Wildcat Nr. 76, Frühjahr 2006, S. 10–15 [w76_streik_oed.htm]



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»Das ist ein unheimlich komplexes Rummachen. Wir haben alle nicht viel Streikerfahrung.«
(Gewerkschaftsfunktionär; alle anderen Zitate sind von streikenden ArbeiterInnen)

 

Streikende nicht in Sicht?

 

Der Fahrplan war klar: Nach der Agenda 2010 kommt der Angriff auf die Arbeitszeit und die Löhne. Rückkehr zur 40-Stundenwoche und darüber hinaus, Abschaffung von »Sonderzahlungen« (Schichtzulagen, Weihnachtsgeld usw.), weitere Niedriglohngruppen. Obwohl die Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst noch nicht beendet sind, steht ein Ergebnis bereits fest: Die Arbeitszeit wird verlängert, die Löhne werden noch weiter ausdifferenziert als bisher.

 

Obwohl seit langem klar war, dass es zum »Großkonflikt im Öffentlichen Dienst« kommen würde, versuchte Ver.di mit der Unterschrift unter den TVöD, sich mit massiven Zugeständnissen aus der Schlinge zu ziehen – und steht nun mit dem Rücken zur Wand.

Der Streik zeigt, dass Ver.di (im Vergleich etwa zu den ÖTV-Streiks der Vergangenheit) objektiv massiv an Macht eingebüßt hat. Aber es gibt eine durchaus hoffnungsvolle Politisierung unter den Streikaktivisten. Deren Mobilisierung hat es bisher verhindert, dass Ver.di um jeden Preis abschließt. Was am Ende politisch auf Arbeiterseite rauskommt, steht noch nicht fest. Der Bezug auf die Kämpfe in Frankreich war jedenfalls deutlich, die Leute verstehen, dass überall in Europa die gleichen Kämpfe geführt werden – auch wenn sie es noch nicht selber in eigene Praxis umsetzen können.

 

1) Ein Gewerkschaftsstreik ist kein wilder Streik.

Ein gewerkschaftlich organisierter Streik unterscheidet sich erstmal gar nicht so sehr von der Lohnarbeit: Die ArbeiterInnen müssen zu bestimmten Zeiten erscheinen, damit sie bezahlt werden. Sie müssen ständig warten – dass was passiert, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen, auf den richtigen Zeitpunkt für die Demo, auf den Ausgang von Spitzenverhandlungen …

Im gewerkschaftlichen Streik übernimmt die Gewerkschaft die Arbeitgeberrolle, sie »bezahlt« die Streikenden, die somit das Lohnverhältnis gar nicht außer Kraft setzen. In anderen Ländern kämpfen Streikende auch dafür, dass der Arbeitgeber die Streiktage bezahlt.

 

2) Was ist der Öffentliche Dienst?

Zur Zeit sind das etwa 4,8 Millionen Beschäftigte in Verwaltung, Schulen, Kitas, staatlichen Krankenhäusern, bei Verkehrsbetrieben (vielfach privatisiert) und der Müllabfuhr (teilweise privatisiert), in Gefängnissen, an Theatern, Gerichten, Landesämtern für Statistik, bei Polizei, Militär, der Bundesagentur für Arbeit, der Deutschen Rentenversicherung, Krankenkassen, öffentlich-rechtlichen Sparkassen…

Bislang galten für den Öffentlichen Dienst einheitliche Tarifverträge, der bekannteste ist der Bundesangestelltentarifvertrag (BAT), daneben der Manteltarifvertrag für Arbeiter (MTArb). Seit dem Oktober 2005 gilt für Beschäftigte beim Bund und bei den Kommunen der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD), für die Bundesländer einstweilen weiterhin das bisherige Tarifrecht. Durch Kündigungen der Arbeitszeitregelungen können seit April 2004 Neueingestellte mit einer 40- (und mehr) Stundenwoche eingestellt werden. Hessen und Berlin sind aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder – TdL – ausgestiegen. Weitere Länder drohen damit.

Die öffentlichen Arbeitgeber waren immer Vorreiter der Prekarisierung. Bereits Ende der 70er Jahre erfanden sie ABM; sie waren »innovativ« sowohl bei Flexibilisierung und Teilzeit als auch in den letzten Jahren bei der Ausdehnung der Arbeitszeiten. In keiner Branche in der BRD gibt es einen ähnlich hohen Anteil von befristet Beschäftigten wie im ÖD. Stoiber hatte im Frühjahr 2004 angekündigt, den Durchbruch zur 42-Stundenwoche im ÖD zu schaffen, um das auf die gesamte Wirtschaft ausweiten zu können; Möllring nannte die jetzige Tarifrunde einen »Pilotkampf für die Privatwirtschaft«.

