Wildcat Nr. 77, Sommer 2006, S. 3–5 [w77_editorial.htm]



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Debatten um Neukölln

Es sollte der Imagepflege dienen, als die Behörden 1912 den Ort Rixdorf zu Neukölln umbenannten. Rixdorf galt als Hochburg von Kriminalität und »schlechten Sitten«. Wenn es nach den Filmemachern, Politikern, Soziologen und Journalisten geht, die in den letzten Monaten über den Stadtteil hergefallen sind, steht womöglich zum Hundertjährigen erneut eine Umbenennung an.

Ende März hatten frustrierte Lehrer mit einem offenen Brief die Auseinandersetzung um die Neuköllner Rütlischule losgetreten. Dabei wollten sie doch nur, dass die Hauptschule in eine Gesamtschule aufgelöst wird. Als Argument konnten viele Zahlen aus der PISA-Studie dienen: Hauptschulen werden als Auffangbecken für Schulversager angesehen; es kommt vor, dass die jeweils drei schlechtesten Schüler aus sechs Grundschulen in einer Hauptschulklasse zusammengefasst werden. Der Zugang zur Uni ist in der BRD stark schichtenspezifisch; von den Arbeiterkindern studieren 7 Prozent, von den Angestelltenkindern 25 Prozent, von den Oberschichtskindern weit mehr als 50 Prozent. Deshalb hat die BRD auch im internationalen Vergleich zu wenige Hochschulabsolventen und zu viele Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können (22 Prozent).

Es kam aber anders, als die Lehrer dachten. Stattdessen fragten Politik und Presse, wie die deutsche Leitkultur auch in »monoethnischen Ghettos wie Neukölln« durchzusetzen sei (man fragt sich, ob solche Leute jemals dort waren!). Und CDU- Generalsekretär Kauder verlängerte die Debatte über die nicht integrierten Ausländer dahingehend, dass es auch jede Menge »nicht integrierte Deutsche« gebe.

In den letzten Wochen wurde um die steigenden Kosten für Langzeitarbeitslose eine öffentliche Diskussion losgetreten, in der unter anderem der stellvertretende Stern-Chefredakteur Jörges von Hartz IV als dem »komfortabelsten Ausbau« des deutschen Sozialstaats faselte und der SPD-Vorsitzende Beck mahnte, man müsse ja nicht alles beantragen, was gesetzlich möglich sei. In Wirklichkeit gehen die gestiegenen Kosten bei Hartz IV (und die gleichzeitigen Überschüsse bei der Bundesagentur!) auf die Ausweitung der Langzeitarbeitslosigkeit und dramatische Lohneinbrüche im Niedriglohnsektor zurück. Immer mehr Löhne sinken unter das Existenzminimum und die Leute müssen »aufstockendes Arbeitslosengeld II« beantragen. In Stuttgart – nicht im Osten! –, werden für Jobs in der Gastronomie, Security usw. inzwischen unter 6 Euro bezahlt. Die Löhne in diesen Bereichen sind in einem Jahr um bis zu 15 Prozent gesunken. Hartz wirkt genauso, wie es beabsichtigt war – und schafft dabei »Unterklassen«, die nicht mehr in vollem Umfang Teil der Gesellschaft sind. Dem »Staatsbürger« wird materiell immer weiter das Wasser abgegraben, das wichtigste Integrationsmoment dieser Gesellschaft funktioniert nicht mehr.

