Einzelkapitalen und Tauschbeziehungen behandelt, kann er die treibende Kraft der technologischen Entwicklung nicht in der Notwendigkeit, die Arbeitskraft immer wieder neu unterzuordnen, sehen. Deswegen ist es bei ihm der Hunger des einzelnen Kapitalisten nach ›mehr‹, nach Extraprofit – bei Strafe des Untergangs –, der das Kapital vorwärts treibt. Bei Heinrich steht die Konkurrenz im Mittelpunkt kapitalistischer Entwicklung, etwas, das gar nicht überraschen muss, denn dieses Verständnis ist common sense, es ist das Bewusstsein des Bürgers von seiner Welt, in der er mit allen anderen zuallererst in einer Konkurrenzbeziehung steht.
Marx dagegen analysiert das Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis, als ein Produktionsverhältnis, in dem eine Klasse von Besitzlosen gezwungen ist, für die Bedürfnisse des Kapitals zu produzieren. Eine Notwendigkeit des Kapitals besteht in der beständigen Entwertung der Arbeit, in der Produktion von »relativem Mehrwert«, die durch die technologische Intensivierung des Arbeitsprozesses erreicht wird. Die Konkurrenz, das Verhältnis der Einzelkapitale, ist hierfür zunächst gar nicht von Belang, sie erklärt sich vielmehr erst aus den Verlaufsformen dieses Prozesses.
»Die Art und Weise wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußeren Bewegung des Kapitals erscheinen, sich als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend machen und daher als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zu Bewusstsein kommen, ist jetzt nicht zu betrachten, aber soviel erhellt von vornherein: Wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz ist nur möglich, sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist.« (MEW 23, 335)
Heinrich macht es sich zu leicht, indem er vom Alltagsbewusstsein des individuellen Kapitalisten ausgeht. Denn die von diesem Bewusstsein als so bedrohlich wahrgenommene Konkurrenz ist ›nur‹ die »Erscheinungsform« einer – so Marx im Kapital – »allgemeinen und notwendigen« Tendenz, den Wert der Arbeitskraft zu senken. Wenn das aber so ist, kann sie diese Tendenz nicht erklären.
Weil Heinrich nur das individuelle Streben des Einzelkapitals nach Extraprofit gelten lassen mag, ist es ihm auch völlig gleichgültig, auf welche Art und Weise die kapitalistische Produktion organisiert ist (oder ist es umgekehrt?). Weil ihm entgeht, dass die Ausweitung des relativen Mehrwerts eine »allgemeine und notwendige Tendenz« des Kapitals ist, versteht er auch nicht, warum industrielle Produktion, warum die Fabrik im Zentrum der kapitalistischen Entwicklung steht. Ohne eine Analyse des Produktionsprozesses und ohne ein Verständnis des Klassenkampfs in diesem Prozess ist der Wert eben nur das gesellschaftliche Geltungsverhältnis, in dem sich die individuellen Einzelarbeiten aufeinander beziehen. Das gilt für industrielle Arbeit ebenso wie für Dienstleistungsarbeit. Punkt. So glaubt Heinrich z.B. Hardt/Negri beizukommen, indem er darauf verweist, mit dem Übergang von einer »industriellen zu einer Dienstleistungsgesellschaft« oder von der »materiellen zur immateriellen Produktion« sei auf der Wertebene nichts passiert (S.42). Die Crux an einer »Dienstleistungsgesellschaft« wäre aber eine ganz andere: wie lässt sich die Ausweitung der relativen Mehrwertproduktion in einer Dienstleistungsproduktion vorstellen? Bislang hat dieser Prozess seine Heimat in der industriellen Sphäre, in der Fabrik, in der Anwendung der Maschinerie auf großer Stufe. Mal abgesehen vom ideologischen und/oder Wahrheitsgehalt der Behauptung einer »Dienstleistungsgesellschaft« wäre die Frage: kann sich das Kapital als Klassenverhältnis qua Dienstleistungsproduktion überhaupt als Herrschaftsverhältnis reproduzieren?