Die Ver.di-Linke hält den TVöD für »die größte Niederlage für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in der Nachkriegszeit« (www.netzwerk-verdi.de). Ab 2007 werden Weihnachts- und Urlaubsgeld in einer Sonderzahlung zusammengefasst und teilweise an »Leistung« gebunden. Zweitens enthält der TVöD sogenannte Arbeitszeitkorridore, so dass viele Überstunden-, Schicht- und Feiertagszuschläge wegfallen. Drittens enthält der TVöD eine Meistbegünstigungsklausel, die besagt: wenn die beteiligten Gewerkschaften mit auch nur einem Bundesland eine für die Arbeitgeber günstigere Regelung beim Lohn, den Sonderzahlungen oder der Arbeitszeit vereinbaren, gilt dies als nicht-widerrufbares Angebot an alle Arbeitgeber. Da Ver.di in den Ländern kaum Kampfkraft besitzt, ist zu erwarten, dass über kurz oder lang die Arbeitszeit der Kommunalbeschäftigten erhöht wird, auch wenn in den jetzigen Streiks etwas anderes erreicht wird. Und schließlich wurde mit dem TVöD eine neue Niedriglohngruppe eingeführt, nach der z.B. Putzfrauen im Klinikum bezahlt werden sollen (zwischen 1286 und im Endaufstieg 1440 Euro brutto); insgesamt wurde die Einführung von »Leistungslohn« beschlossen. Zudem akzeptierte Ver.di drei Fast-Nullrunden beim Lohn (jeweils 300 Euro im Jahr). Mit all dem erkaufte sich Ver.di, dass der TVöD zunächst die 38,5-Stundenwoche bei den Kommunen festschrieb – die diese aber zum frühestmöglichen Termin 1.12.2005 in einigen Regionen kündigten, Startschuss zum aktuellen Streik.

Für dieses Vertragswerk wurde Bsirske als »Reformer des öffentlichen Dienstes« gelobt. Mit dem TVöD ist eine dermaßen unübersichtliche Situation entstanden, dass bis heute niemand genau weiß, wie der Lohn genau auszurechnen ist – darin unterscheidet er sich übrigens nicht vom »veralteten« BAT.

 

3) Die Gewerkschaften sind Ausdruck der Schwäche der Arbeiterklasse – nicht ihrer Stärke

Ver.di entstand 2001 durch den Zusammenschluss von fünf Gewerkschaften, ist aber nicht in der Lage, unter ihren Fachbereichen Solidarität zu organisieren. Bei dem langen Streik war es nicht möglich, die Verkehrsbetriebe in Warnstreiks zu schicken. Verheerend sind dabei die in den letzten Jahren geschlossenen Spartentarifverträge für den Nahverkehr, womit die kampfstärksten Bereiche des ÖD ausgeschlossen wurden.

Nach Engels sind Gewerkschaften der Versuch der ArbeiterInnen, »die Konkurrenz untereinander aufzuheben«. Ganz ähnlich definierte das Bundesverfassungsgericht 1991 das Streikrecht: »Tarifautonomie ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichgewichtiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.«

In Situationen von Stärke können die ArbeiterInnen ihre Forderungen meist ohne Gewerkschaften durchsetzen. In (vor-)revolutionären Situationen ist der Streik oft gar nicht mehr Mittel, um »Forderungen« durchzusetzen, sondern Zweck für sich. In defensiven Situationen sind Gewerkschaften scheinbar unvermeidlich, um Angriffe des Unternehmers abzumildern – aber sie machen ihren Job ungeheuer schlecht, wie man an der Geschichte von Ver.di sieht. Die öffentlichen Arbeitgeber bieten zwei Alternativen an: Eine Crash-Variante will die Defensive von Ver.di für ihre finale Schwächung nutzen; die Variante des aktiven »Standort-Wettbewerbs« will die Gewerkschaft institutionell garantieren und weiter einbinden. Ver.di will den Existenzkampf nicht aufnehmen und klammert sich umso stärker an den zweiten Weg, kann sich aber – mit dem Erstarken der ersten Variante – gar nicht mehr sicher sein, noch gebraucht zu werden. Umso heftiger versucht man, sich durch immer weitere Absenkung, Ausgliederung, Spartentarife und Flexibilisierung nützlich zu machen. Rückkehr zur 40-Stundenwoche ohne Lohnausgleich, 48-Stundentarifvertrag bei der Post, Aufbau eigener Leiharbeitsfirmen, der TVöD…

Der Glaube, unterhalb des bisherigen Niveaus ließe sich ein neuer sozialer Kompromiss erzielen, zumindest eine Haltelinie einziehen, ist der stärkste Antrieb, zum »Co-Manager« des Sozialabbaus zu werden.

