Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 54–55 [w78_luebben.htm]



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Kunden gegen Russischolympiade

Bye bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR.

Michael Rauhut und Thomas Kochan (Hrsg.), Berlin 2004. 470 Seiten, etwa 200 Abb., Format 16,5 x 23,5 cm, 24,90 Euro.

»Die DDR – ein Funky-Haus. Was sagst Du zur Ostalgie, ey? Alles lustig gewesen in der Zone! Selbst im Zuchthaus. War doch alles so schön in der DDR!« stichelt Willi, Jahrgang 1945, Mitbegründer einer rebellischen Subkultur am Bahnhof Lichtenberg, 1977 in die BRD ausgewiesen. Drei alte Freunde von damals haben sich nach ewiger Zeit zum Gespräch getroffen. Rowinne, Jahrgang 1948, heute Totalaussteiger in Werneuchen, pflichtet bei: »Was schlecht war in der Zone, wird ja gar nicht mehr erwähnt. Dass es wirklich einen richtigen Widerstand gegeben hat, der auch breiteste Bevölkerungskreise betroffen hat, davon redet keiner mehr.« Dabei hat sich im Osten das Rebellische der Langhaarigen, der Mythos um »Woodstock« und etwa der Kult um den US-Film »Blutige Erdbeeren« viel länger gehalten als im Westen. Auch im Westen waren die Reaktionen der Gesellschaft auf »Gammler« zwischen 1965 und 1973 repressiv – danach wurden Hippies aber zu einem Stück Folklore, nicht so in der DDR. Willi: »Die Bürgerrechtsbewegung hatte es leicht, da war ja schon alles vorbereitet. Aber wir hätten damals noch an die Wand gestellt werden können!« (Zitate auf S. 94 und 95 im vorliegenden Buch in dem Beitrag Unterm Asphalt – Die Kunden vom Lichtenberger Tunnel von Thomas P. Funk). Musik hatte in den Subkulturen in der DDR bis zum Ende durchgängig eine viel größere Bedeutung als in der BRD – davon ist der Dritte in der Runde ein prägnantes Beispiel: Speiche, Jahrgang 1946, der über 20 Jahre lang bei Monokel Bass spielte. Nachdem die DDR-Satirezeitschrift Eulenspiegel gegen die »Haarlekine von Lichtenberg« gehetzt hatte, wurde er von der Bühne runter verhaftet und saß zwei Jahre wegen versuchter Republikflucht im Gefängnis; Willi erwischte es nur drei Monate, weil man ihm nichts nachweisen konnte.

»Kurioserweise endete das exzessive Rock-Interesse vieler Ostler im Augenblick der Traumerfüllung, als verlöre die Musik Aura und Eros im selben Maß, wie sie überall zu kaufen war. So ähnlich ging's ja mit dem versunkenen Leseland DDR.« (Küche, Kammer, weite Welt – Mythen der Erinnerung; Christoph Dieckmann, S. 22. Der Titel bezieht sich auf den Puhdys-Vers »Küche, Kammer, enge Welt – so entsteht kein Held«)

Die Subkulturen der DDR blieben stärker von (Jung-)Arbeitern geprägt, das war im Westen nur zu Beginn der 70er Jahre so. Ihr Umgang mit Alkohol (»Drucksaufen«) war für Westbegriffe daneben und spießig; dort war eher das »bewusste« Umgehen mit Drogen angesagt. Der ungebrochene Alkohol- und Schweinefleischkonsum erklärt vielleicht die starke Verbreitung von hardcore/straight edge und vegan in den 90er Jahren im Osten.

