Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 3–5 [w78_edi.htm]



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Sandra und Karl: Der feine Unterschied

Hartz IV ist erstens ungerecht und zweitens kommt man kaum wieder raus. Die Verteilung der Einkommen wird immer krasser, die Lohnschere geht immer weiter auseinander. Der konjunkturelle Aufschwung ist so gespalten wie nie zuvor. Vor allem Ingenieure und IT-Fachkräfte kriegen kräftige Gehaltserhöhungen, vor allem Ungelernte (ArbeiterInnen) gehen nicht nur leer aus, ihre Löhne sollen weiter sinken, und zwar langfristig! Die Autoindustrie steht vor Produktionsrekorden, dennoch werden allein 2006 15000 Stellen gestrichen. Die BRD wird wieder Exportweltmeister, dennoch steigen die Arbeitskosten hier im EU-Vergleich seit dem Jahr 2000 am geringsten (nämlich um 9,8 Prozent im Vergleich zum EU-Durchschnitt von 22,3 Prozent - Statistisches Bundesamt, 7.12. 2006). Ebenfalls am 7.12. veröffentlichte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit eine Studie, wonach immer mehr Menschen in der BRD ihren Lebensunterhalt mit mehr als einer Beschäftigung verdienen müssen... - Alles Nachrichten aus der bürgerlichen Presse der letzten Tage alles Sachen, die wir Euch nicht mitzuteilen brauchen.

Diskutieren müssten wir aber wahrscheinlich darüber, wie das alles politisch zu verstehen ist.

Anfang Dezember saß Karl Lagerfeld bei Maischberger und weigerte sich beharrlich, wachsende Armut und sich ausbreitende Unterschichten auch nur als Problem zur Kenntnis zu nehmen. Da frug die Sandra: kennen Sie den Begriff Prekariat? Wie aus der Pistole geschossen: Ja, natürlich! Das eine hat mit dem anderen offenbar nicht viel zu tun: hier zeigt sich der Unterschied: Schreiben über die Unterschicht heißt wirklich das: Schreiben über sie, ohne dass sie es je mitbekäme. Schreiben über das Prekariat heißt hingegen: Schreiben für das Prekariat. Denn das Prekariat kann lesen, schreiben und seine Situation analysieren. Es ... verfügt noch über kulturelles Kapital. Daher ist das Prekariat auch eher Bezugspunkt der Debatten über neue Armut in Deutschland als die Unterschicht. schrieb der freitag am 1.12. im Artikel: Der feine Unterschied - Prekariat oder Unterschicht: Die einen schauen arte, die anderen 9live« Mit [letzteren] möchten Prekäre nichts zu tun haben, denn bei denen fehlt es an allem: Bildung, Geld, Perspektive und auch den kulturellen Voraussetzungen zur Veränderung ihrer Lage. Zu der miesen Behandlung durch die staatlichen Fürsorgestellen gesellt sich noch die Verachtung der Prekären, die zwar auf dem gleichen Flur auf die Fürsorge warten, dabei aber nicht /Bild/ lesen, sondern Beckett.«

Deutschlands Mittelschichten sprechen heute über Arbeitslose, als wären sie Kriminelle. In der öffentlichen Debatte gelten sie entweder als Opfer oder als Mitschuldige an der sozialen Krise. Statt Angst vor den Unterschichten herrschen inzwischen Bedenken vor, dass sie ein Klotz am Bein sind, dass wegen ihnen womöglich der Aufschwung nicht von Dauer sei. Der Umgang der zuständigen Institutionen mit HartzIV-EmpfängerInnen geht vielerorts über rotzfrech deutlich hinaus. In Großbritannien diskutieren GenossInnen über den gemeinsamen Kampf von Arbeitsamtsbeschäftigten und Arbeitslosen in der BRD sieht das anders aus! Mehrheitlich vollziehen ARGE-Beschäftigte den Schwenk vom Sozialversicherungsstaat zum Almosen- und Suppenküchenstaat mit, oder forcieren ihn sogar durch vorauseilenden Gehorsam. Hartz IV soll Armut normal werden lassen; es ist kein arbeitsmarktpolitisches, sondern ein gesellschaftspolitisches Projekt.

Der Prekariatsdiskurs bezieht sich nicht auf den Klassenkampf, er verabschiedet sich von ihm.

Während immer mehr Leute in Armut abrutschen, wird immer stärker die Ideologie von persönlichem Aufstieg und individueller Befreiung gepuscht. Arbeiter zu sein ist dagegen so was wie der Beweis der eigenen Unfähigkeit. (S. 23 ff.) Die Forderung nach einem garantierten Einkommen will daran auch gar nichts ändern; sie arbeitet mit dem Argument, dass die Arbeitsbedingungen in den Betrieben nicht veränderbar seien - außer in extremen Fällen, die sie dann aber unter dem Aspekt 'Menschenrechte' thematisieren. Gegen solche Positionen versucht der Artikel mit dem Begriff der migrantischen Arbeit wieder einen kollektiven Standpunkt zu skizzieren. Für die eigenen Interessen kämpfen, offensive Forderungen aufstellen nur das könnte den Klassenkampf wieder zum Motor der Geschichte machen.