Zum letzten Streik im Öffentlichen Dienst vor 14 Jahren haben wir in der Wildcat 59 einen sehr optimistischen Artikel geschrieben. Damals hatte die ÖTV 9,5 Prozent gefordert, den Streik verloren, 5,4 Prozent akzeptiert, die Ur-Abstimmung verloren (!) und trotzdem den Streik beendet. Die Fronten waren klar: Arbeitgeber und Gewerkschaftsführung gemeinsam gegen die Arbeiterklasse. Im Vergleich zu diesem Streik werden die Unterschiede zu heute sehr deutlich: 1992 waren 400 000 im Streik: Müllberge, Post blieb liegen, U-Bahnen standen still, Flughäfen waren blockiert, 2006 waren laut Ver.di maximal 41 000 am selben Tag im Streik. Aber 1992 war es ein sehr stark von oben nach unten organisierter Streik, die Streikposten wollten mit niemandem reden, verwiesen dich an den »zuständigen Gewerkschaftssekretär« usw. Diesmal waren die Leute sehr interessiert, es gab viele offene und öffentliche Streikversammlungen, Demos, Flugis, kulturelle Veranstaltungen…

Ver.di ist nicht die ÖTV; das heißt einerseits, in Stuttgart, dem Epizentrum der Streikbewegung, können die streikenden ArbeiterInnen weitgehend selber entscheiden, wann und wie lange sie streiken. Sie dürfen aber nicht darüber mitbestimmen, wofür sie streiken. Von der Ver.di-Führung gab es ein ganz klares Verbot, Arbeitszeitverkürzung zu fordern (etwas, das in der gewerkschaftlichen Logik selber völlig normal gewesen wäre: Wenn man 38,5 Stunden abschließen will, muss man mehr gefordert haben, sonst hat man ja keine Verhandlungsmasse). Die Ver.di-Spitze hatte sich von Anfang an auf die »Verteidigung der 38,5 Stunden« fixiert, womit klar war, dass dann am Ende ein Kompromiss um die 39 rauskommen würde. Eine Forderung nach 38 Stunden o.ä. hätte nach Aussagen vieler Aktiven viel mehr Leute mobilisieren können. (Noch im üblen Argument der Gegenseite – Ihr streikt und macht n Haufen Radau »nur wegen 18 Minuten täglich« – steckt diese Tatsache des »viel Wind um wenig«.)

Während in Stuttgart nach einigen Wochen Streik der Gedanke des tariflosen Zustands seinen Schrecken verlor und im Gegenteil immer mehr Aktive sich ausmalten, dass man in einem solchen Zustand – ohne Friedenspflicht! – ja öfter streiken könnte; z.B. die Müllabfuhr während der Fußballweltmeisterschaft, womöglich zusammen mit streikenden Metallern… ist dieses Szenario an Orten mit schlechten Kräfteverhältnissen nach wie vor eine Drohung, womöglich gibt der Bürgermeister Freitag nachmittags durch: »übrigens arbeiten wir ab Montag 42 Stunden in der Woche, es gibt ja keinen Tarifvertrag mehr!«?

 

4) »Die Kerne stehen«

Die Streikenden haben sich gegenseitig unterstützt und bei ihren Aktionen besucht. Das ging selten vom Apparat aus, der hat das zuweilen nicht mal mitgekriegt. Was dabei an Diskussionen, Auseinandersetzungen und Kennenlernen von anderen Standpunkten gelaufen ist, lässt sich durchaus als Sprung im politischen Bewusstsein bezeichnen. Die Streikversammlungen haben sich zum Entscheidungsgremium entwickelt (das über alles entscheidet – außer über die Ziele des Streiks). Gemeinsame Diskussionen in großer Runde über die eigene Situation als Lohnabhängige/r, den gemeinsamen Kampf und den künftigen Weg sind in der BRD was Neues. Und die Diskussionskultur unter den Streikenden war Strukturen auf autonomen Versammlungen und linksradikalen Kongressen durchaus überlegen: Jede/r konnte zu Wort kommen, bei Abstimmungen unterlegenen Positionen wurde besonders viel Raum eingeräumt, ein Drittel der Leute hat aktiv mitdiskutiert.

