Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 18–20 [w78_organizing.htm]



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Gewerkschaften auf neuen Wegen:

Wenn der Kollege zum Kunden wird

Teil II: »New Labour« – »New Gewerkschaft«. Kritik am Organizing

Militante Untersuchung, Selbstinterviews, Workers Center, Campaigning und Organizing: ein Teil der Linken begeistert sich momentan für »undogmatische« Ansätze, um die Frage nach Widerstand in der Lohnarbeit aufzunehmen. Studienaufenthalte in den USA, Besuche bei Workers Center und bei organizing-Kampagnen lassen den Eindruck entstehen, dass es diese gewerkschaftlichen Instrumente sind, die frischen Wind in die verkrustete, weiß dominierte Gewerkschaftslandschaft in der BRD bringen. Denn junge, eingewanderte ArbeiterInnen, Frauen und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich sind die hauptsächlichen Zielgruppen dieser Ansätze. Entsteht hier eine ganz neue, andere Gewerkschaft? Oder, die Frage anders ausgedrückt: Öffnet die Krise der Institution »Gewerkschaft« Raum für neue Formen von Organisierung? Hilft der Apparat dabei, Türen aufzustoßen, oder lassen sich linke Aktivisten benutzen, um dem Apparat einen neuen zeitgemäßen Anzug zu schneidern?

Die Krise der Einheits- und Industriegewerkschaften macht sich an vier Punkten fest: Die Mitgliederzahlen sinken seit Jahren; der Apparat »verschlankt« die eigene Belegschaft; die betrieblichen Vertrauensleutestrukturen sind in weiten Bereichen zusammengebrochen; berufsständische Organisationen boomen. In der Konsequenz ist die Gewerkschaft »zahnlos« und nicht in der Lage, Betriebsschließungen, sinkende Löhne und längere Arbeitszeiten aufzuhalten. Ein Teufelskreis.

Die Krise der Arbeiterbewegung lässt sich vor allem an einem Punkt festmachen: Sie tut sich schwer damit, das langsame Ende der institutionellen Vermittlung des Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital anzuerkennen und neue, selbstbestimmte Formen des Widerstandes zu entwickeln. Trotz größer werdenden Widerstands setzen die Gewerkschaften immer wieder ihre Standort- und Verzichtspolitik durch.

Auf Seiten der »Linken« wittern einige die Chance, den Apparat zu demokratisieren, und »entlarven« dazu unentwegt die Führung. Andere sind ratlos und gehen gar nicht mehr zu den Orten der Kämpfe hin. Wieder andere sehen eine neue Offenheit des Apparats gegenüber den »sozialen Bewegungen« und beteiligen sich an derlei Experimenten, entweder als freiwillige Akteure in von der Gewerkschaft initiierten Kampagnen oder als entlohnte Angestellte. Um Letztere geht es im folgenden.

Schwäche der Gewerkschaften – Organizing als Antwort

Die Gewerkschaften definieren ihre Rolle neu. Sie halten als Organisation am Flächentarif fest – der aber nicht mehr den Unternehmen »aufgezwungen« wird, sondern als Rahmen dienen soll, um die verschiedenen unternehmerischen Interessen zentral auszubalancieren. Zugespitzt gesagt dienen sich die Gewerkschaften den Unternehmern als Hilfsinstrument an, um die weitere Zersplitterung der Produktionszusammenhänge möglichst reibungslos handlen zu können. Dafür braucht es zwar Konflikte, die werden aber statt auf betrieblicher Ebene zunehmend auf der politischen Bühne ausgetragen. Das heißt, Kämpfe werden »simuliert«, um mit einer Mobilisierung politische Entscheidungen zu beeiflussen. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind etwa die mit den Krankenkassenchefs abgesprochenen »Streiks« der GKV-Beschäftigten oder die 2005/06 ebenfalls mit den Unternehmern abgesprochenen »Streiks« der Hafenarbeiter in Deutschland gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie.

Dort, wo Konflikte »real« geführt werden, wird für die Abmilderung von Verschlechterungen mobilisiert. Das gilt im großen und ganzen für die gesamte Gewerkschaftsarbeit. Im Frühjahr 2006 während des Streiks gegen die Arbeitszeitverlängerung war der Verdi-Apparat gegenüber neuen Formen des Arbeitskampfes recht offen – aber die Inhalte durften auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Dementsprechend groß war danach der Frust unter Belegschaften, die sehenden Auges für die Verschlechterung ihrer eigenen Bedingungen in den Kampf geschickt wurden.

Was bedeuten »Organizing« und »Campaigning«?

Organizing und Campaigning sind seit langem wichtiger Bestandteil der gewerkschaftlichen Aktivitäten in den USA. Unter diesen Schlagworten zwei unterschiedliche, aber oftmals miteinander verbundene Strategien bezeichnet.1 Campaigning meint die Durchführung von zentral geplanten Kampagnen bspw. gegen bestimmte Firmen, um Forderungen durchzusetzen. Derlei Kampagnen sind sehr stark auf die Öffentlichkeit gerichtet. Durch sie wird versucht, dort Druck aufzubauen, wo allein auf betrieblicher Ebene (angeblich) nichts durchzusetzen ist. Verdi beschreibt dies so:

