Wildcat Nr. 76, Frühjahr 2006, S. 00–00 [w76_template.htm]



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Morgens bei der Streikversammlung im Krankenhaus …

… sitzt ein ganz alter, weißhaariger Mann – seit vielen Wochen Patient im bestreikten Krankenhaus – hochgereckt auf dem Stuhl vorne am Eingang und spielt auf dem Akkordeon die Internationale, fantastisch gut, schnell, er improvisiert über das Thema! Nach triumphierenden Schlußakkorden erklärt der Streikleiter den Anwesenden ein paar historische Zusammenhänge, die Internationale sei das Kampflied der streikenden Arbeiter der Pariser Commune gewesen, die von französischen und preußischen Truppen niedergemetzelt wurde. Nach einem weiteren Redebeitrag eines Gastredners zur historischen Bedeutung des Streiks im Öffentlichen Dienst (gähn) spielt der Meister ein zweites Stück (fetz!) und verabschiedet sich dann, er muss auf die Station zurück. Danach entwickelt sich eine spannende Diskussion: Sollen wir weiter streiken? wie? Wie stehen die KollegInnen auf den Stationen dazu? Wie können wir den streikenden Müllarbeitern beistehen? Wer kommt mit zur Aktion am Theater? Wer kann morgen früh Flugblätter in Degerloch verteilen, um die streikenden Kita-Erzieherinnen zu unterstützen?

Ist Europa mitten drin in der größten Streikwelle seit Jahrzehnten? Mehrere Streiks in der BRD gleichzeitig (wann gab es das zum letzten Mal?), immer wieder Aktionstage in Frankreich, Generalstreik der britischen Staatsbediensteten, Generalstreik in Griechenland…

Auf den ersten Blick lässt sich erkennen, dass die Kämpfe nicht europaweit sind: In Deutschland historisch hohe Wahlenthaltung bei Landtagswahlen, in Frankreich wird gestreikt und auf der Straße gekämpft. Die Große Koalition plant eine zweijährige Probezeit für alle und es geschieht nichts – in Frankreich große Auseinandersetzungen gegen den Versuch der Regierung, das gleiche für Leute unter 26 einzuführen. Auf den zweiten Blick lässt sich erkennen, dass auch die Bewegung in Frankreich voller Widersprüche steckt.

»Wenn sich die wilden Streiks vervielfachen, sich von der Fabrik auf die Straße ausweiten und zu einem offenen oder untergründigen Aufstand werden, kommt der Moment, wo die direkte Aktion mehr soziale Genugtuung verschafft als die Objekte der Konsumgesellschaft.« Solche Gedanken werden eher in Frankreich formuliert – im Rückblick auf die riots in den Banlieues – in der BRD eher nicht. Hier liegt der Öffentliche Dienst vom Tariflohn und der Arbeitszeit her inzwischen unterm europäischen Durchschnitt. Trotzdem löst ein historischer Entscheidungskampf der dort Beschäftigten kaum gesellschaftliche Solidarisierungen aus.

In defensiven Streiks steckt eine teuflische Ambivalenz: Entweder man verliert richtig, und dann sind womöglich auf Jahre hinaus die Möglichkeiten zu einer Wiederaufnahme des Kampfs verbrannt. Oder man erreicht einen gewissen Kompromiss. Eine solche Haltelinie würde aber womöglich eine der gefährlichsten Illusionen der deutschen Gewerkschaften schüren: es könne ein neuer sozialer Kompromiss unterhalb des bisherigen Niveaus erreicht werden. Diese Illusion war und ist die stärkste Triebfeder beim freiwilligen Abbau. Der geht so weit, dass Gewerkschaften einen Tariflohn von 3,18 Euro abschließen (Friseurhandwerk in Thüringen) – das ist ein Bruttomonatslohn von 511 Euro!

Gerade als wir das schreiben, kommt im Radio, dass Ministerpräsidnet Wulff nach seinem Treffen mit Bsirske bei der Merkel vorsprechen will, damit die sich dafür einsetzt, dass die Meistbegünstigungsklausel aus dem TVöD gestrichen wird, weil die alles blockieren würde, vor allem einen Abschluss bei den Ländern; in der Konsequenz drohe die TdL auseinanderzufliegen. [Siehe zu diesen Zusammenhängen Artikel und Interview zu den Streiks im Öffentlichen Dienst]

»Die wirtschaftliche Erholung in Osteuropa hat erstmals seit dem Beginn der Transformation vor 15 Jahren in fast allen Ländern der Region zu einem Aufbau von Beschäftigung geführt«, meldete die Financial Times Deutschland am 17. Februar mit Bezug auf die neuen EU-Staaten. Und kaum fängt dieser Prozess an, kommt – zumindest in Tschechien – auch schon wieder das Ende der Fahnenstange in Sicht: Genossen aus Prag beschreiben, dass die Autoindustrie als neuer »ziehender Sektor« schon jetzt keine Arbeitskräfte mehr findet. In Polen und der Slowakei, wo die Autoindustrie ebenfalls kräftig expandiert, war die Talsohle mit einer Arbeitslosigkeit von 19 bzw. 18 Prozent viel tiefer. Trotzdem bleiben dem nur wenige Jahre, um neue Produktionskapazitäten in Osteuropa zur Erpressung der ArbeiterInnen im Westen zu nutzen. In der Zwischenzeit gehen hier die Angriffe auf den Lohn, die Arbeitszeit und die Arbeitsbedingungen allerdings weiter, wie Kollegen von VW aus Braunschweig im Interview berichten.