Sehr viele der Streikaktivisten waren über 40 oder sogar über 50. Aber es war auch viel stärker als bei früheren Streiks der ÖTV ein Streik der Frauen und der Jugend. Und natürlich konnte die Gewerkschaft massenhaft neue Mitglieder rekrutieren (»Karin fehlt«) – aber die ArbeiterInnen haben sich radikalisiert, bis hin zum Wiederaufleben von linken Betriebsgruppen. Zum Beispiel: In den vier Stuttgarter Krankenhäusern gibt es 6200 Beschäftigte, davon sind 900 Gewerkschaftsmitglieder, im Streik waren maximal 300 durchgängig aktiv – aber das ist eine ganze Menge! In der Bewegung gegen das CPE in Frankreich waren die aktiven Kerne noch viel kleiner; es sind immer »Minderheiten«, die aktiv werden. Allerdings sorgt bei einem gewerkschaftlichen Streik das Abstimmungsprozedere dafür, dass die Gewerkschaft damit spielen kann: Minderheiten in den Streik schicken – den Streik abbrechen, wenn es der Gewerkschaft passt. Diese erleben sich als schwächer, als sie wirklich sind und werden anfällig für die Gewerkschaftspropaganda, es wäre für die »Kampfkraft« am wichtigsten, dass mehr Leute in die Gewerkschaft eintreten!

Auch die Desillusionierung über die Macht der Gewerkschaft gehört zu den Lernprozessen: Die aktiven Kerne und Betriebsgruppen sollten sich nicht an der Gewerkschaft abarbeiten (positiv oder negativ, das ist nicht das Entscheidende!), sondern an ihren eigenen Schwächen arbeiten: Sich mit den KollegInnen auseinandersetzen, die nicht gestreikt haben, die »Tapezierstreiker« (s.u.) in Diskussionen einbeziehen, sich um die kampfschwachen Betriebe kümmern, Kontakte zu den kampfstarken Betrieben aufbauen (das Staatstheater München war wochenlang im Vollstreik; die sehr rührigen und aktiven ArbeiterInnen am ebenfalls bestreikten Theater in Stuttgart haben es nicht geschafft, die etwas mehr als 200km zu fahren, um direkte Kontakte, Erfahrungsaustausch und gegenseitige Unterstützung anzugehen.)

 

5) Die Ausbeutungsbedingungen zum Thema machen.

Die ArbeiterInnen müssen in ihren Kämpfen die wirklichen Verschärfungen thematisieren und sich nicht für virtuelle 38,5 Stunden in den Kampf schicken lassen (siehe dazu auch das folgende Interview)! Wie immer benutzen viele KollegInnen den Streik, um die eigene Wohnung zu renovieren oder um schwarz zu arbeiten. Auch außerhalb des Streiks arbeiten mindestens ein Drittel der Beschäftigten am Theater in Stuttgart nebenher schwarz, weil ihnen der Lohn nicht reicht. Am Krankenhaus wird die Arbeit immer weiter verdichtet und immer mehr Tätigkeiten von schlechter bezahltem Personal gemacht. Gleichzeitig werden durch die Fluktuation freiwerdende Stellen nicht mehr besetzt. »Wir dürfen auf keinen Fall noch weniger Leute werden«, betont eine Krankenschwester aus dem Klinikum. »Als ich als Mülllader angefangen habe, musste ich täglich 500 bis 600 Behälter leeren, jetzt sind es 1000«. »Ich habe auf Grund der Überlastung oft Angst, dass mir Fehler unterlaufen«, sagt eine Krankenschwester. Auf der Intensivstation funktioniert der Dienstplan nur noch, wenn pro Monat 1000 Überstunden eingeplant werden. »Im Prinzip haben wir schon jetzt die 40-Stundenwoche«. Am Klinikum sind von 2004 auf 2005 77 Pflegestellen und drei Funktionsstellen abgebaut worden, während die Fallzahlen steigen: von 1990 bis 2004 um 16,8 Prozent.

