Wildcat Nr. 76, Frühjahr 2006, S. 62–65 [w76_streik_oed_02.htm]
In harten Zeiten hilft
Fröhlichkeit und ein großer StreikGespräch zwischen zwei Streikaktivisten aus dem Klinikum (K.) und dem Theater (T.) in Stuttgart, einem Pfleger von der Uniklinik in Freiburg (B) und Wildcat – am Abend der großen Demo (6. März) Da wir in der Wildcat schon sehr oft übers Krankenhaus, aber noch nie übers Theater berichtet haben, haben wir zunächst den Kollegen aus dem Theater nach der dortigen Situation gefragt.
Stand 31.3.: Bis jetzt ist das Staatstheater ab dem 11. Februar an 19 Tagen bestreikt worden, an den jeweiligen Streiks von 1 Tag bis 1 Woche nahmen jeweils 80 bis 180 Beschäftigte teil, wobei man wissen muss, dass von den 1200 Beschäftigten nur 550 mit Tarifverträgen ausgestattet sind, die zum Streik berechtigen (die anderen sind künstlerisch Beschäftigte). ArbeiterInnen arbeiten zum grösseren Teil im 2-Schicht-Betrieb an 7 Tagen die Woche, allein mehr als 250 Leute in den bühnentechnischen Bereichen; Ankleiderinnen, die Haustechnik mit Pförtnern und Bühnenreinigung etc. ebenso, etwa 80 Leute insgesamt. In den Werkstätten arbeiten ca. 70 ArbeiterInnen montags bis freitags, mehr als die Hälfte in Nähsälen. Der Angestelltenbereich (BAT), ca. 70 Leute, verteilt sich v.a. auf Verwaltung und Verkauf. Etwa 60 Arbeiterinnen (»Abendpersonal«) haben prekäre Beschäftigungsverhältnisse an den Publikumsgarderoben etc.
Insgesamt haben mehr als die Hälfte der »Berechtigten« gestreikt. Der harte Kern sind dabei die bühnentechnischen Schichtbetriebe, die teilweise zu 100% dabei sind, das Schlusslicht Verwaltung und Abendpersonal (1-2% Beteiligung). Ausgefallen sind zwei Opern, ein Ballett, ein Theaterstück und sechs kleinere Aufführungen (im Depot), sechsmal konnte eine Oper nur konzertant (ohne Kostüm und Bühnenbild) gespielt werden. Eine ausgefallene Oper bedeutet einen Ausfall von rund 40 000 Euro, eine ausgefallene Vorstellung im Schauspielhaus von etwa 14 000 Euro, im Depot ca. 1 000. Euro.
Das Theater ist ein Landesbetrieb, d.h. neu Eingestellte arbeiten 41 statt 38,5 Stunden, kriegen kein Urlaubsgeld (330 Euro) und 60 anstatt 83 Prozent Weihnachtsgeld. Sie machen inzwischen etwa 15 Prozent der Tarifbeschäftigten aus.
B: Die Demo heute war sehr groß, aber die Stimmung nicht erwartungsvoll. Die Leute in Hamburg haben nach dem Abschluss mit zusammengebissenen Zähnen die Arbeit wieder aufgenommen…
T: Zu was ist Ver.di mobilisierungsfähig? Wir haben vor zwei Jahren gesagt, wenn die Arbeitgeber aussteigen aus den Verhandlungsprozessen, dann kann unsere Antwort nur Streik sein! Ganz realistisch hätte ich das damals aber gesehen als ne Folge von n paar Warnstreiks und dann schaut man mal. Vor einem Jahr, als die den TVöD mit Kommunen und Bund abgeschlossen haben, war unsere Reaktion wieder: Jetzt muss aber im Länderbereich was passieren! Und Ver.di hat sich ein weiteres Jahr gerettet mit irgendwelchen Warnstreiks von teilweise fast Bedeutungslosigkeit! Die Kündigung im Kommunalen Bereich war jetzt auch in einigen Länderbetrieben die Initialzündung, aber im wesentlichen wird das immer noch getragen von den kommunalen Betrieben. In den Bundesländern, wo nur Landesbeschäftigte streiken, beschränkt sich das fast auf die Unikliniken, das hat nicht die Dimension wie hier in Baden-Württemberg. Und auch die Leute auf der Demo heute, das waren im wesentlichen wieder Kommunale.
J: Gleichzeitig wird klar, dass Ver.di sogar unterhalb des Hamburger Vertrags abzuschließen bereit ist… Und die »Meistbegünstigungsklausel« macht es den Arbeitgebern sehr leicht.
