Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 26–32 [w78_gianni.htm]



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»Wir hatten die fixe Idee, dass wir keine Vertreter (sein) wollten«

 

Gianni Sbrogiò war seit 1967 Aktivist von Potere Operaio und des Arbeiterkomitee Porto Marghera, später der Autonomen Versammlung Porto Marghera. Er arbeitete von 1968 bis zu seiner Verhaftung 1980 in der Zinkfabrik Ammi in Porto Marghera als Buchhalter.

Ein weiterer Teil des Interviews ist im Booklet zur DVD. Dort findet Ihr im Glossar eine Erklärung der hier verwendeten Namen und Begriffe..

 

Organisationsformen

»Classe Operaia gründete die Potere Operaio-Gruppe von Porto Marghera im Sommer 1967«. Was heißt das? Hattet Ihr regelmäßige Treffen, einen festen Ort als Treffpunkt?

Die »Gründung« hieß, dass ein stabiler Kontakt zwischen den Intellektuellen von Potop und vielen anderen und den Arbeitern des Petrolchimico entstand. Die Arbeiter des Petrolchimico trafen sich mit den Intellektuellen zu Diskussionen. Das waren keine regelmäßigen Versammlungen, sondern wir haben uns getroffen, um zu diskutieren oder Dinge zu organisieren, z.B. um den Produktionszyklus zu analysieren oder darüber zu diskutieren, wie ein bestimmter Kampf zu führen war. Dazu haben wir Räume in der Nähe der Fabrik angemietet, die wir dann bis Anfang der 80er Jahre behalten haben.

Waren das Arbeiterkomitee von Porto Marghera und die Potop Gruppe von Porto Marghera das gleiche?

Die Potop-Gruppe waren wir: diejenigen, die den Kontakt zu den intellektuellen Operaisten von Potere Operaio aufgenommen hatten. Um die Linie von Potop in die Fabriken hineinzutragen, gründeten wir als weitere Gruppierung das Arbeiterkomitee von Porto Marghera. Da waren auch viele Arbeiter dabei, die niemals bei einem nationalen Treffen von Potop waren, aber wussten, dass sie zu einer Struktur gehörten, die irgendwie mit Potop zusammenhing. Die ersten Kontakte haben wir mit sieben, acht Arbeitern hergestellt. Dann wurde der organisatorische Kern – nennen wir ihn die »Aktivisten« – größer. Aber wir waren nie mehrere hundert Leute. Obwohl wir so wenige waren, ist es uns gelungen, ganze Abteilungen zu organisieren, und 1968 sogar die ganze Fabrik. In unseren Räumen haben wir uns im kleinen Kreis getroffen, um Entscheidungen zu fällen. Wir haben dort aber auch Abteilungsversammlungen abgehalten, wo wir z.B. die Arbeitszeitverkürzung oder den Kampf um die Qualifikationen organisiert haben. Das war kein geschlossenes Büro, sondern die Räume konnten von allen genutzt werden. Eingeladen haben wir über Mundpropaganda in den Abteilungen: »Heute Abend treffen wir uns, um über dieses oder jenes Problem zu reden, kommt!« Und die Versammlung bestand aus denen, die kamen. In jeder Fabrik gab es einen Verantwortlichen mit einem Schlüssel für die Tür, damit man Treffen oder Flugblätter machen konnte.

Wer hat die Flugblätter gemacht? Ihr selber? Oder haben die Intellektuellen aus Padua gesagt: »Das muss so und so geschrieben werden…«?