Die rot-grüne Regierung wollte – entsprechend der schon in der industriellen Revolution vertretenen liberalen Mangelökonomie – die Armen »durch Mangel« zum Arbeiten, die Reichen aber »durch Überfluss« zum Investieren bringen. Ersteres erzeugt teils schlimmen Druck; letzteres klappt nicht:

Seit dem Regierungswechsel in Berlin wurde auf so was wie den gefühlten Aufschwung gesetzt, nach dem Motto: Wenn wir uns die Lage lange genug schön reden, kommt die Wirtschaft auch wieder in Schwung! Zum Beispiel gab die Arbeitsagentur bekannt, im Mai 2006 seien 255 000 Menschen weniger arbeitslos gewesen als im April, dies sei der stärkste Rückgang in einem Mai seit der Wiedervereinigung. In Wirklichkeit ging mehr als die Hälfte dieses Rückgangs auf eine Software-Umstellung zurück: Ein neues EDV-System registriert krank gemeldete Arbeitslose erstmals flächendeckend nicht mehr als »arbeitslos«, sondern lediglich als »arbeitssuchend«, somit fallen diese aus der Statistik.

»Augen zu und durch« – Hauptsache, die strategischen Branchen der deutschen Industrie stellen von Jahr zu Jahr neue Rekordexporte auf! Dann lässt sich die Massenarbeitslosigkeit politisch verkraften. Und wenn die Mehrwertsteuererhöhung – die größte Steuererhöhung in der Geschichte der BRD – die sowieso gesunkene Binnenkaufkraft noch weiter abschöpft, ist das der Exportindustrie schließlich egal. Ein kleiner Haken an der Geschichte: sollte sich das Weltwirtschaftswachstum verlangsamen, ist auch Essig mit Exporten!

Die Herstellungskennziffern im deutschen produzierenden Gewerbe gingen im März deutlich zurück. Auch der IWF hat seine Prognosen nach unten korrigiert: Das deutsche Wachstum werde in diesem Jahr nur 1,4 Prozent erreichen und im Jahr 2007 auf 1,0 Prozent abrutschen. Und selbst diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, sie gelten nur dann, wenn es nicht zu einem Kriseneinbruch kommt. Hier setzt der Artikel von Loren Goldner an (Kontinuitäten und Brüche im Niedergang der Dollar-zentrierten Weltakkumulation, S. 66) – dem allerdings an einem Punkt zu widersprechen ist: Die Aufwertung des Euro hat nicht nur Nachteile für die deutsche Exportwirtschaft, sie hat auch Vorteile für die Volkswirtschaft insgesamt (die Importe werden billiger: Wie stark hätten sich Heizöl und Benzin wohl verteuert, wenn der Euro nicht gestiegen wäre!). Außerdem werden drei Viertel der deutschen Exporte bereits jetzt mit Euro bezahlt.

Loren geht auch auf die kapitalistische Lüge der Überbevölkerung ein. Ein Begriff, der auf Malthus, den weltweit ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre zurückgeht. Er stellte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die damalige Massenarbeitslosigkeit als »Überbevölkerung« dar, als Ergebnis ungezügelter Sexualität und Genusssucht der Unterschichten. Er schlug vor, Sozialleistungen komplett einzustellen, und statt dessen das Lebensniveau der Unterschichten durch Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle sicher zu stellen. Leicht zu sehen, bei wem die aktuelle »Unterklassen«-Debatte abgekupfert hat (siehe Wenn Bildung spaltet…, S. 28).

Die These des »demografischen Problems« erklärt die drohende Kostenkatastrophe der Rentenkassen mit der höheren Lebenserwartung der Menschen – und unterschlägt dabei komplett das Produktivitätswachstum. 1991 lebten (gemäß eigenen Angaben) noch 44 Prozent der Deutschen von eigener Arbeit; 2004 waren es nur noch 39 Prozent; im gleichen Zeitraum stieg das Bruttoinlandsprodukt von 1,71 Billionen Euro im Jahr 1994 auf 2,06 Billionen im Jahr 2004 (Quelle: Statistisches Bundesamt).

