Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 15–17 [w78_markt.htm]
Der Markt mischt überall mit
Neue Prekarität, Ausbeutung und Raub des Wissens
1997 legte der Streik von 185 000 UPS-ArbeiterInnen den Versandriesen in den USA lahm. Die meisten von ihnen waren befristet oder auf Teilzeit und schlechter bezahlt als ihre festangestellten KollegInnen. Von denen erhielten sie aber unerwartet viel Solidarität, wie auch von anderen ArbeiterInnen und von KundInnen. Die sozialen Beziehungen zu den KundInnen, die die UPS-FahrerInnen pflegen mussten, kehrten sich gegen UPS und wurden zu einem Netz der Solidarität zugunsten der »freundlichen« ArbeiterInnen. Ihr Kampf richtete sich nicht nur gegen die elenden Verträge, sondern auch gegen die Taylorisierung der Zirkulation von Waren und Informationen. Das oft überhöhte Gewicht der Pakete, das viele Unfälle verursachte, war ein wichtiger Streitpunkt. Die Fragen, die dieser Streik aufgeworfen hat, beschäftigen uns bis heute: die wachsende Taylorisierung der Arbeit in einer angeblich postfordistischen Welt; eine Arbeit, die sich über den klassischen Ort der Fabrik hinaus ausdehnt, deren Materialität aber anhält; die mögliche Gemeinschaft zwischen heterogenen Figuren, wenn sie zu Subjekten im Kampf gegen einen einzigen Ausbeutungsmechanismus werden.
Der Streik bei UPS ist eine Lektion, die man im Kopf behalten sollte, wenn man ernsthaft dem eher sozialen und politischen als theoretischen Problem nachgehen will, was sich in der Epoche der sogenannten Globalisierung des Kapitals und der sogenannten immateriellen Arbeit verändert hat. Das Kapital hat schon immer das Wissen und die sozialen und geistigen Fähigkeiten der ArbeiterInnen in Anspruch genommen, das ist nichts Neues. Ohne den aktiven Einsatz der ArbeiterInnen würde jedes Fließband stillstehen. Wäre nicht eher die Frage angebracht, warum die Industriesoziologie die kommunikativen Dimensionen in der modernen Fabrik verschleiert? Heute ist der »kommunikative« und »affektive« Aspekt augenfälliger, weil die Verwertung eine zunehmend kapitalistische Organisation des Transports verlangt; weil sie sich in der Zirkulation ausbreitet und diese beschleunigt; weil sie die Zeit und Kosten auf die KonsumentInnen ablädt. Die Autobahnen, auf denen die Fernlastzüge rasen, sind die verlängerten Förderbänder der Montagelinie: Bänder, die bis zu dem Postarbeiter reichen, der uns die Waren ins Haus bringt, und die an den TelefonistInnen im Call Center vorbeilaufen, die uns diese Waren zu verkaufen versuchen. So wie die KonsumentInnen von Wal-Mart gratis arbeiten und Kapital verwerten, wenn sie die weit außerhalb liegenden Supermärkte anfahren oder in den riesigen Einkaufszentren die Ware zur Kasse bringen usw.
Was ist Prekarität?
Wir können nur dann wirklich verstehen, was heute Prekarität ist, wenn wir die tiefgreifenden Veränderungen in der kapitalistischen Dynamik untersuchen. Ein blindes Festhalten an alten Weisheiten ist genauso daneben wie eine Sichtweise auf die Arbeit als passives Subjekt.