Ein Flugblatt wurde jeweils von demjenigen gemacht, der das übernommen hatte. So etwa 1967 sagte mein Bruder zu mir: »Dieses Flugblatt schreibst Du!« Es war eine Art, mir Verantwortung zu übertragen, es war mein erstes. Als ich fertig war, trafen wir uns, um es zu diskutieren. Am Ende haben sie es komplett geändert. So wie ich das Flugblatt geschrieben hatte, war es nicht gut. Am Anfang hatten manche das Lesen und Schreiben natürlich besser drauf, und die Texte wurden nach einer Diskussion in der Versammlung von den Intellektuellen geschrieben, von den Studenten aus Padua, natürlich mit den Informationen, die wir ihnen gaben. Je mehr Erfahrung wir bei Ammi hatten, desto mehr schrieben wir selber. Wir hatten eine Abzugsmaschine und lernten den Umgang damit. Wenn mehrere tausend Flugblätter gemacht werden mussten, kamen natürlich Leute zu Hilfe. Kaum Frauen, unsere »Engel der Abzugsmaschine«, wie man sie damals nannte, waren Männer. Denn in Porto Marghera haben damals in den Metall- und Chemiefabriken fast nur Männer gearbeitet, auch in den Büros, höchstens in der Kantine waren Frauen. Später hat sich das geändert.

Wie habt Ihr Euch auf nationaler Ebene organisiert?

Wir haben mehrere große Treffen organisiert, auch nationale. Auf denen waren auch Negri, Piperno und viele andere. Wir haben versucht, eine italienweit tragfähige Linie herauszudiskutieren. Das hatte jeder von uns im Kopf, auch wenn es nicht praktisch umsetzen ließ. Wir aus Marghera waren am Anfang typische Fabrikisten, die Mailänder hatten ihre ins Soziale ausgeweiteten Bewegungsthemen, die Turiner haben sich mit Fiat identifiziert, die Römer mit den Bauarbeitern und Studenten … das war überhaupt nicht homogen. Wenn man die Zeitung Potere Operaio von damals liest, sieht man, dass es viele Linien gab und wir es nie geschafft haben, sie zu vereinheitlichen.

Welches Verhältnis bestand zwischen Euch und den Arbeiteraktionen? Habt Ihr bestimmte Aktionen vorbereitet? Habt Ihr darüber vorher oder hinterher diskutiert?

Sowohl als auch. Nehmen wir als konkretes Beispiel den Kampf um die 5000 Lire Produktionsprämie für alle 1968/69. Zur Vorbereitung hatten wir viele Treffen, um zu sehen, wie es besser funktioniert. Daran nahmen Arbeiter und die sogenannten Intellektuellen teil, Studenten und Professoren, eben alle, die damals dabei waren. Während des Kampfs um die 36-Stunden-Woche zum Beispiel war unser Büro nicht nur wie üblich ab 17 Uhr geöffnet, sondern auch um Mitternacht, um mit den Schichtarbeitern aus der Spätschicht von 14 bis 22 Uhr und aus der Nachtschicht diskutieren zu können.

Zu Anfang konnten im Komitee auch Intellektuelle von außen mitmachen?

Ja! Versteh mich richtig, wir hatten weder ein Statut noch Mitgliedsausweise. Es war sehr bewegungsmäßig damals. Wie weit sich jemand in die Gruppe einbrachte, hing von seinem eigenen Willen ab, von seiner Intelligenz, von seiner Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Dann gab es welche, die zwar bei den Kämpfen mitmachten, aber mit Organisierung nichts am Hut hatten. Am Ende waren wir immer wenige … 15 Genossen oder ein paar mehr, die sich im Grunde für alles verantwortlich fühlten. Zu den Intellektuellen hatten wir immer Kontakt. Statt von »Intellektuellen« würde ich eher von »Internen« und »Externen« sprechen. »Intern« hieß, selbst in einer Kampfsituation zu sein, sei es in der Schule, der Fabrik oder im Stadtviertel, autoriduzione zu praktizieren, die Arbeitszeit zu verkürzen, für die 36-Stunden-Woche oder gegen die Gesundheitsschädlichkeit zu kämpfen. Die »Externen« waren Aktivisten bei Potop oder im Arbeiterkomitee von Porto Marghera, gingen aber einer anderen Arbeit nach, d.h. steckten im Moment nicht selbst in dieser Kampfsituation. Es gab natürlich ein Verhältnis von Geben und Nehmen, wo jeder auf seine Weise versuchte dazu beizutragen, die richtige Linie zu finden. So hat das funktioniert, egal ob der externe Genosse Arzt war oder auf verlorenem Posten in irgendeiner Klitsche arbeitete, wo er alleine nichts ausrichten konnte, oder ob das Negri war oder andere Intellektuelle aus Padua und sonstwo.