Wir brauchen andere Kampfformen, die das Symbolische hinter uns lassen. »Denen weh zu tun wäre wichtig. Vors Tor stehen und dann heim gehen, das mach ich nicht mehr!« Nicht nur Autoarbeiter können Straßen blockieren. Die Blockade des Hamburger Elbtunnels ließ mal kurz aufblitzen, was da so möglich wäre…

Politisch ist es entscheidend, ob der Streik zur Demoralisierung führt, oder ob die ArbeiterInnen »erhobenen Hauptes« rausgehen. Dass während der Schlichtung weitergestreikt wurde, war sehr wichtig. Ein Arbeiter sagte: »Wir warten immer – lasst uns diesmal entscheiden!« Gegen anfänglichen Widerstand der Gewerkschaft wurde sogar durchgesetzt, dass auch noch am Montag, den 20. März gestreikt wurde (als alle Welt sich sicher war, dass am 19. der Schlichterspruch kommen würde). Das machte es möglich, nach dem Scheitern der Schlichtung direkt weiterzumachen.

Und ein ganz wichtiger Punkt, der leicht übersehen wird: Gewerkschaftliche Streiks dürfen nie Spaß machen, beim Flugiverteilen muss man immer betonen, dass man nur gezwungenermaßen streikt und nichts lieber täte als morgen wieder zu arbeiten. Große Lüge! Streiken macht auch Spaß, ist auf jeden Fall besser als arbeiten. Auf Demos lernt man nette Leute kennen, man erlebt die KollegInnen mal ganz anders (dazu gehört natürlich auch, dass man einige KollegInnen von ihrer negativen Seite kennenlernt, z.B. als Streikbrecher…), hat Spaß bei gemeinsamen Regelverletzungen, erlebt ne Ahnung davon, wie stark man gemeinsam tatsächlich sein könnte…

 

6) Medien

Die Pressehetze war unglaublich. Über Aktionen wurde nicht berichtet. Man versuchte, Skandale anzuzetteln (nicht operiertes Baby) und das Abbröckeln des Streiks herbeizuschreiben. »Die Medien sind doch alle gekauft« sagten viele Streikende. Nicht wenige haben auch gelernt, dass man mit denen gar nicht mehr redet. Dem Streik ist es nicht gelungen, den neoliberalen mainstream in der veröffentlichten Meinung zu durchbrechen. Wie sonst hätte es die CDU wagen können, sich ganz auf Arbeitgeberseite zu stellen, kurz vor der Landtagswahl? Brechen hier amerikanische Verhältnisse an, wo sowieso nur noch Minderheiten wählen gehen, die ArbeiterInnen tendenziell nicht mehr?

 

7) Benutzer

In Frankreich mischen seit vielen Jahren bei Streiks im Öffentlichen Dienst auch »BenutzerInnen« mit Flugis und Solidaritätsaktionen mit. Auch das trägt dazu bei, dass sich dort auch kleinste Konflikte übers ganze Land und in die ganze Gesellschaft ausbreiten – bei uns gucken die allermeisten nur zu. Das lässt sich relativ einfach anpacken. Uns BenutzerInnen der »öffentlichen Dienste« stinkt doch ganz gewaltig, dass diese immer schlechter und immer teurer werden. Es wäre wirksam, der Medienhetze und Unternehmerpropaganda entgegenzutreten, wonach wir »BenutzerInnen« ein Interesse daran hätten, dass die Leute im Öffentlichen Dienst immer schlechter bezahlt werden. Selbst wer das vor 20 Jahren noch geglaubt haben mag, sieht bei Post, Öffentlichem Nahverkehr, Kitas, Krankenhäusern, usw., dass Lohnkürzung und/oder Privatisierung keinesfalls zu einer Verbesserung der Leistung geführt haben.

 

8) Historische Auseinandersetzung

Die Gewerkschaften sprechen schnell von »historischer Auseinandersetzung«, um ihre Basis zu motivieren. Bsirkes Spruch vom »längsten Streik im Öffentlichen Dienst« seit 80 Jahren war frei erfunden (wo soll der vor 80 Jahren gewesen sein?). Selbst die übliche Definition, vom »längsten Streik im Öffentlichen Dienst in der Nachkriegszeit« stimmt nicht: Die Kita-ErzieherInnen in West-Berlin haben 1990 zehn Wochen gestreikt. Vor lauter Rhetorik verpasst es die Gewerkschaft, sich auf die tatsächlichen historischen Dimensionen einzustellen. Der Flächentarifvertrag ist passé, nun wollen es eine Fraktion der CDU und der Unternehmer ohne Gewerkschaft probieren. Die Arbeitgeber haben ganz bewusst die kommunalen Tarifverträge in Baden-Württemberg gekündigt, dem kampfstärksten und radikalsten Bezirk bei Ver.di. Ihm eine herbe Niederlage beizufügen, würde Ver.di auf lange Zeit zahnlos machen. Wenn dieser Streik verloren geht, wird auf lange Sicht gewerkschaftlich nichts mehr gehen – amerikanische Zustände.