Das Buch versucht, mit 36 Beiträgen einen weiten Bogen zu spannen von den ersten Rebellen über die ländlich geprägte Bluesszene im Süden der DDR bis zu den Bluesmessen, die das Ende der DDR einläuteten. Es behandelt regelmäßige Treffpunkte wie den Karneval von Wasungen und einmalige Höhepunkte der Rebellion wie den Krawall auf dem Erfurter Pressefest 1978. Die meisten der angesagten Bands werden behandelt oder kommen selbst zur Sprache (wer also nicht weiß, was Monokel war, wird es nach diesem Buch tun!). Die Beiträge wechseln in ihrem Zuschnitt von soziologischem Fachartikel (Asozialität, Dekadenz und Untergrund) zu aktuellem Interview, von autobiographischem Rückblick zur Abhandlung über ein bestimmtes Thema (die große Bedeutung des Trampens, die Rezeption des Ami-Blues…). Es gibt viele Berichte von Musikern, von Musikhörern, ein Interview von heute mit einem damals mit den »Langhaarigen« befassten Stasi-Bullen (unnötig), auch die Minderheit der Frauen kommt zu Wort. Eine Frau berichtet sehr interessant, wie sie es schaffte, durch die Sowjetunion zu trampen, was damals relativ viele machten. Es war im Osten viel schwerer als im Westen, aber es war möglich, Auslandserfahrungen zu machen und mitzukriegen, dass es auch in anderen Staaten und sowjetischen Teilrepubliken individuelles und gemeinsames Aussteigen gab, Nationalismus, Antisemitismus, aber auch Untergrundszenen in anderen Ländern kennenzulernen. Die soziologischen Fachartikel sind manchmal doof und sprachlich außer Rand und Band (es zeugt von wenig Vertrauen in das Untersuchungs»objekt«, dass man soziologische Texte im Jargon von Insektenbeobachtung neben Selbstzeugnisse stellt!) Die Wiederholung mancher Anekdoten ist zuweilen ermüdend. Es gibt viele tolle Fotos und Fundstücke, von denen ich zumindest eins hier vorstellen will: »Es ist inzwischen längst erwiesen, dass die Entfaltung des geistig-kulturellen Lebens für den Aufbau des Sozialismus unerlässlich ist. Auf dem Bitterfelder Weg, mit dem dank der Initiative unserer Partei die Kluft zwischen Kunst und Volk bei uns überwunden wird, brauchen wir weder Pop noch Sex noch Colt als Repräsentanten einer morbiden Kultur. Gammler, Stoff (als Metonymie für Rauschgift), nicht zuletzt auch Lebensmüdenberatungsstelle spiegeln eine uns fremde Welt, in der tausende minderjährige Streunerinnen zwischen Sylt und Schwabing trampen, um ihr »Glück« zu suchen. … Wie viel vertrauter sind uns Wörter wie Beststudentenförderung, Messe der Meister von morgen, Jugendobjekt, Russischolympiade und Arbeiterfestspiele, die kein trügerisches Glück vorspiegeln, sondern die in sich tragen, dass das wahre Glück nur in der Arbeit und durch die Arbeit zu finden ist.« (Aus der Zeitschrift Sprachpflege, Leipzig 1971; zit. auf S. 277)

Ein gutes Beispiel dafür, wie der Staat die Musik politisierte, ist Renft. Sie waren keine Protestband, hatten eher Balladen im Repertoire, wenn sie zum Tanz aufspielten. Trotzdem ist die Geschichte von Klaus Renft und seiner Band eine von Verbot und Widerstand gegen staatliche Willkür. Klaus Renft (der im Oktober 2006 gestorben ist) gründete seine erste Combo 1958, mit 16. 1962 wurde sie verboten. Seine nächste Gruppe nannte er Butlers, die wurde 1965 verboten, weil der Staat nach Walter Ulbrichts »Yea, Yea, Yea«-Rede gegen die Beatmusik Bands mit Stones-Titeln im Repertoire nicht mehr duldete. Die Leipziger Jugend reagierte darauf mit den »Leipziger Beatkrawallen«. 1968 gründete sich die Band namens Renft. Die ersten beiden Platten (1973, 1974) waren Riesenerfolge. Die Band verdiente viel Geld, bis zu 2400 Mark am Abend. Aber mit dem Einzug des Liedermachers und Texters Gerulf Pannach wurden ihre Lieder politisch, oft eindeutig. Von allen Texten, die sie für ihre dritte Platte einreichten, wurden nur zwei genehmigt. Da die Lieder nicht auf Platte erschienen, spielte Renft sie eben auf Konzerten. Die Band war eigentlich zerstritten, als ihr am 22. September 1975 eine Leipziger Funktionärin mitteilte, dass die Texte keine Übereinstimmung hätten mit der sozialistischen Wirklichkeit und die Band deshalb »als nicht mehr existent anzusehen ist«. Die Musiker mussten ihre Berufsausweise zurückgeben. Renft verschwand aus den Plattenläden, aus dem Radio, aus den Diskotheken. Zur Informationspolitik der DDR gehörte es, den Bürgern das Verbot zu verschweigen. Es war das Ende von Renft. Die Bandmitglieder verließen bis auf einen im Laufe der Jahre die DDR.

»Man traf sich zum Beispiel in Leipzig-Schkeuditz in der »Sonne« und verabredete sich fürs nächste Wochenende bei »Kaisers« in Cottbus.« (Einmal um die Welt; Harald Hauswald, S. 392ff)

Auf diese Realität spielt auch der Buchtitel an, Lübben ist ein verschlafenes Nest in Brandenburg, ohne »City« natürlich. »Bye bye, Lübben City« ist ein Lied von Monokel von 1979, Porträt einer massenhaften Szene von hauptsächlich Jungarbeitern, die irgendwie durch die Arbeitswoche kamen und am Freitag Abend Gas gaben. Sie nannten sich Kunden, Blueser oder Tramper und waren an den Wochenende permanent auf Achse. »Einmal trampte ich mit Regine nach Mülsen St. Niclas. Vom Bahnhof zog sich eine Kolonne durchs Dorf. Wir ließen uns einfach treiben und landeten im Amor-Saal. Es spielten die Klosterbrüder. Ihre Musik, darunter etliche Songs von Cat Stevens, verleitete zum Tanzen. War ein ganz schön wildes Gehopse, kaum einer blieb sitzen. Als die Kellner nach der Veranstaltung aufräumten, öffnete ich heimlich die Verriegelung eines Fensters. Draußen warteten wir mit etwa 15 Leuten ohne Bleibe, bis es drinnen ruhig wurde. Dann stiegen wir leise in den Saal, wickelten uns in Tischdecken und schliefen gemütlich ein.« (a.a.O., S. 393)