Wie entstand die Autonome Versammlung von Porto Marghera?

Die Autonome Versammlung entstand, als wir angefangen haben, zu anderen Fabrikgruppen Kontakt aufzunehmen, die nicht bei Potop waren. Das war 1972, als die Arbeiter des Petrolchimico die Annahme des Chemie-Tarifvertrags abgelehnt haben. Wir haben versucht, diese Unzufriedenheit zu organisieren und für die Ausweitung der Wut zu sorgen. Dazu haben wir auch Arbeiter von Lotta Continua und Unorganisierte angesprochen, die ihren Gewerkschaftsausweis zerrissen hatten. So ist die Autonome Versammlung entstanden. Autonom hieß für uns: autonom von politischen Gruppen, autonom von der Gewerkschaft, autonom von den Parteien, d.h. die Organisation sollte gleichzeitig Massenorganisation und politische Organisation sein. Wir haben damals nicht bei Null angefangen, sondern versucht, uns mit unseren Erfahrungen aus den vorherigen Kämpfen in dieser neuen Struktur neu zu organisieren – mit denen, die damals da waren. Die Räume von Potop wurden von der Autonomen Versammlung übernommen. Wir haben uns aber auch in den neuen sozialen Zentren in Marghera getroffen. Damals haben wir uns stark ausgeweitet. Es haben sich mehr Arbeiter beteiligt, weil auch viele dabei waren, die nicht in politischen Gruppen organisiert waren. Diese Organisationsstruktur haben wir geschaffen, als die ganzen politischen Gruppen in die Krise gekommen waren. Wir haben mit der Herausgabe unserer Zeitung Lavoro Zero [Null-Arbeit] angefangen, die wir von Wachsmatritzen abgezogen .

Habt Ihr auch mit der Untersuchung weiter gemacht?

Für uns hat sich immer alles um die Arbeiteruntersuchung gedreht, das war sozusagen die operaistische Grundanschauung. Wo wir hinkamen, war das unsere erste Sorge: in jeder Fabrik ging es erstmal darum, den Produktionszyklus kennenzulernen, Kontakt zu denen zu bekommen, die in diesem Zyklus etwas begriffen hatten, die etwas verändern wollten, die Forderungen hatten. So sind wir immer vorgegangen. Im Zentrum stand immer die Analyse des Arbeitsprozesses. Wir waren Operaisten von unserer Entstehung bis zum Ende.

Wie kam es zu dieser harten Haltung gegen Externe ab 1973? Gab es Linienkämpfe?

Das war die Zeit der Krise der politischen Gruppen. Wir von Potop waren 1973 nur die ersten, kurz danach kam auch die Krise von Lotta Continua. Bei Potop konnten wir die ständigen Versuche der Gruppe, organisatorische und politisch-inhaltliche Sprünge nach vorn zu machen, in der Fabrik einfach nicht mehr umsetzen. Deshalb entschieden wir, auf Distanz zu gehen, aber den politischen Dialog aufrechtzuerhalten.