Ebensowenig sollte man die Fehler der Vergangenheit wiederholen und sich ausschließlich mit der ›Tendenz‹ beschäftigen und diese dabei verabsolutieren. Oder sie nur einseitig und deshalb falsch analysieren und mit immer neuen hegemonialen historischen Figuren Missbrauch treiben: zuerst der »Massenarbeiter«, dann der »gesellschaftliche« Arbeiter und jetzt das »Kognitariat« (der Wissensarbeiter). Das tun Leute, die ihre klassische Geschichtsphilosophie etwas regulationstheoretisch aufgepeppt haben und nun behaupten, das immaterielle Kapital habe den Platz des materiellen eingenommen, die Wissensarbeit sei unmittelbare gesellschaftliche Produktivkraft, unabhängig vom Kapital geworden, und die Klasse habe sich in eine Multitude aufgelöst, die natürlich vielgliedrig und komplex sei, in der aber der Wissensarbeiter im Grunde die zentrale und hegemoniale Figur ist. So wird alles zur Produktion und jeder Lebensakt per se produktiv: im Ergebnis ist das Kapital allumfassend. Die Untersuchung und der Kampf innerhalb der Arbeit werden überflüssig und ersetzt durch Verteilungskämpfe [z.B. Forderung nach dem garantierten Einkommen], die fälschlicherweise als »inkompatibel« [zum Kapitalismus] bezeichnet wird – wo sie doch die Schmerzmittel sind, die die Sozialdemokratie der heutigen sozialen Hölle anbieten kann.
Was ist vom Arbeiterstandpunkt aus das Neue dieser Epoche?
Wo aber liegt vom Arbeiterstandpunkt aus betrachtet das Neue dieser Epoche? Die Akkumulation war infolge der Kämpfe der Massenarbeiter unsicherer und instabiler geworden. Das Kapital hat daraufhin netzartige Strukturen aufgebaut und behauptet, dass die Arbeit an den wichtigsten Punkten des Zyklus intentional und meist besser qualifiziert sei. Dort gibt es auch weiterhin eine begrenzte und abhängige Autonomie. Das Eindringen des »Marktes« in die »Organisation« garantiert diese non-personale Kontrolle über die Arbeit. Sie verstärkt die Zentralität der Produktion und produziert gleichzeitig den Anschein des Gegenteils. Die Produktionseinheiten werden gegeneinander in Konkurrenz gesetzt: durch geografische Trennung, Verlagerung und Auslagerung und die Pflicht der einzelnen Produktionseinheiten in den Holdings, Profit zu machen, als wären sie getrennte und unabhängige Einheiten, durch Tertiarisierung und in-house outsourcing. Durch all dies wird die Arbeit »reguliert«. Gleichzeitig wird verlangt, dass abhängige und materielle Arbeiter sich verhalten, als wären sie autonom und immateriell. Sie sollen aus ihrem eigenen Wissen und ihrem eigenen Willen das »aktive«, aber untergeordnete Element machen, das es dem Kapital ermöglicht, sich auf erweiterter Stufenleiter zu reproduzieren.
Der technische Fortschritt in den letzten Jahrzehnten hat es dem Kapital in der Tat möglich gemacht, die »Zentralisierung« von der »Konzentrierung« zu trennen; jahrhundertelang waren beide Prozesse parallel gelaufen. Heute werden Produktionsmittel und ArbeiterInnen zerstreut. Für die gesellschaftliche Kooperation ist kein gemeinsamer Standort mehr notwendig, sie kann an entfernten Orten technisch gesteuert werden. In diesem Sinne ändert sich die Arbeit: Gearbeitet wird heute nicht mehr nach einem von außen diktierten »Plan«, idealtypisch und starr innerhalb eines sozial stabilen und produktiven Zusammenhangs. Arbeit ist heute vor allem eine »Aufgabe« in einer nicht vorhersehbaren Umgebung, die erst hinterher überprüft wird; Termine und gewünschte Qualität werden dem Arbeiter vom »Markt« diktiert, und er muss sie durch seine »Flexibilität« sichern.