T: Das hat die Ver.di-Spitze sicherlich anders gesehen, als es sich jetzt auswirkt: Inzwischen ist die Meistbegünstigungsklausel eine der stärksten Bremsen, irgendwo schlecht abzuschließen. Mal angenommen, die kommunalen Arbeitgeber Baden-Württemberg schließen 39 Stunden ab, dann gilt das sofort in allen anderen Kommunen bundesweit. Deswegen wird – auch durch den Druck der Basis – eine gewisse Härte in der Verhandlungsführung erzeugt. Oder umgekehrt: man kann jetzt nicht bei den Ländern einen Tarifabschluss über 40 Stunden machen und damit in Kauf nehmen, dass hier die Müllabfuhr sechs Wochen gestreikt hat, um die Arbeitszeit um anderthalb Stunden verlängert zu kriegen.
K: Meiner Ansicht nach war Ver.di völlig überrascht, weil sie unterschätzt haben, wie groß die Wut der Leute ist. Vor der Warnstreik-Demo am 5. Dezember (2005) hat Bsirske angeblich gesagt: »einen Schuss habt Ihr frei!« Die haben nicht damit gerechnet, dass am 5.12. was passiert! Stattdessen war das sehr ermutigend, was da passiert ist. Und Ver.di war jetzt nochmal überrascht, wie gut die Streiks im Klinikum und bei der Abfallwirtschaft in Stuttgart geklappt haben.
T: Die Streikmobilisierung ist ein deutliches Signal, wie ich es nie in der Geschichte der ÖTV erlebt habe, der Basis an die Führung: »es reicht!« – und natürlich noch viel stärker der Basis an die Arbeitgeber. Ich würde aber bezweifeln, dass das bei allen Funktionären angekommen ist.
K: Die bezirklichen Tarifkonferenzen hatten die Forderung aufgestellt, dass Ver.di Arbeitszeitverkürzung fordert, damit überhaupt die Chance besteht, die 38,5 zu halten. Da kam von der Bundesebene ganz klar n Verbot, so was auf der Warnstreikdemo überhaupt zu sagen. Kulminiert ist das an dem Tag, als der Hamburger Abschluss raus kam. Weil klar wurde, so was wäre ja für uns bereits ein Erfolg in Anführungszeichen – insofern ist die Stimmung dabei zu kippen. Es wird immer klarer, dass es bei Ver.di von vornherein auf einen Kompromiss zwischen 38½ und 40 angelegt war.
B: Warum wird die Arbeitszeit im Streik überhaupt so zentral gestellt? Dabei kommt doch überhaupt nicht zur Sprache, dass der Druck zunimmt, die Poren verdichtet werden, immer mehr befristete Verträge… Bei uns wird gerade ausgerechnet, wie viele PflegerInnenstellen auf Station durch »Hiwi-Stellen« abgedeckt werden können. Das sind wesentlich massivere Einschnitte! Man könnte sagen: Ver.di führt einen Scheinkampf um die Arbeitszeit und thematisiert die massiven Verschlechterungen und den großen Stellenabbau gar nicht…
T: Natürlich kannst du da erst mal nichts gegen machen, wenn der Technische Direktor der Geschäftsleitung zusagt, ich besetze zwei Stellen bei der Bühnentechnik nicht usw. – das fördert aber absolut die Laune zu streiken!
B: Das ist ja genau meine Frage: die Gewerkschaft ändert an diesen Bedingungen nichts, leitet aber diese Wut als Wasser auf ihre Tarifauseinandersetzungen…
K: Bei uns ist die Auseinandersetzung genau die gleiche, wie B. das thematisiert. Bei uns kam dazu, dass sie das Klinikum in eine GmbH umwandeln wollten. Das hat im Laufe des letzten Jahres eine gewaltige Mobilisierung gebracht, und in den Mobilisierungen wird von den Leuten auch die Situation auf den einzelnen Stationen thematisiert. Nach dem TVöD war die Empörung sehr groß. Einerseits gegen die Arbeitgeber, die das sofort gekündigt haben; da war wirklich so ne Stimmung »Jetzt reicht‘s!« – andererseits natürlich auch gegen Ver.di: »Wie können die so was abschließen?!«
B: Verschafft sich diese Wut im Streik auch Ausdruck? Bei den zwei Wochen »Streik« an den Unikliniken im Sommer 2005 wurde nur tageweise gestreikt, und Notdienstvereinbarung hieß bei uns: Wochenendbesetzung. Auf vielen Stationen bist du inzwischen im Tagdienst auch zu zweit oder zu dritt, somit hieß diese Notdienstvereinbarung eigentlich Normalzustand.