Der Einsatz von Leiharbeitern und Ein-Euro-Jobbern als Streikbrecher zeigt zweitens, dass sich der Staat ganz direkt aus der Massenarbeitslosigkeit Waffen für den Klassenkampf gebastelt hat. In Baden-Württemberg sollen 800 Leiharbeiter und 100 Ein-Euro Jobber zum Einsatz gekommen sein, im Hamburger Innenstadtbereich 50 Ein-Euro Jobber; in Osnabrück machten sogar die Bullen den Weg für von Ein-Euro Jobbern gefahrerene Müllautos frei. Auch dieser »historischen Premiere« war weniger die Gewerkschaft, als Aktivisten aus Kreisen der Ein-Euro-Spaziergänge gewachsen: Leute aus dem ’Bündnis gegen 1-Euro-Jobs‘ besuchten den zuständigen städtischen Träger.

Ver.di versucht noch immer, den Flächentarifvertrag zu retten, indem man auf die »verhandlungsbereite« Fraktion bei den Arbeitgebern setzt, den Ein-Euro-Jobbern Rechtsberatung anbietet… und zu weiteren Zugeständnissen bereit ist. Die klare Linie einer Fraktion der Arbeitgeber wird als »ideologische Zielsetzung« missverstanden.

Wozu braucht das Kapital die Gewerkschaften? Um Konkurrenz auf Unternehmerseite zu vermeiden (die TdL soll z.B. verhindern, dass sich die Länder gegenseitig Arbeitskräfte abwerben, wie es mit Lehrern vor kurzem passiert ist; und wie es vor allem 1967-69 passiert ist, woher die hohen Lehrergehälter kommen!) und um unabhängige Aktionen der Klasse im Zaum zu halten. Der Anlauf der Arbeitgeber, es ohne Tarifvertrag zu versuchen, würde sofort abgebrochen, wenn die Konflikte sprunghaft ansteigen, es zu Betriebssyndikalismus und militanten Streiks kommt. Gibt es auf seiten der Klasse Anzeichen für solche Entwicklungen? Gibt es Diskussionen, wie man wieder in die Offensive kommen könnte?

 

9) Arbeiterkampf?

Die Arbeiter sind nicht in der Lage, 38½ Stunden aus eigener Kraft zu verteidigen – dafür brauchen sie die Gewerkschaft. Aber sie sind sehr wohl in der Lage, Kämpfe zu führen, die dem Arbeitgeber weh tun. Dazu ist die Gewerkschaft nicht da, meistens nicht willens, oft nicht in der Lage. Die Kommunalen Arbeitgeber in Stuttgart errechneten sich nach sechs Wochen Streik einen Gewinn von 500 000 Euro durch nicht bezahlte Löhne – reine Propaganda?

Aber selber kämpfen ist riskant: Wenn man verliert, kann man den Job verlieren; man kann vor Gericht gezerrt werden wegen Störung des Straßenverkehrs, Eingriff in den blabla und ähnliches.

Die Situation nach dem Scheitern der Schlichtung ist gefährlich (Abnutzungskrieg), sie bietet aber auch viele Möglichkeiten: Es gibt einen (kurzen) Freiraum, in den »die Kerne« reinstoßen könnten. Unsere Gesprächspartner mögen recht haben: Weder im Krankenhaus noch im Theater lassen sich aus dem Stand wilde Streiks organisieren; aber ein Schritt nach vorne wäre möglich: fantasievolle Aktionen, die wirklich treffen – und die zu »decken« die Gewerkschaft sich gezwungen sähe, will sie nicht massiv Legitimation verlieren. Der Stuttgarter Bezirk von Ver.di organisiert solche Überraschungsstreiks und benutzt die im Streik entstandenen »Kerne« dafür. Aber bundesweit läuft kaum etwas: Ver.di Hamburg lehnte das Bestreiken des Elbtunnels ab; die Häfen werden vom Streik ausgenommen; Ver.di Berlin sagte Mitte März die geplante Urabstimmung bei der Berlin Transport GmbH ab; es wird nicht – wie in Frankreich – zu einem bundesweiten Streik- und Aktionstag mobilisiert usw. Wieder einmal scheint die Staatsfixierung einer deutschen Gewerkschaft so weit zu gehen, dass sie den eigenen Untergang einer aus dem Ruder laufenden Mobilisierung vorzieht.