Einer der Hauptgründe für das Ende der Gruppen ist meiner Ansicht nach die Diskussion über die Kampfformen gewesen, als die bewaffneten Aktionen losgingen. Wir hatten selbst überlegt, dass es einen Sprung im Kampf, in den Kampfformen, die wir organisierten, geben müsste, aber am Ende passierte genau das, was wir nie gewollt hatten und was auch Potop nicht gewollt hatte, nämlich die Entkopplung von ökonomischem und politischem Kampf. An einem bestimmten Punkt gab es einerseits den gewerkschaftlichen Kampf, und anderswo wurde eine politische Entscheidung getroffen, und zwar eine politisch-militärische. Deshalb hatten wir das Bedürfnis, Beziehungen zu anderen Fabrikgruppen außerhalb der Organisation aufzubauen. Wir nahmen Kontakt zu Arbeitern von Alfa Romeo, Pirelli und Siemens in Mailand auf, zu den Volsci in Rom und zu Arbeitern in anderen Städten. Das ging Ende 1972 los. Wir haben zusammen eine Zeitung gemacht, einen Kongress in Bologna organisiert, verschiedene Treffen veranstaltet. Und auch was Interne und Externe betrifft, haben wir versucht rigide zu sein. Wer als Delegierter zu den nationalen Treffen ging, musste in einer Fabrik arbeiten, also »Interner« in einer Kampfsituation sein. An diesem Punkt waren wir alle sehr streng geworden. Dieser Versuch ging zwei oder drei Jahre lang. Dann stellten sich wieder die gleichen Probleme. Ab 1975 haben wir nationale Treffen ausfallen lassen und nach und nach damit aufgehört. Das hatte auch mit inneren Krisen zu tun, vor allem aber damit, dass auf nationaler Ebene wieder dieselbe Logik der Zentralisierung, einer nationalen politischen Linie, losging. Diese Phase von Versammlungen und Koordinationen von autonomen Versammlungen ging über in eine Phase, in der von Organisierter Arbeiterautonomie die Rede war. Da machten wir nicht mit. Wir waren nicht für die Partei. Für uns war »Partei« die Struktur, mit der man den politischen Kampf und den Fabrikkampf zusammenbringen konnte, die Möglichkeit der Verallgemeinerung. Für uns war die Partei dieser Massenorganismus, der selbst die Dinge in die Hand nahm. Das hat nicht funktioniert, und deshalb waren wir nicht mehr dabei, als der Kampf auf eine höhere Ebene gehoben wurde. Sowohl damals bei Potop wie später bei der Autonomia Operaia Organizzata standen wir damit auf der Verliererseite. Wir galten als welche, die sich für etwas anderes entschieden hatten, nämlich dafür, lokal weiterzumachen. Dabei würde ich das gar nicht als Lokalismus sehen! Es war einfach eine andere Art sich zu organisieren, nicht wie vorher Potop und nachher die Autonomia Operaia Organizzata.

Intellektuelle – Arbeiter, Externe – Interne

Nochmal zum Verhältnis Intellektuelle – Arbeiter. Das war eine fruchtbare aber auch konfliktbeladene Beziehung. Wer hat mehr gelernt? Wie habt Ihr konkret zusammen gearbeitet?

Potop bestand wie alle außerparlamentarischen Gruppen damals vor allem aus Studenten und Professoren. Sie alle und speziell die operaistischen Gruppen Potere Operaio und Lotta Continua haben es nicht geschafft, sich erfolgreich in der Fabrik zu verankern. Bei Potop gab es auch Arbeiter, aber nur wenige. Die größte Gruppe war in Marghera, dann gab es welche in Mailand, bei Fiat in Turin, bei Fatme in Rom und in anderen Betrieben. Die Arbeiter waren sicherlich nicht die vorherrschende soziale Gruppe bei Potop. Aber unser Problem war irgendwann gar nicht so sehr das Verhältnis zwischen Arbeitern und Intellektuellen, sondern das zwischen Leuten im Betrieb und Leuten von außerhalb.

Eine der interessantesten Sachen im Interview mit Augusto Finzi [der zweite Film auf der DVD] ist Euer Versuch, Euch ohne politische Schicht zu organisieren ….