K: Wir haben ne ziemlich gute Notdienstvereinbarung, wo wirklich nur Notfälle behandelt werden und in jedem Krankenhaus nur ein OP mit Notbesetzung läuft. Durch die üble Hetze in der zweiten Woche haben sie dann durchgedrückt, dass für die dritte Woche eine Notdienstvereinbarung abgeschlossen wurde, die sehr viel mehr zuließ: Eine begrenzte Anzahl von OP- und Anästhesie-Teams wurde zusammengestellt, und das war ein richtiges Einfallstor, dann gnadenlos alles weiter durchzu-operieren. Die Situation wurde hochkritisch – vor allem im Kinderkrankenhaus –, die Leute konnten kaum noch streiken; durch diese gelockerte Notdienstvereinbarung war der Druck so groß geworden, dass tatsächlich dann immer mehr Leute abgefallen sind.
Wir haben täglich Streikversammlung an jedem Standort und zweitägig vom ganzen Klinikum gemeinsam. Im Bürgerhospital kommen da jedesmal 80 bis 120 Leute, bei den klinikumsweiten Streikversammlungen sind es zwischen 40 und 60.
T: Wir machen Streikversammlungen zum Zeitpunkt vom Schichtwechsel, da kommen 60 bis 100 Leute. Das ist gewaltig viel, weil im ganzen Haus insgesamt vielleicht 200, 250 Leute streiken. – In den Werkstätten ist das ganz arg abgestuft: Schlosserei, also Metall, da sind fast 100 Prozent in der Gewerkschaft, Schreinerei schon viel schlechter, die ganzen Nähereien noch schlechter, da streikt ab und zu mal ne unorganisierte Kollegin mit, aber da ist der Druck auch enorm und da geht auch ab und zu mal eine arbeiten, obwohl sie organisiert ist… Die Neueingestellten kriegen alle nur befristete Verträge, haben n paar hundert Euro weniger, arbeiten dafür länger, und trauen sich am allerwenigsten. Die schleichen im Moment geduckten Hauptes in den Betrieb rein, weil sie wissen, eigentlich wird für sie gestreikt – und auf der anderen Seite wollen sie halt nächstes Jahr auch noch einen Vertrag haben.
B: In manchen Bereichen ist Ver.di aufgrund von Prekarisierung, Outsourcing und Privatisierung nicht mehr streikfähig. In Freiburg sind wir richtig abgehängt vom Streikgeschehen, die kommunalen Krankenhäuser sind entweder kirchlich oder über Helios privatisiert. Der Streikversuch bei der Müllabfuhr war ein Flop, die ist teilweise privatisiert, teilweise wird die Arbeit eh schon über Leiharbeitsfirmen gemacht – das hat die Stadt dann schnurstracks ausgeweitet. Das verweist auf ne weitere Absurdität: auch bei den Privaten gibt es ja Mobilisierungen und Auseinandersetzungen um Tarifverträge – aber das läuft komplett getrennt.
K: Deswegen hat der Abschluss bei den Uni-Kliniken, wo es gelungen ist, die Bedingungen von Neu- und Altbeschäftigten wieder zusammenzuführen, viel dazu beigetragen, dass die Solidarität relativ groß ist. Ver.di hat ja gesagt, wenn die Verhandlungen schlecht laufen, machen wir gar keinen Abschluss, die Alten bleiben bei 38½, und die Neuen kommen dann halt in 40 rein. Das wird absolut nicht mit Begeisterung aufgenommen von den Alten! Man will gleiche Bedingungen haben!
B: Durch den Streik haben wir in Freiburger Uniklinikum, was die Arbeitszeit angeht, sogar nen ’TVöD plus‘. Außer der Arbeitszeit ist aber bislang nur die Schlechterstellung der Servicebereiche, also der meist ausländischen Putzfrauen und Küchenangestellten, geregelt. Die »Alten« behalten den eingefrorenen Grundlohn bei gekürzten Jahressonderzahlungen und kriegen die Einmalzahlungen nicht. Neueingestellte fangen mit 1400 Euro brutto an – die gezirkelte Mitte zwischen dem Lohn der »Alten« und den Löhnen bei privaten Anbietern.
T: Das ist die übliche Gewerkschaftslogik: »dann machen wir selber so n Dumpinglohnbereich, dann wird es wenigstens nicht out-gesourced, und die können den Personalrat mitwählen«. Ich weiß nicht, welchen Vorteil sie sonst noch haben!