Proletarische Widerspenstigkeit

Auch dieses Jahr klappt es nicht mit einheimischen Erntehelfern: Im Herbst 2005 verabschiedete die Bundesregierung Eckpunkte für die Zulassung osteuropäischer Saisonbeschäftigter. Danach dürfen Landwirte nur noch 80 Prozent der Erntehelfer, die sie im Jahr zuvor beschäftigt haben, im Ausland rekrutieren. Die restlichen 20 Prozent – mindestens aber 10 Prozent – müssen aus Deutschland kommen und am besten Langzeitarbeitslose sein (notfalls auch »Hausfrauen, Rentner oder Studenten«). Das wären deutschlandweit rund 30 000. Da die Zahlen aber statistisch nicht erfasst wurden, wird geschätzt: zwischen 5000 und 17 000 deutsche Erntehelfer soll es in der Erdbeer- und Spargelernte gegeben haben, in der Gurken- oder Apfelernte könnten sich die Zahlen womöglich erhöhen, da hier nicht so viel Qualifikation erforderlich ist. Die Arbeitsagentur hat sich sehr viel Mühe gegeben. In Ludwigshafen z.B. hat sie zwei Jobmessen veranstaltet und 1200 Arbeitslose eingeladen. 600 kamen, 400 bekundeten ihr Interesse für einen Job als Erntehelfer. 150 nahmen die Arbeit auf; die meisten verschwanden spätestens nach drei Tagen. Für einzelne Bauern war das richtig bitter; sie mussten Gemüse wegen Arbeitskräftemangel unterpflügen.

(Auch der Einsatz von PolInnen als Erntehelfer ist nicht mehr ganz so einfach. Seit Polen in der EU ist, müssen die Betriebe Abgaben an die polnische Sozialversicherung zahlen. Knapp 20 Prozent des Bruttolohns soll der Arbeitgeber, 27 Prozent der Arbeitnehmer zahlen. Für die Polen lohnt sich das dann nicht mehr. Anscheinend haben einige Betriebe in diesem Jahr deshalb auch noch die Arbeitnehmerbeiträge voll oder teilweise übernommen. Nun wollen die Bauern verstärkt HelferInnen aus Rumänien anheuern – Rumäniens EU-Beitritt ist allerdings für 2007 geplant.)

Streikwelle im Öffentlichen Dienst

Was deutsche Gewerkschaften im Konsens mit Regierung und Kapitalisten zu erreichen versuchen – wobei sie zunehmend scheitern –, wird in Frankreich meistens auf der Straße durchgesetzt (siehe Ein kämpferischer Frühling in Frankreich, S. 38). Die deutschen Gewerkschaften sind reicher und größer als die französischen, in der BRD sind über 20 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, in Frankreich 8 Prozent. Die französischen Regierungsparteien sehen das schon lange als Problem. Innenminister Sarkozy und die französische Rechte wünschen sich »deutsche Verhältnisse«: »Unser Problem ist nicht, dass wir zu mächtige Gewerkschaften haben, sondern dass sie zersplittert sind und klein.« – Das Problem, das wir Linke mit den deutschen Gewerkschaften haben, ist nicht, dass sie zu wenig Mitglieder haben. Das sehen nur die Gewerkschaftsführer und -kassierer so. Unser Problem ist, dass die Gewerkschaften in Deutschland staatskonform bis zur Selbstaufgabe sind. Wenn Kapitalisten und öffentliche Arbeitgeber die Flächentarife zerschlagen, schwächt das zwar die Gewerkschaften, gleichzeitig aber auch ihre Tranquilizer-Wirkung. (siehe Wenn 7000 Streikende die Kreuzung blockieren, S. 6)

Außerdem findet Ihr im Heft u.a. eine Einschätzung der Immigrantenbewegung in den USA: Der »Si se puede«-Aufstand (S. 56). Und ein Interview aus der französischen, anarchistischen Wochenzeitschrift Le Monde Libertaire mit zwei Genossen, die gerade aus China zurückgekommen sind: Aus der Göttin Demokratie wurde die Göttin Ware (S. 48).

Das Heft war nur möglich durch eine Neuköllner Aktivistin, die uns den Raum zur Produktion verschaffte. So endet doch wieder alles in Rixdorf.

25. Juni 2006



aus: Wildcat 77, Sommer 2006



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