Das war immer unsere fixe Idee. Eine Idee, die wir mit der Autonomen Versammlung umgesetzt haben. Wir hatten immer diese fixe Idee, dass wir keine Vertreter wollten. Wir wollten, dass die Arbeiter nicht die Verantwortung an andere übertragen, an die Gewerkschaft, an die politische Partei, an eine Struktur, die anders war als wir selbst. Das haben wir immer vertreten, und unser großer politischer Kummer sowohl als Potop als auch als Arbeiterkomitee von Porto Marghera oder als Autonome Versammlung von Porto Marghera war, dass die anderen Arbeiter letztlich an uns delegiert haben. Das hat uns immer in die Krise gebracht, weil wir keine Stellvertreterpolitik wollten, die Arbeiter sie uns letztlich aber antrugen. Wir wollten, dass diese Arbeiter, die ja mit einem gewissen Maß an Diskussionen und Forderungen einverstanden waren, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nahmen, von A bis Z, vom Kampf bis zum Aufstellen von politischen Forderungen.

Ihr wart Euch da aber nicht immer einig. Germano Mariti redet im Dokumentarfilm sehr positiv über die Abteilungsdelegierten und über den Fabrikrat. Er sieht beides als Errungenschaften der Arbeiter. Dagegen sieht Augusto Finzi, dass die Gewerkschaft über diesen Mechanismus wieder die Kontrolle über die Kämpfe zurückgewinnt.

Ja, da wohnten zwei Seelen in unserer Brust. Die Fabrikräte entstanden in Italien 1969, am Ende eines großen Kampfzyklus, und politisch waren sie auch der institutionelle Versuch der Gewerkschaft, den Deckel auf die Kämpfe außerhalb der Gewerkschaft entstandenen draufzumachen. Für viele in der Gewerkschaft organisierte Arbeiter waren sie eine Möglichkeit, demokratisch miteinander zu diskutieren. Entstanden sind die Fabrikräte aus einem Bedürfnis der Basis, aber dann brauchte sie die Führung, um irgendwie organisatorisch auf die Arbeiterkämpfe Einfluss zu nehmen. Potop war komplett dagegen, d.h. die Linie war, dass der Fabrikrat eine Struktur in der Hand der Gewerkschaft war und ihr nützte. In Marghera gab es eine große Debatte über dieses Thema. Wir hatten einerseits die Einschätzung, dass die Fabrikräte entstanden waren, um die Fabrikkämpfe zu integrieren. Andererseits sahen wir, dass die Arbeiter sie benutzten, und deshalb akzeptierten wir – obwohl wir überhaupt nicht in den Fabrikrat wollten – dieses Organ, um das zu sagen, was wir zu sagen hatten. Mit anderen Worten: als wir in den Fabrikrat gewählt wurden (bei Ammi wurde Germano zum Abteilungsdelegierten gewählt und ich zum Vertreter der Angestellten), wussten wir, dass es drauf ankam, außerhalb des Fabrikrats organisiert zu sein, dass wir die außerhalb festgelegte sogenannte politische Linie, unsere eigenen Ziele in den Fabrikrat hineintragen mussten, damit er sie übernahm. Unser politisches Ziel war die Organisierung der Autonomie der Arbeiterklasse. Am Ende wurden die Fabrikräte, die als demokratische Möglichkeit, die Basisbedürfnisse der Arbeiter voranzubringen, entstanden waren, immer mehr zum Instrument des Gewerkschaftsapparates; anders als zu Anfang mussten sie zum Teil aus Gewerkschaftsmitgliedern bestehen. Seit dem Pakt zwischen den drei Gewerkschaftsverbänden kam dann eine noch restriktivere Phase, die die Fabrikräte weiter bürokratisierte. Der Fabrikratsvorstand, in dem letztlich die Entscheidungen gefällt wurden, setzte sich selten Ziele, die von der offiziellen Gewerkschaftslinie abwichen.