Resümee
Heinrichs Kritik der politischen Ökonomie schafft es nicht, eine Einführung in das kritische Denken Karl Marx‘ zu geben. Die sterile und um Vermeidung verwirrender Details bemühte Darstellung lässt genau den springenden Punkt in der Marx‘schen Theorie außen vor, nämlich das Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis, als Ausbeutungsverhältnis, als Klassenverhältnis zu fassen. Heinrich liefert eine Einführung in die marxistische Werttheorie auf mathematischer Ebene, ohne den sprengenden Widerspruch des Kapitals zu verstehen. Er ist wie einer jener englischen Mechaniker, von denen Marx in einem Brief an Engels schreibt: »Für die bloßen Mathematiker sind diese Fragen gleichgültig, aber sie werden sehr wichtig, wo es sich darum handelt, den Zusammenhang menschlicher Gesellschaftsverhältnisse mit der Entwicklung dieser materiellen Produktionsweisen nachzuweisen.« (MEW 30, S. 212)
Weil Heinrich das Kapital als harmonische allseitige Tauschbeziehung erscheint, kann er es auch gar nicht aus sich selbst heraus kritisieren. Nicht weil das Kapital die tägliche widersprüchliche und verrückte Enteignung unseres Lebens ist, wird es von Heinrich kritisiert, nicht weil es zu seiner Auflösung drängende Tendenzen gibt, in denen sich die mögliche Emanzipation der Menschen von den sie beherrschenden Verhältnissen ausdrückt. Nein, Heinrichs Kritik ist eine andere: der Kapitalismus macht alles kaputt, die Natur geht vor die Hunde, die Staaten zetteln immer neue Kriege an. Seine Begründung für den Kommunismus ist eine rein moralische Ablehnung der um ihn herum vor sich gehenden Zerstörungen, ein romantischer Reflex, aber eben nichts, das sich heute als Tendenz ausmachen ließe, nichts, das er aus der Entwicklung des Kapitalverhältnisses lesen könnte. Das steht in eigenartigem Widerspruch zu seiner ständig wiederholten Beteuerung, der Kapitalismus sei nicht moralisch zu kritisieren – passt aber andererseits zu den globalisierungskritischen Bewegungen des letzten Jahrzehnts…
Georg Fülberth:
G Strich – Kleine Geschichte des Kapitalismus; (Papyrossa, Köln, 2005, 314 Seiten, 19.80 Euro.)Eine Mode greift um sich: der Marxismus, gereinigt vom Klassenkampf. Fülberth ist vom ersten Satz seines Buches an ganz explizit: »Es wird hiermit eine neue Weise der Erkenntnisgewinnung vorgeschlagen: ›Kapitalistik‹, die Wissenschaft vom Kapitalismus.« Dabei gehe es »um die Erörterung der Möglichkeiten und Grenzen, der Vor- und Nachteile des Kapitalismus. … Es kömmt bei dieser Erkundung nicht sofort drauf an, die Welt (…) zu verändern, sondern zu verstehen.« (S. 7 f.)
»Wie lange es den Kapitalismus noch geben wird, wissen wir nicht. Nehmen wir einmal … an, er … hätte noch fünfhundert Jahre vor sich… Politik könnte in dieser Zeit darin bestehen, 1. die Gefahren dieses Gesellschaftssystems … zu blockieren und 2. dafür zu sorgen, dass jene anderen Potentiale genutzt werden, die sich im Kapitalismus zur Erleichterung des menschlichen Lebens (vor allem durch Naturwissenschaft, Technik und Medizin) bislang entwickelten.« (S. 300)
Ein äußerst schwaches Fazit für einen der bekanntesten Vertreter des »bundesdeutschen Beamtenmarxismus« (das Zitat ist von ihm selber). Nett ist allerdings die lakonische und präzise Art, mit der er die Leserin – historisch und theoretisch – durchs Thema führt.
Lob an den Verlag: Sehr schön gemachtes Buch!
Literatur:
Karl Marx:
Das Kapital, Band I (1867)
in: Marx-Engels-Werke, Band 23.Das Kapital, Band II (1885)
in: Marx-Engels-Werke, Band 24.Zur Kritik der politischen Ökonomie,
in Marx-Engels-Werke, Band 13.Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses,
Neue Kritik, Frankfurt/M., 1969.
aus: Wildcat 75, Winter 2005/2006