K: Bei uns ist die Privatisierung im Reinigungsbereich auch wieder zurückgeführt worden. Im Moment läuft der gerichtliche Streit darüber. Vor dem Abschluss des TVöD war besprochen, dass die Putzfrauen nicht in Entgeltgruppe I kommen, jetzt werden aber die Neueingestellten in Entgeltgruppe I eingestellt! Eine davon klagt – und je nachdem, was dabei herauskommt, betrifft das dann alle anderen.
T: Einige Frauen von Privatfirmen, die bei uns putzen, wären froh, wenn sie Entgeltgruppe I hätten! Aber ich kann es teilweise nicht einschätzen, weil die Firma, die das macht, ne ganz klare Strategie fährt: permanent wechselnde, ausschließlich türkische Kolleginnen, deren durchgängiges Qualifizierungsmerkmal ist, kein Deutsch zu sprechen! Die einzige Möglichkeit, mit denen zu kommunizieren ist über die türkischen Reinigungskräfte, die noch bei uns angestellt sind oder über andere türkische Kollegen…
B: Bei uns ist das besonders krass! Die Uni-Klinik hat die eigene Privatfirma gegründet, mit der dann gedroht wird. Und die gehört dem Geschäftsführer, also genau dem Typen, der immer sagt »Den Eigenbetrieb erhalten!« … das ist übrigens der Ex-Personalratsvorsitzende.
K: Auch ne schöne Karriere!
J: Die (lokale) Presse hetzt inzwischen massiv gegen den Streik. Was kriegt Ihr von Euren Kunden so mit?
T: Mit dem Publikum bist du normalerweise gar nicht konfrontiert, das sind ja kulturelle Unterschiede. Es ist für viele Leute komisch zu merken, dass die Nerz- und Nadelstreifenträger auf einmal reagieren wie der gewöhnliche Stammtisch: dir Prügel androhen oder ähnliche Geschichten. Aber es gibt auch viel Zustimmung… Jetzt hat sich das Ensemble durchgerungen zu so halbgaren Solidaritätsaktionen: Es gibt abends einen Infostand im Foyer Schauspiel, der ist besetzt mit jemand vom Ensemble und jemand von der Betriebsgruppe. Die waren am ersten Abend extrem enttäuscht, weil wenn überhaupt jemand gekommen ist vom Publikum und sich dafür interessiert hat, dann haben die Leute gesagt: »Naja, aber eigentlich müsst alles ausfallen, dann würde der Streik richtig wirken!«
K: Das haben wir in den Krankenhäusern auch von vielen Patienten zu hören gekriegt: »Also so wie ihr streikt, das bringt doch gar nix!«
B: Wenn so ein Streik ohne gewerkschaftliche Bezahlung geführt würde, wäre auch klar: entweder du kriegst in einer Woche was hin, oder das wird nix. Dann würde mit ganz anderer Wucht gestreikt! Wie könnte denn so ein Streik aussehen, der den Arbeitgebern weh tut und in kurzer Zeit wirkt? Warum blockieren wir nicht die Abrechnung? Soll doch jeder, der sich n Bein bricht, seine OP kriegen, jeder Herzinfarkt versorgt werden – aber es wird einfach nicht abgerechnet.
K: Das haben wir schon versucht, aber das gelingt nur in einzelnen Fällen, wo tatsächlich die Leute im Notdienst sagen, sie machen den Bürokratiekram und die ganzen Aufnahmen nicht. Das läuft eher auf eine Auseinandersetzung mit denen raus, die Notdienst machen. Das Problem der Abrechnung ist halt, dass diese Abteilung weitestgehend – trotz heftigster Versuche unsererseits – weitergearbeitet und funktioniert hat.
B: Viel von diesem Abrechnungszeugs ist ja inzwischen auf die PflegerInnen abgewälzt. Aber das setzt natürlich ne andere Diskussion voraus: Welchen Streik wollen wir haben, wie können wir ihn organisieren?
K: Solche Sachen sind bei uns schon gelaufen. Wir haben in den Streikwochen trotzdem Kliniktage gemacht, wir sind auch während dem Streik immer durchgelaufen. Aber das stimmt, was Du sagst, und kommt auch daher, dass wir uns am Anfang auf die zentralen Bereiche konzentriert haben, an denen alles weitere halt hängt: OPs, Tageskliniken, Anästhesie.
J: Seht Ihr in den Mobilisierungen im Moment nichts, was zu einem Kampf für die Verbesserung der eigenen Bedingungen führen und der gewerkschaftlichen Kontrolle entgleiten könnte?
K: Man darf nicht vergessen, was bei solchen Auseinandersetzungen auch passiert. Erstens kriegen es die Leute jetzt mal ganz anders mit, wie Ver.di funktioniert; das wird sich erst noch entscheiden, wie viele Leute sich darüber längerfristig politisieren. Wir haben bei Streikversammlungen immer darauf geachtet, dass Leute aus anderen Bereichen kommen (UPS, Metaller ….), da passiert schon ungeheuer viel bei Leuten, die das ansonsten überhaupt nicht mitgekriegt hätten.