Krise und Grenze des Arbeiterkampfs

1973 stießen alle Arbeiterkämpfe an ihre Grenzen, innere Grenzen der Kämpfe, aber auch theoretische Grenzen. Dann begann der theoretische Niedergang mit dem »gesellschaftlichen Arbeiter«, der »immateriellen Arbeit«, dem »Ende des Wertgesetzes« usw., mit den politisch-militärischen Versuchen, die Spannung der Arbeiterkämpfe zu verlängern, mit all diesen Abkürzungen zur Revolution. Die Repression nach dem 7. April konnte dann die Reste abräumen…

Ich glaube, dass wir in der Zeit von 1968 bis 1973 eine gewisse Macht auf politischer und Forderungsebene hatten. Es ist uns gelungen, autonome Kämpfe zu organisieren, die sich vor allem um den Lohn und die Arbeitszeit drehten und allgemeiner um die materiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Die Arbeiter haben mitgemacht und sich an den Kämpfen beteiligt. Wir hatten dabei auch die Vorstellung, die Revolution voranzubringen; sie sahen, dass sie sich organisieren und ihre Lebensbedingungen verbessern konnten. Diese Phase hat auch der Gewerkschaft genützt, weil sie ihr die Möglichkeit gab, sich zu verändern. Vorher war sie eine geschlossene Struktur, die als Transmissionsriemen der Kommunistischen Partei organisiert war. Über die von uns aufgestellten Ziele und Forderungen ist es ihr gelungen, sich den Bedürfnissen der Arbeiter anzunähern. Das kapitalistische System in Italien war in einer Boomphase. Wir haben Forderungen aufgestellt und meistens das bekommen, was wir verlangten. Ich glaube nicht, dass der Grund für die darauf folgende Krise darin zu suchen ist, dass Potop von der Phase der Lohnforderungen und Arbeitsverweigerung zur Phase des gesellschaftlichen Arbeiters übergegangen ist. Tatsächlich haben auch wir in Marghera über den gesellschaftlichen Arbeiter diskutiert, wir hielten das nicht für falsch, denn wir sahen ja, dass die Ausbeutung nicht nur in der Fabrik stattfand, sondern auch mitten in der Gesellschaft, damals ging es gerade los mit den prekären Arbeitsverhältnissen. Und deshalb dachten wir, dass es Fabrikismus und nicht Operaismus bedeutet hätte, wenn wir uns in der Fabrik eingeschlossen hätten. Dieser Übergang vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter entsprach meiner Ansicht nach den realen gesellschaftlichen Entwicklungen. Dass es uns nicht mehr gelang, auf die Fabrikkämpfe einzuwirken, lag daran, dass Kapital, Staat und die reformistischen Parteien dieselben Gedanken und Ziele verfolgten. In der Phase vorher sind uns im Guten wie im Schlechten immer mal wieder die Gewerkschaft und dann die Partei gefolgt, und wir waren häufig diejenigen, die eine Forderung aufstellten, d.h. wir nahmen die Forderung vorweg, die sie sich dann auf betrieblicher oder lokaler oder nationaler Ebene zu eigen machten. Zum Beispiel die Verkürzung der Arbeitszeit der Chemiearbeiter auf 36 Stunden, die von Porto Marghera ausgegangen war. In der anschließenden kapitalistischen Krise setzten sich in den reformistischen Parteien und in der Gewerkschaft aber diejenigen durch, die vollständig die kapitalistische Politik der Zugeständnisse akzeptierten.

Begann das mit der Krise 1973 oder mit der EUR-Linie?