 

P.S. Am Montag (27.3.) setzten die Stuttgarter Müllarbeiter den Streik aus. Darauf mietete das Amt für Abfallwirtschaft (AWS) zusätzliche Müllfahrzeuge privater Unternehmen für Dienstag an. Doch am Dienstag morgen wurde wieder gestreikt. Voller Erfolg: am Montag waren zu viele Leute für zu wenige Autos da, am Dienstag dann keine Leute für zu viele Autos. Am selben Tag legten in ganz Baden-Württtemberg Tausende Beschäftigte unterschiedlichster Betriebe und Einrichtungen vom Studentenwerk über Fachhochschulen, Kliniken, Straßenbahnmeistereien, Landrats- und Tiefbauämtern unangekündigt die Arbeit nieder. Die flexible Taktik ermöglicht es Ver.di, die Auseinandersetzung auch in die Provinz auszuweiten. Landräte dieser – vom Streik weitgehend verschonten – Kreise waren bisher die Hardlinerfraktion im Kommunalen Arbeitgeberverband.

Am Mittwoch streikten wieder die Krankenhäuser, am Donnerstag das Statistische Landesamt, das seit Wochen komplett durchstreikt, die Pläne für die erste Aprilwoche stehen in vielen Betrieben.

Die flexible Streiktaktik scheint zu klappen – aber außer den Funktionären weiß jetzt niemand mehr, was geplant ist, die Möglichkeit, streikende KollegInnen zu besuchen, fällt weitgehend flach, Soliaktionen zur Unterstützung sind schwieriger geworden, die »Kerne« drohen zur Manövriermasse der Gewerkschaft zu werden. Allerdings sind die bezirklichen Streikversammlungen weiterhin sehr gut besucht, die Leute z.T. vernetzt. Und mit dem Auslaufen der Friedenspflicht in der Metallindustrie am 27. März und der bevorstehenden Tarifrunde in der privaten Abfallwirtschaft (!) werden andere Solidarisierungen möglich…

 


 

Im Labyrinth Öffentlicher Dienst haben 2004 4,8 Millionen Leute gearbeitet, 1991 waren es noch 6,7 Millionen. Fast 50 Prozent des Beschäftigtenabbaus erklärt sich mit der Privatisierung von Post und Bahn. Die andere Hälfte ergibt sich aus Stellenabbau – in den »neuen Ländern« stärker als im Westen. Die Anzahl der Beschäftigten im ÖD im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist in der BRD heute in etwa auf dem Niveau der USA, etwas niedriger als in Frankreich, etwas höher als in Italien – und deutlich niedriger als in nordeuropäischen Ländern.

 

Ver.di

ist 2001 aus den Gewerkschaften DAG, DPG, HBV, IG Medien und ÖTV entstanden und war mit 2,9 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft im DGB. Durch starke Mitgliederverluste war sie Ende 2005 mit noch 2,4 Millionen Mitgliedern auf den zweiten Platz abgerutscht. Ver.di ist ein kompliziertes Gebilde aus vier Ebenen und 13 Fachbereichen, die von Gesundheit über Verkehr und Postdienste bis zu Finanzdienstleistungen gehen.

 

Tarifverträge

Bis 2003 galten für den ÖD bei Kommunen, Ländern und dem Bund der BAT und der MTArb. Seit Sommer 2003 befindet sich das in Auflösung: zunächst kostete es Teile des Weihnachtsgeldes, dann komplett das Urlaubsgeld, seit April 2004 können Leute mit einer 41-Stundenwoche eingestellt werden (verlängerte befristete Verträge wurden meist dahingehend »angepasst«).

Im Januar 2003 hatten Ver.di und die Arbeitgeber des ÖD eine sog. Prozessvereinbarung beschlossen, die die »Reform« des bisherigen BAT regeln sollte – im Januar 2005 wurde der neue TVöD mit Wirkung zum Oktober 2005 nach meist geheimen Verhandlungen von den Kommunen und dem Bund unterschrieben. Die Bundesländer, zusammengeschlossen in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL), zu der Hessen und Berlin nicht mehr gehören, haben nicht unterschrieben. Anlässlich des TVöD ist der Marburger Bund aus der Tarifpartnerschaft mit Ver.di ausgestiegen und verhandelt für die ca. 220 000 Klinikärzte getrennt.