Die »soziale Frage ist allgegenwärtig. Es finden mehr Diskussionen über Lohnschere, Armut, Verlagerung usw. statt. Aber der Mittelpunkt, der das alles zu einer gemeinsamen Frage machen könnte, ist verloren gegangen. Seit zwei oder drei Jahrzehnten sind die ArbeiterInnen in einer Spirale nach unten - je nachdem, ob man die politische, die zahlenmäßige oder die finanzielle Seite betrachtet. Nicht nur im weitesten Sinn von »alle Lohnabhängigen«, sondern noch viel mehr im engsten Sinn von »IndustriearbeiterInnen«. (S. 13 f.)

Auch ERA lässt die »Arbeiter« verschwinden. (ERA = Entgeltrahmen-Tarifvertrag zwischen der IG Metall und dem Metall-Arbeitgeberverband) Im Film »Porto Marghera – die letzten Feuer« sieht man, dass Gleichstellung mit den Angestellten eine wichtige Forderungen in den 50er und 60er Jahren war. ERA hebt die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten auf, aber was als Gleichstellung ausgegeben wird, wird von den Unternehmern zu massiven Abgruppierungen insbesonders von FacharbeiterInnen ausgenutzt. Meist wird die Umgruppierung gleich mit einer Leistungsbeurteilung verbunden und die Löhne um einige hundert Euro im Monat gedrückt. Auch wenn bei den jetzt Beschäftigten maximal 10 Prozent vom Brutto geklaut wird - Neueingestellte trifft es voll und sofort. Dagegen wächst die helle Empörung, die sich in den letzten Wochen in einigen Werken zu Protestaktionen verdichtet hat (bei DaimlerChrysler z.B. in Untertürkheim, Mannheim, Marienfelde und Mannheim). Das war allerdings zu knapp fürs Heft. Auf labournet könnt Ihr Euch aktuell informieren.

2006 wird nach 1992 das Jahr mit den meisten Streiks seit der Wiedervereinigung sein. Aber so wie die damalige Streikwelle (Fackelmärsche zum Landtag, Hungerstreiks um Arbeitsplätze) letztendlich die Durchsetzungsform der Deindustrialisierung breiter Teile der DDR war, so könnte die jetzige Streikwelle nur die Abwicklungsform des multinationalen Massenarbeiters in der BRD sein. Oder stecken irgendwo neue Impulse? Was kann unsere Rolle sein? Welche Erfahrungen werden in diesen Streiks gemacht? Das Heft fängt mit einer glasklaren Analyse von Mouvement Communiste an: Betriebsschließungen kann man nicht verhindern, man kann nur möglichst viel Abfindungen rausholen und endet mit einem Kampf gegen Betriebsschließung, der beinahe Erfolg gehabt hätte. Dabei hat es den BSH-ArbeiterInnen so ziemlich an allem gefehlt, was die bei Opel vor zwei Jahren hatten: Unterstützung durch soziale Netze im Kiez und Strukturen, die den Kampf tragen. Und wie bei Opel so auch diesmal fehlte die Unterstützung durch die linke Szene. Ein altgedienter Aktivist, der es zwei Monate lang nicht hingekriegt hatte, mit der U-Bahn von Kreuzberg zum Streik in Spandau zu fahren, schickte eine Woche nach dem bitteren Ende des Streiks bei BSH folgenden »superdringenden« Aufruf über eine Mailingsliste: »wir brauchen dringend eure Hilfe für eine weltweite Aktion am Mittwoch ... für bessere Löhne und grundlegende ArbeitnehmerInnenrechte streikende Reinigungskräfte in Houston/Texas zu unterstützen. Vielen von ihnen droht nun die Abschiebung, da sie ohne Papiere in den US. arbeiten und leben.« Ein anderer Aktivist antwortete auf die Frage, ob er... »Nein ich war nicht bei BSH in Spandau. Hab ich erstens nicht geschafft und zweitens war ich auch nicht so motiviert. Einerseits finde ich es schon interessant, mal mit Leuten vor Ort selber zu reden, andererseits muss ich sagen, dass diese Art von Abwehrkämpfen mich seit 30 Jahren begleitet, und ich glaube nicht (mehr), dass in diesen Auseinandersetzungen was entsteht, was uns wirklich weiter bringt.«