Das begann mit der EUR-Politik. 1975/76 fingen sie an, alle automatischen Lohnerhöhungen zu kippen. Statt die Löhne um ein paar Prozent abzusenken, wurden die automatischen Lohnerhöhungen gekippt, die du erhalten hattest, ohne dafür kämpfen zu müssen. Dieser Mechanismus hatte es uns ermöglicht, für weitergehende Forderungen zu kämpfen. Für die Umverteilung der Produktivitätssteigerungen zum Beispiel. Während der Restrukturierung bei Ammi haben wir genau diese Diskussion geführt. Es klingt wie eine Provokation, aber wir sagten: Wenn wir vorher mit 650 Arbeitern 40 000 Tonnen Zink pro Jahr produziert haben und sie jetzt wollen, dass wir 60 000 Tonnen herstellen, dann müssen wir 1000 Arbeiter sein, die kürzer arbeiten. Nur so haben die Arbeiter etwas von der Restrukturierung, ansonsten bedeutet sie nur größere Ausbeutung, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für die Fabrik nebenan und für die ganze Welt. Später hat dann die Linke die Logik akzeptiert, dass man zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit Opfer bringen muss. Um wettbewerbsfähiger zu sein, müssen die Preise sinken, und das geht nur, wenn die Arbeitskosten sinken.

Diese automatische Lohnanpassung war ursprünglich eingeführt worden, um die Kämpfe auszubremsen…

… aber dann konnten wir dank dieses Automatismus Kämpfe organisieren, um mehr zu kriegen. Das sind die zwei Seiten der Medaille. Wir haben im Betrieb genau so diskutiert: sie wollen die automatische Lohnanpassung abschaffen, um uns zu zwingen, für das zu kämpfen, was sie uns vorher automatisch gegeben hatten. Sie wollen nicht, dass wir unseren Kampf benutzen, um unsere Macht auszuweiten. Das war 1975/76. Der Historische Kompromiss war nicht nur ein Pakt auf institutioneller Ebene, um den PCI in die Regierung zu bringen, sondern er war gerade auch ein Kompromiss auf Kosten der Arbeiter. Uns war es damals gelungen, den Kampf in der Fabrik mit dem Kampf auf dem sozialen Terrain zu verbinden: für die Autoriduzione, für bessere und billigere Wohnungen, für die Niedrighaltung der Preise. Aber in der Fabrik konnten wir keine Kämpfe mehr wie bisher organisieren, denn wir hatten effektiv alle gegen uns. Auf einmal wurden Diskussionen geführt, die kurz zuvor nie durchgegangen wären, wie zum Beispiel, dass die Lohnanpassung der Grund für die Preiserhöhungen sei und nicht umgekehrt.

»Lohn-Preis-Spirale« hieß das bei uns…

Nach 1976 wurden wir zermalmt in einer Zange, was zur Folge hatte, dass sich die Autonomie, der autonome Kampf der Arbeiterklasse nicht mehr organisieren konnte. Wir haben nicht beschlossen, den Kampf in der Fabrik sein zu lassen und in die Stadtteile zu gehen, sondern wir haben überlegt, dass wir in der damaligen Situation mit dem Kampf im Stadtteil den Kampf in der Fabrik stärken könnten. Der Fabrikkampf wurde von allen boykottiert: von der Gewerkschaft und der reformistischen Partei, und wir haben es nicht geschafft, diese Zange zu zerbrechen.

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre wart Ihr in der Lage, all diese Kämpfe ohne Gewerkschaft zu organisieren. Und jetzt sagst Du, dass die Gewerkschaft Euch 1975/76 boykottiert hat und Ihr deshalb nicht mehr in der Lage wart…. Da muss sich doch noch etwas anderes geändert haben…

Meiner Ansicht nach der kapitalistische Zyklus. In der Boomphase brauchte es wenig Kraft, wenig Organisation, um auch einen Kampf mit linksradikalen Forderungen zu führen, außerhalb der Spielregeln und der gewerkschaftlichen Organisierung. Unsere eigenen Bedürfnisse waren unsere Ziele. Gewerkschaft und Partei nannten uns korporatistisch, weil wir die materiellen Bedürfnisse der Arbeiterklasse vortrugen und nicht als »allgemeine Klasse« gelten wollten, die den Staat rettet. Aber offensichtlich waren wir damals in einer Boomphase und konnten das tun. Dann hat der Staat die Krise und die internationale Arbeitsteilung mit ihrer erbarmungslosen Konkurrenz benutzt, offensichtlich mit der politischen Hilfe und Zustimmung von Gewerkschaft und Partei.