Kurz nach Inkrafttreten des TVöD wurde die 38,5-Stundenwoche für die westlichen Kommunen von den Arbeitgebern in Niedersachsen, Hamburg und Baden-Württemberg gekündigt.

 

Streiks

Gegen die Einführung der 40-Stundenwoche wird seit dem 6. Februar 2006 gestreikt. Am 1. März kommt es in Hamburg zu einem Abschluss, der die ArbeiterInnen nach Alter und Familienstatus aufspaltet, und trotzdem die 38,5 Stunden nicht halten kann. Nach viereinhalb Wochen Streik kommt es in Niedersachsen am 15. März zu einer Einigung zwischen dem Ver.di-Landesbezirk, der dbb-tarifunion und dem Kommunalen Arbeitgeberverband (KAV) für die rund 120 000 kommunalen Beschäftigten. Hier wird nach »Arbeitsbelastung und Arbeitsort« unterschieden: z.B. in den Kliniken bleibt es bei 38,5 und eben auch in der Hauptstadt Hannover (was damit was zu tun hat, dass die ArbeiterInnen dort in den letzten Jahren auf Teile des Lohns zur »Beschäftigungssicherung« verzichtet hatten).

Im Zentrum der Streikbewegung, in Baden-Württemberg, bzw. Stuttgart werden dagegen zwei Schlichter eingesetzt. Am 19.3. scheitert diese Schlichtung, seit dem 20.3. wird »flexibel« weitergestreikt.

 

Das wäre noch vor ein paar Jahren in der BRD undenkbar gewesen: Ärzte streiken für 30 Prozent mehr Lohn und gehen mit Trillerpfeifen und wütenden Transparenten auf Demos! In mehreren Universitätskliniken sind Mitte März hunderte Ärzte in einen unbefristeten Streik getreten.
Der Marburger Bund ist nach dem Abschluss des TVöD aus dem Tarifverbund mit Ver.di ausgetreten und fordert nun 30 Prozent mehr Lohn für alle Klinikärzte – er verschweigt die tiefe Kluft unter den Ärzten.
Vivantes in Berlin hat z.B. den Dreischicht-Betrieb für Ärzte eingeführt: acht Stunden morgens, acht abends oder acht nachts. Assistenzärzte verdienen dann mit einer 40-Stundenwoche – sieht man von den ein bis zwei Stunden ab, die sie jeden Tag länger bleiben, um die Kassenbürokratie abzuwickeln – rund 3000 Euro brutto im Monat. Sie können keine Zusatzdienste mehr schieben, für die sie bisher ordentlich Zulagen eingestrichen haben. Die 30-Prozent-Forderung des Marburger Bundes ist das, was bisher faktisch über Bereitschaftsdienste hereinkommt, und was ab 1. Januar 2007 wegfällt, weil dann die neuen Arbeitsschutzbestimmungen der EU greifen.
Heute verdient ein 31-jähriger lediger Assistenzarzt nach Tarif 43 000 Euro im Jahr. Mit Bereitschaftsdiensten kommt er auf 55 000 Euro. Ein 45-jähriger Oberarzt mit Familie und zwei Kindern hat 68 500 Euro Grundgehalt; Rufbereitschaft und die Beteiligung am Topf der Einnahmen von Privatpatienten erhöhen es auf 92 000 Euro. Die Chefärzte sahnen ab: Ihr Grundgehalt liegt etwas höher als das der Oberärzte – dazu kommen aber 200 000 Euro von Privatpatienten – vorsichtig gerechnet! Bei Kardiologen und Chirurgen bleibt oft auch eine Million Euro hängen. (Zahlen nach DKG (Deutsche Krankenhausgesellschaft), dem Spitzenverband aller Krankenhausträger)
Gerade diese Kluft unter den Ärzten wird durch den ständischen Streik des Marburger Bundes verdeckt – Assistenzärzte, die heute 30 sind, haben solche goldenen Zukunftsperspektiven gar nicht mehr, u.a. auch deshalb, weil die Zusammensetzung der Ärzteschaft sich massiv wandelt: Ein Heer von Assistenzärzten steht einer dünnen Spitze von Gutverdienern gegenüber.
Trotzdem haben sich nur sehr wenige Ärzte dem aktuellen Streik der Krankenschwestern in kommunalen oder Landeskrankenhäusern angeschlossen.


aus: Wildcat 76, Frühjahr 2006



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