Dieser Prozess ist für das Kapital nicht ohne Risiken; denn die Unterordnung des Arbeiters muss in jedem Zyklus neu konstituiert werden und zwar umso mehr, wenn die Arbeit intentionale Tätigkeit sein soll. Dazu muss die kapitalistische Macht der Integration und Unterordnung das Maximum ihrer integrierenden Herausforderung aufbieten. Die antagonistischen Praktiken müssen die Schranke niederreißen, die vor dem Interesse an der Ausbeutung der anderen ArbeiterInnen trennt: um den eigenen Job, den eigenen Konsum und die eigene Rente zu verteidigen. Entgegen der landläufigen Meinung ist das der Grund, warum sich das Kapital heute mehr als gestern darum bemüht, den ArbeiterInnen das Wissen zu »rauben«, um es zu verschlüsseln, zu rationalisieren und zu überwachen. Die Arbeit nimmt immer unterschiedlichere Formen an, während gleichzeitig das kapitalistische Kommando immer umfassender wird. Zu glauben, die Produktivkraft der Arbeit sei immer vom Kapital unabhängig und treibe automatisch seinen Fortschritt voran, ist eine Illusion, die heute noch gefährlicher ist als in der Vergangenheit.
Unterschiedliche Ausbeutungsformen
Zu denken, dass diese Dynamiken die sogenannte materielle Arbeit ins Abseits verbannen, ist nicht nur ein theoretischer Irrtum, sondern ein gewaltiger politischer Fehler. Nicht nur weil der Großteil der Arbeit schlecht bezahlt und niedrig qualifiziert ist. Oder weil die sogenannte immaterielle Arbeit in Wirklichkeit selbst sehr materiell ist, egal welche Ware sie produziert. Wer Fabrik und Lohn ins 19. Jahrhundert verbannt und dem die strahlenden PostfordistInnen der neuen kognitiven Arbeit entgegenstellt, macht sich unglaubwürdig und redet sinnloses Zeug, und zwar auch aus folgendem Grund: reelle Subsumtion der Arbeit unters Kapital und Produktion von relativem Mehrwert bedeuten nicht, dass die Verlängerung und Intensivierung des Arbeitstags, die Angriffe auf den Lohn, der Ausschluss und die neuen Einfriedungen der Vergangenheit angehören. Gerade der »technische Fortschritt« macht diese scheinbar »rückständigen« Waffen hochaktuell.
Die verschiedenen Ausbeutungsformen, seien sie nun absolut oder relativ, durchdringen sich gegenseitig. Ob im Zentrum oder der Peripherie: die Sklavenarbeit und die Ausbeutungsbedingungen von vier Fünfteln des Planeten sind untrennbar mit der immateriellen und hypertechnisierten Arbeit in einigen westlichen Metropolen verwoben. Aber auch im Zentrum selbst, wo die Kernunternehmen die Produktionsketten strategisch kontrollieren und Kosten und Flexibilität in konzentrischen Kreisen nach unten abladen, wachsen Zersplitterung und Prekarisierung der Arbeit, die viele Inländer und ebenso viele MigrantInnen betrifft exponentiell an. Das Gewehr des Wächters, der die Intensität der Zwangsarbeit kontrolliert, und die Arbeit eines Software-Programmierers sind beide geeicht mit der Intensität der gesellschaftlich notwendigen Arbeit.
Im globalisierten Kapitalismus werden die verschiedenen Ausbeutungsformen gleichzeitig angewendet, und sie bedingen sich gegenseitig. Die Verlagerungen schlagen Profit aus den nationalen Lohnunterschieden; die Grenze als politischer Regulator der Migrationsströme hat eine unmittelbar ökonomische Bedeutung. Diese Grenzen entsprechen nicht immer den Grenzen der Nationalstaaten. Sie durchschneiden und durchqueren sie auch und stecken innerhalb eines Staates Gebiete mit unterschiedlicher Ausbeutung ab. Neu ist, dass diese Prozesse heute stattfinden, während sich das weltweite Angebot an Arbeitskräften verdoppelt. So können in China neue Technologien und eine rasch ansteigende Pro-Kopf-Produktivität bei stabilen Löhnen für die Kapitalverwertung ausgebeutet und dabei mit dem Markt und dem weltweiten Arbeitsprozess synchronisiert werden. Und wenn die chinesische Regierung überlegt, in einigen Provinzen die Lohnverhandlungen zu ›liberalisieren‹, dann sind die westlichen Unternehmen die ersten, die das zu verhindern versuchen.
Richard und Max
aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007