Dann kam die Repression vom 7. April 1979…

Die Autonomie der Arbeiterklasse konnte sich nicht gegen die Politik der Zugeständnisse durchsetzen. In dieser blockierten Situation dachten einige linke Organisationen, der bewaffnete Angriff auf den Staat und die Institutionen könnte diese Lücke füllen und die Erstarrung der sozialen Bewegung und der Arbeiterbewegung überbrücken. Das Ergebnis war, dass sich der repressive Kreis schloss. Auf der einen Seite waren die Vertreter des bewaffneten Kampfes, auf der anderen Seite waren die Gewerkschaft und die Partei, die uns nicht erlaubten, für unsere Ziele zu kämpfen. Das sogenannte »Ermittlungsverfahren 7. April« ist genau aus dieser beschissenen Logik entstanden. Dahinter stand ein Staatsanwalt, der den Hass und das kaputte Hirn einiger Leute aus Gewerkschaft und Partei benutzte, um eine schweinische Anklage zu konstruieren, bei der alles in einen Topf geschmissen wurde: Negri als Chef der Roten Brigaden, wir als Organisatoren der Strukturen der BR, völlig an den Haaren herbeigezogene Geschichten. Unglaublich war die Haltung der Kommunistischen Partei, die nicht zugeben konnte, dass das alles Linke waren, die falsche und richtige Forderungen aufstellten oder militärische Aktionen machten. Stattdessen behauptete sie auf jede erdenkliche Weise, dass das Provokateure und Faschisten seien, die außer Kontrolle geratene Hand des Staates, Geheimdienste…

Als die Repression des 7. April losging, wart Ihr in einer tiefen inneren Krise… Augusto Finzi hatte die Fabrik bereits verlassen …

Das ist richtig. Und die Ermittlungen hatten nichts mit dem zu tun, was wir gerade machten, die Vorwürfe gegen uns aus Marghera stammten aus den Jahren 1973/74. In der Fabrik war wenig übrig geblieben. Ich spreche von Marghera. Es war alles sehr hart. Bei Ammi haben wir damals gegen die Senkung der Produktionsprämien gekämpft, die von einer automatischen prozentualen in eine feste Summe umgewandelt worden war. Mit ein paar Berechnungen konnten wir zeigen, dass wir innerhalb von zwei, drei Jahren soviel verloren, dass wir das nicht mal durch die Forderung im Folgejahr und den nationalen Tarifvertrag ausgleichen konnten. Das war 1978. Wir haben Flugblätter und Wandzeitungen gemacht, um diesen Mechanismus aufzuzeigen. Der Fabrikrat und der Vorstand des Fabrikrats konnten sich nicht hinter unsere Forderung stellen, da ja schon auf höchster Ebene im EUR politische Vereinbarungen geschlossen worden waren, und wir haben unsere Forderung mit einer Anzeige beim Arbeitsgericht geltend gemacht – da zeigt sich schon, dass wir nicht mehr die Kraft hatten, die Leute sofort zum Streik zu bringen. Gegen die erklärte Linie der Gewerkschaft haben sich auch viele Gewerkschaftsmitglieder dieser Klage angeschlossen. Wir haben das Verfahren gewonnen, und der Unternehmer musste uns das Geld nachzahlen. Das Urteil wurde gefällt, als ich schon im Knast war – und die Genossen haben mir das Geld in den Knast gebracht. Am Ende musste die Gewerkschaft sogar einen Abschluss machen, der auch den Arbeitern, die nicht geklagt hatten, das gleiche Geld zugestand. Doch danach wurde die Produktionsprämie als Festbetrag gezahlt.

Padua, Oktober 2006



aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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