Nicht auslagern können sie die Hausarbeit – dafür werden illegale Migrantinnen eingestellt. Das nimmt zu und ist auch ökonomisch ein wichtiger Faktor. Zu diesem Komplex haben wir einen Artikel und eine Buchbesprechung.

Aufweichungen und Vertreibung in New Orleans: Es ist Frühling, im Golf von Mexiko fängt die Hurricanesaison wieder an. Noch laufen in Louisiana Flickarbeiten an den Schutzdämmen – ihr Zustand wird aber noch eine ganze Weile hinter dem zurück bleiben, den sie vor dem Landgang Katrinas hatten. Sie sind aufgeweicht wie das Image von Ray Nagin, dem farbigen Bürgermeister. Die Wahrscheinlichkeit, dass er gegen einen seiner beiden weißen Konkurrenten bei den Wahlen im April verliert, ist hoch…

Im letzten Heft hatten wir auch einen Artikel über die Turbulenzen am Ölmarkt in der Folge von Katrina. Seit Jahren gäbe es in jedem Heft Neues zu berichten über Klassenkämpfe in den Ölfördergebieten. In Nigeria gibt es zum Beispiel immer wieder Kämpfe um die Verteilung des Ölreichtums. Anfang des Jahres lieferte sich das »Movement for the Emancipation of the Niger Delta« (MEND) Kämpfe mit der Armee und griff mehrere Ölpumpstationen an. Schon vorher hatten sie einige ausländische Ölarbeiter als Geiseln genommen, um die Freilassung inhaftierter Anführer durchzusetzen. Die Ölförderung wird immer fragiler. Zeitweise musste im Februar die normale Fördermenge um ein Fünftel gekürzt werden.

In Ecuador wurde im März in den Öl produzierenden Amazonasprovinzen der Notstand ausgerufen. Damit versucht die Regierung, einer massiven Bewegung von Arbeitern der Firma Petroecuador Herr zu werden. Erreicht hat sie bislang aber eher das Gegenteil: Aus dem ganzen Land werden nicht nur immer größere Demonstrationen, Blockadeaktionen und Besetzungen gemeldet, sondern auch immer massiverer Widerstand gegen die Versuche, die Bewegung mit Militärgewalt zu unterdrücken. Am 7. März wurden bei einer derartigen Konfrontation 25 Soldaten als Geiseln genommen.

Viele, die sich dem Protest angeschlossen haben, stellen nun politische Forderungen, unter anderem die Suspendierung des Beitritts Ecuadors zum (US-) amerikanischen Freihandelsabkommen (FTA). Wie schon in den letzten Jahren in Bolivien, organisieren sich auch in Ecuador mittlerweile viele der Armen als »Indigenas« und verbinden den Kampf gegen konkrete Zustände mit einem Kampf für politische Rechte. Polizei und Armee haben Ende März um die Hauptstadt Quito eine Art Belagerungsring gelegt: Alle Fahrzeuge werden kontrolliert. Alle Menschen, die »indianisch« aussehen oder im Verdacht stehen, sich an den Protesten beteiligen zu wollen, werden abgewiesen. Trotz dieser Maßnahmen, vieler Verhaftungen und massiver Repression, wie der militärischen Räumung von Straßenblockaden, gehen die Proteste unvermindert weiter und weiten sich aus: Die Gewerkschaft der Transportarbeiter hat mit einem landesweiten Streik gedroht, da sie durch die Wartezeiten an den vielen Straßensperren viel Geld verlieren.

Ecuador ist Lateinamerikas fünftgrößter Ölproduzent. Die tägliche Fördermenge liegt im Schnitt bei 530 000 Barrel. Etwa die Hälfte davon wird durch den staatlichen Ölkonzern Petroecuador gefördert, der zahlreiche Sub-Unternehmen beauftragt, diese aber nur unregelmäßig bezahlt, die wiederum den Schwarzen Peter an die ArbeiterInnen weitergeben. Am 7.3.06 begannen die 4000 Leiharbeiter (die Hälfte der in der Ölindustrie Beschäftigten) mit einem Streik, der über 70 Prozent der Erdölindustrie lahmlegte. Sie forderten Festanstellung, die Zahlung ausstehender Löhne, die finanzielle Unabhängigkeit von Petroecuador und die Freilassung bei den Protesten inhaftierter Kollegen. Am 13.3. wurde nach der Zusage die ausstehenden Löhne zu zahlen, der Streik zunächst ausgesetzt – die Proteste dauern allerdings an.

Soviel dazu, was alles nicht im Heft steht. Und nun wieder zu dem, was drin steht: Wir erleben seit Jahren einen schreienden Widerspruch zwischen einem großen und wachsenden Bedürfnis nach Gemeinschaft einerseits und einer großen und wachsenden Unfähigkeit, sich auf kollektive Erfahrungen einzulassen, andererseits. Die Fortsetzung unserer Diskussion zu »Kollektiven« auf den nächsten Seiten fragt nach den Gründen. Und ohne praktische Kollektivität, ohne die Bildung von anti-kapitalistischen Gemeinschaften im Kampf und für den Kampf, sind revolutionäre Prozesse kaum vorstellbar.

 

In diesem Sinne!



aus: Wildcat 76, Frühjahr 2006



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