Der generationenspezifische Blick spielt in den Beiträgen eine große Rolle. »Jedes Erinnern ist altersgebunden und lebt in der Biografie – auch der kollektiven.« (Küche, Kammer, weite Welt, a.a.O., S. 15) Gerade die Generation, deren Pubertät und Erwachsenwerden in die mittleren und späten Sechziger fällt, in eine Phase unglaublich vielfarbiger Entfaltung der Musik vor dem Hintergrund einer weltweiten revolutionären Bewegung, war auch im Osten prägend und stilbildend. Wahrscheinlich gehört für mich deswegen auch gerade der Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, zu den besten im Buch (Auszüge in der Marginalspalte). Ein weiterer, der mir gut gefallen hat, ist der Beitrag von Christian »Kuno« Kunert zur Geschichte von Renft. Letztlich wird jede Leserin ihre eigenen Lieblingsbeiträge finden – da bin ich sicher!

Jaa

»Ich gewähre Ihnen verlängerten Ausgang wegen Ihrer disziplinarischen Fortschritte in den letzten Wochen, so hatte Heimleiter Cords gesprochen und seiner Montagsgnade Mahnung angefügt: Nach Konzertschluss kehren Sie unverzüglich ins Internat zurück…

Der Lehrling, der ich war, versprach['s] und lief in den Abend hinaus, an die Chaussee, der großen Freude entgegen. Ich wollte trampen. Niemand hielt. Es waren nur drei Kilometer bis Brand-Erbisdorf im Erzgebirge, wo am 1. April 1974 im ’Brander Hof‘ mein herrlichstes DDR-Konzert stattgefunden hat. Es spielte die Stern Combo Meißen, für junge Pathetiker damals das Nonplusultra diesseits der Elbe. Meine jenseitige Lieblingsplatte, von Omi eingeschmuggelt, war Yes‘ Tales from Topographic Oceans, ein Doppelalbum mit vier ganzseitigen Weltall-Erde-Mensch-Oratorien. Yes brachten Stern Meißen an jenem ekstatischen Abend nicht, aber Jethro Tulls Living in the Past und People on the Beach von meinen englischen Brass-Rock-Favoriten If. Köstlich soulte Reinhard Fißler den Temptations-Heuler Papa Was a Rolling Stone. Der Orgel-Magier Kurzhals flog durch Brian Augers Freedom Jazz Dance und türmte Emersons-Mussorgskis Great Gates of Kiev auf. Dann die Krönung: Lighthouse von The Flock, im Original die Reverenznummer eines kleinwüchsigen US-Gitarristen namens Fred Glickstein, dessen hünenhafter DDR-Wiedergänger Werner Kunze hieß und ein Solo abfackelte, das auch den Hörer zum Helden machte. Niemand tanzte. Die Leute klumpten vor der Bühne und soffen Musik. Und dann Emersons Iconoclast Mass, und John McLaughlins Dance of Maya, und es war zu Ende. Schweissnass hinaus in die Nacht. Heim unterm Mond, unbesiegbar, königlich allein.«

»Schlagerfuzzis mochten Balz-Pop hören. Ich suchte Kunst. Musikalisch sozialisiert hat mich jene kurze Epoche, in der Rockmusik nach den Welträtseln griff und sich nicht länger als Unterhaltung und antiautoritäre Kleinform beschied. Elvis fand ich so öde wie später Punk. Damals, so zwischen 1970 und 1975, nahmen die Musiken Kenntnis voneinander. Rocker adaptierten Klassik, Jazz akzeptierte Rock. Blues wurde zum Idiom des Echten und Wahren, und aus den Keltenländern wehte die herbsüße Bitternis des Folk an unsere Antennen. Es gab Rundfunkprogramme von heute unerhörter Varianz.

Jeden Donnerstagabend lief im Internat der ’kulturpolitisch wertvolle Film‘. … Die meisten Filmschulkameraden gähnten oder schliefen ein. Dann kam ein Film, der weckte jeden: Stuart Hagmans Blutige Erdbeeren. Amerikanische Studenten streiken gegen den Vietnam-Krieg und erfahren die brutale Repressivität der Macht. Haar weht, es wird amerikanisch gefreakt, gekämpft und frei geliebt, und allüberall erschallt unsere Musik: The Circle Game von Buffy Sainte-Marie, Thunderclap Newsmans Something in the Air, Crosby, Stills, Nash & Young, für die ich alle Stones und Beatles weggeschmissen hätte. »Tin soldiers and Nixon coming, we‘re finally on our own«, sang Neil Young, beschirmt von drei eisernen Gitarren… Wir löteten am Kinoverstärker und zapften die Herrlichkeiten aufs Band. Auch entstand im Internat der Brauch, Diskoabende zu beschließen, indem man im Speiseraum kreisförmig auf dem Boden lagerte und, gemäß dem Finale von Blutige Erdbeeren, händeklatschend »Give Peace a Chance« sang. Nun hätte Nixons Killergarde einmarschieren müssen. Es erschien aber nur Heimleiter Cords und mahnte zur Nachtruhe.«



aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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