J: Die aktuellen Lernprozesse sind sicherlich toll, aber sie lassen sich nicht festhalten, wenn zwischen den Mobilisierungen 14 Jahre stecken! Das ist der Unterschied zwischen der BRD einerseits, Frankreich, Italien, Großbritannien andererseits: dort gibt es ArbeiterInnen, die kollektiv gelernt haben, dass sie selber was tun müssen. Das hat ganz massiv damit zu tun, dass die Mobilisierungen sehr viel dichter aufeinander kamen.
T: Wenn es nur alle 14 Jahre so ne Mobilisierung gibt, kommt das in einem Arbeiterleben halt zwei- höchstens dreimal vor. Wenn die Klasse in diesem Tempo lernt, dauert das recht lange! Irgendwie haben wir das nicht in der Hand, aber du wirst sicher in der Betriebsarbeit auf einem völlig anderen Niveau aufsetzen können als vor dem Streik! Da hat sich ne andere Kultur von Solidarität und Diskussion und Entscheidungsstrukturen entwickelt, was das betrifft, hat sich in 13 Tagen Streik mehr getan als in den 12 Jahren vorher. Die Erfahrungen, die die Leute gemacht haben, sind zumindest abrufbar in der nächsten Konfliktsituation. Aber wahrscheinlich stehen auch in den bestorganisierten Betrieben (Müllabfuhr, Theater) als nächster Schritt keine wilden Streiks an. Ich würde inzwischen sehr stark als Möglichkeit, die Kämpfe kontinuierlich fortzusetzen, betonen, dass wir keinen Tarifvertrag und mithin keine Friedenspflicht haben. Egal, wann uns was nicht passt, wir brechen einen Streik vom Zaun – wo offiziell draufsteht: Es geht um Arbeitszeit. Als bei uns im Theater die Betriebsvereinbarung gekündigt worden ist, wurde furchtbar rumgeeiert, wie man darauf reagieren kann – nochmal so was, da bin ich relativ sicher, dann werden wir zumindest punktuell wilde Streiks organisieren können. Das war vorher völlig undenkbar. Dieser Streik stärkt die Gewerkschaft – er radikalisiert aber vor allem die Betriebsgruppen! Da hat sich in der letzten Zeit total das Klima gewandelt.
B: Betriebsgruppen hab ich im ganzen Öffentlichen Dienst und speziell in Krankenhäusern keine mehr mitgekriegt. Die gab es bis Mitte maximal Ende der 90er Jahre…
K: Bei uns gab es auch nicht kontinuierlich eine Betriebsgruppe, in der Auseinandersetzung um die GmbH ist das wieder aufgelebt… Und die dabei entstandenen Strukturen haben sich jetzt reaktiviert, dann sind solche Sachen wie tägliche Streikversammlungen mit 120 Leuten möglich.
Das Ganze muss meiner Ansicht nach vor dem Hintergrund der ständigen Verschlechterungen und Arbeitsverdichtungen gesehen werden…
T: … die auch nicht völlig widerstandslos durchgehen! Das wirkt zusammen: jetzt gibt’s die Möglichkeit, mal kräftig auf den Putz zu hauen, und das ist nicht nur wegen der halben Stunde, 18 Minuten täglich mehr, sondern da kommen natürlich solche Sachen dazu. Beim Müll ist es genau das gleiche: das ist nicht nur die Arbeitszeitverlängerung, das ist die Streichung der Zulagen, die‘s schon gegeben hat, die Reduzierung der Besatzungen, die Ausweitung der Touren usw. Das sind Prozesse, die sind in jedem Betrieb im ÖD so… Aber der Öffentliche Dienst ist zusammen mit dem ganzen Dienstleistungssektor in eine unglaubliche Defensive geraten. Natürlich auch durch schlichte Fakten wie den Abbau von zwei Millionen Arbeitsplätzen. In der ganzen Banken- und Versicherungsbranche sieht‘s nicht anders aus. Im Metallbereich sieht‘s zwar auch nicht anders aus, aber bei den Konzerngewinnen kannst du natürlich auch anders auf die Kacke hauen. Außerdem haben die die »Steinkühlerpause auf der B10« und den angeblich wilden Streik bei Opel hinter sich und noch so n paar andere Sachen – und das hat den Leuten so n bisschen Rückenwind gegeben.
aus: Wildcat 76, Frühjahr 2006