posting auf indymedia: »Die Linke (was auch immer dieser Ausdruck bedeutet) ist immer so fasziniert und angetan von den Werksbesetzungen in Argentinien und Mexiko, sehnt sich eine gesamtgesellschaftliche Bewegung gegen den Sozialabbau und den fortschreitenden Neoliberalismus herbei. Was vor der eigenen Haustür passiert, und dass dieses Geschehen das Potenzial in sich trägt, weitreichend zu wirken, wird oftmals ignoriert. Wer erlebt, wie sehr sich die Menschen im BSH-Werk über gesamtgesellschaftliche Strukturen und Vorgänge bewusst sind, der sollte darüber nachdenken, welche Rolle eine weitergehende Unterstützung der Vorgänge im BSH-Berlin haben könnte. Wenn sich die einzelnen gesellschaftlichen Kämpfe nicht untereinander solidarisieren, die Betroffenen nicht miteinander kommunizieren, dann wird jede Form von Widerstand in der Vereinzelung absterben.«

Keinen Beitrag zu dieser Frage liefert das Buch des Unrast-Verlags Klassen und Kämpfe. Wir wollten es in diesem Heft besprechen, haben aber gemerkt, dass eine genaue Auseinandersetzung sehr viele Punkte berühren muss - Besprechung kommt also nächstes Mal. Solange könnt Ihr vielleicht mit dem eleganten Verriss von »I.M. zimmerwald« auf trendonline vorlieb nehmen.

Wenn's ganz blöd weiter läuft, wendet sich die Linke von den ArbeiterInnen ab und den Gewerkschaften zu kriegen die traditionellen Gewerkschaften frischen Wind von Linken und Linksradikalen eingehaucht? (siehe organizing S. 18 ff.)

Dabei hat der unbekannte poster auf indymedia durchaus recht: Die Diskussionen der BSH-ArbeiterInnen sind absolut auf der Höhe der Zeit. Wir dokumentieren ihren Streik, ihre Erfahrungen und Diskussionen (S. 39 ff.). Dazu haben wir haben aus mehreren Gesprächen Texte zusammengesetzt und Namen und Alter geändert, um die Leute zu schützen. Was wir zusammengestellt haben, ist nur ein Anfang.

Aber obwohl in den Streiks viele Erfahrungen gemacht werden wenn die Leute entlassen werden, können sich diese Erfahrungen nicht kollektiv bündeln, und wenn zwischen einem Streik und dem nächsten eine ganze Generation vergeht, können sie auch nicht aufeinander aufbauen. Vor allem aber schaffen sie es nicht, die Kontrolle durch die Gewerkschaften abzuschütteln. Die BSH-ArbeiterInnen brauchten nicht Financial Times Deutschland zu lesen, das Ende Oktober schrieb: »Die BenQ-Geschichte ist damit ein schlagendes Argument..., Lohnkürzungen zur angeblichen Rettung eines Betriebs nicht zuzustimmen.« Das hatten sie auch schon vorher gewusst, genau gegen diese Logik hatten sie zu kämpfen versucht.

Im Heft klebt ein DVD cover mit einem booklet (für die AbonnentInnen steckt auch eine DVD mit zwei Filmen im cover). Hiermit versuchen wir, Kampf- und Organisierungserfahrungen in den Arbeiterkämpfen Ende der 60er Jahre in Italien für heute fruchtbar zu machen. Dazu drucken wir auch Auszüge aus einem Interview mit einem der damaligen Aktivisten ab (S. 26 ff.). Wir haben schon mehrere Veranstaltungen mit diesen Filmen gemacht und machen auch gerne bei Euch eine: Infos. Anfragen an: redaktion@wildcat-www.de

Mitte November, Polen: ein Anarchopunk löst einen landesweiten wilden Streik der BriefträgerInnen aus (S. 33 ff.) Mitte Dezember, BRD: ver.di bereitet mit Flugblättern die Postler darauf vor, sich ab Januar zum Streik bereit zu machen. Ab 15. Januar werde es in Rheinland-Pfalz und im Saarland, ab dem 19. Januar bundesweit zunächst Warnstreiks geben, sagte ein Gewerkschaftssprecher. Anschließend möglicherweise »Vollstreiks«. (Hintergrund ist die geplante längere Wochenarbeitszeit für die rund 60 000 Beamten bei der Deutschen Post. Sie sollen künftig 41 Stunden in der Woche arbeiten - statt bisher 38,5 Stunden.) Ein weiterer Streik, an dessen Ende Verschlechterungen stehen werden. Ein weiterer Streik, der dem Arbeitgeber nicht allzu sehr weh tun soll. Ein weiterer Streik, der in die Statistik eingeht... ?

Vielleicht müssen wieder europäischen Streikbewegungen in die BRD reinschwappen. Bei VW sieht es im Moment nicht danach aus (bitte umblättern).