»In dem klassischen betrieblichen Arbeitskampf bewegen sich fast alle Aktivitäten – ob Streik, Dienst nach Vorschrift, Beschwerdeverfahren usw. – im Rahmen der Beziehung zwischen ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber. Diese ist aber nur eine von mehreren wichtigen Geschäftsbeziehungen für den Arbeitgeber. Genauso wichtig für ihn sind seine Beziehungen zu Finanzinstituten, Regierungen und Regulierungsbehörden, Zulieferern, Konkurrenten, Kunden, Mutter-/Tochter- und Schwesterunternehmen, der Zivilgesellschaft, usw. Diese Beziehungen bieten ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften Handlungsmöglichkeiten an, die gerade gegen multinationale Konzerne wirksam sein können.«2 Beispiele sind Boykottaufrufe und Image schädigende Medienarbeit, für die Bündnispartner gewonnen werden sollen. So etwa, dass Kunden angeschrieben werden, um auf Praktiken des Unternehmens aufmerksam zu machen (Anti-«Sweatshop«-Kampagnen etwa). Oder dass andere Organisationen der »Zivilgesellschaft« sich aus ihrem Blickwinkel beteiligen, etwa, wenn Greenpeace sich an der gewerkschaftlichen Lidl-Kampagne dadurch beteiligt, dass es Studien über die Belastung von Lidl-Lebensmitteln mit Schadstoffen veröffentlicht.

Beispiele für gewerkschaftliche Kampagnen in Deutschland sind die laufende Lidl-Kampagne (seit 2005), die McDonald‘s-Kampagne zur Einführung von Betriebsräten (2004), die Citibank-Kampagne gegen die Auslagerung ihres Call Centers (1998-2001) und die Schlecker-Kampagne gegen die Verletzung von Tarifverträgen und Schikanierung von Angestellten (1994-1995).

Organizing meint das aktive Anwerben von Gewerkschaftsmitgliedern durch professionell geschulte Werber3. Da gerade der Dienstleistungsbereich durch viele kleine Firmen und oftmals eine räumliche Zersplitterung gekennzeichnet ist, gehen Organizer entweder zu den verstreuten Arbeitsstätten (etwa die der IG BAU auf die Baustellen oder die von Verdi in Hamburg zu den Wachleuten in der City) oder in die entsprechenden Communities (der Film Bread and Roses von Ken Loach schildert diese Art des Organizing unter den Reinigungskräften in Los Angeles). Ziel ist es dann, die Leute von den Vorteilen einer gewerkschaftlichen Organisierung zu überzeugen, Treffen zu arrangieren oder sozialen Prozessen eine Richtung zur Etablierung von Vertretungsstrukturen zu geben. Mit Letzterem ist gemeint, dass gezielt nach Personen gesucht wird, die eine »natürliche« soziale Autorität unter ihren Kollegen haben. Diese sollen dann besonders gefördert werden, damit sie als »Multiplikatoren« der Gewerkschaft funktionieren und die aufgebauten gewerkschaftlichen Strukturen sich selber tragen.

Meist werden Organizing und Campaigning zusammen durchgeführt; das Konzept sieht vor, dass die Gewerkschaft erst recherchiert, welche Branchen oder Bereiche wichtig sind, wo Durchsetzungsmöglichkeiten sind usw. Die zentral geplante Kampagne wird dann durch das Ausschwärmen der organizer ergänzt. Sie übermitteln die Ziele der Kampagne vor Ort und ergänzen sie ggf. um die realen Probleme, die die ArbeiterInnen haben.

Somit geht es vor allem um eine Professionalisierung der gewerkschaftlichen Arbeit; und zwar nicht nur des Verwaltungsapparates wie in der »alten Gewerkschaft«, sondern auch der betrieblichen Ebene. Zwar genossen Vertrauensleute in manchen Großbetrieben auch früher schon Privilegien, und das gewerkschaftliche Engagement bot auch eine Perspektive des Aufstiegs in den Apparat hinein. Aber die Machtstellung der bundesdeutschen Gewerkschaften in den Betrieben beruhte wesentlich auf der Aktivität eines »idealistischen« Unterbaus.

Statt zu einer Demokratisierung führt das Konzept des Organizing eher zur weiteren Zentralisierung der Entscheidungen. Bevor Konflikte tatsächlich ausgetragen werden, beurteilt die Gewerkschaft die Erfolgsaussichten. OrKa arbeitet nicht auf eine Forcierung betrieblicher Konflikte hin, sondern zieht seine Stärke aus Lobby-Tätigkeit und medialer Inszenierung.

Auch Ver.di hat sich mit ihrem Organizing-Vorzeigeprojekt im Hamburger Sicherheitsgewerbe eine Beschäftigtengruppe ausgesucht, die am Rande steht, nämlich das private Wach- und Sicherheitspersonal in der City: Nachtwächter, Portiers, Objektschützer… alles Leute, die sehr vereinzelt arbeiten, deren Arbeit für keinen anderen Arbeitsablauf direkt wichtig ist, sondern die für einen Eventualfall bereit stehen. Glücklicherweise fühlen sie sich schwach, und um ihre Schwäche lässt sich gut eine Mitleidskampagne um »Hungerlöhne« und »Respekt« knüpfen. Sie stehen auch nicht im öffentlichen moralischen Zwielicht, wie es bei privaten »Sicherheits«truppen bspw. der S-Bahnen der Fall wäre. Lobbying bedeutet, dass etwa Entscheidungsträger wie Kundenfirmen oder zumindest deren Betriebsräte gezielt in die Kampagne mit einbezogen werden sollen.

Einer der wichtigsten Punkte bei den Organizing-Kampagnen ist die völlige Fixierung der betrieblichen Realität auf gewerkschaftliche (d.h. institutionelle) Ziele. Das mag paradox klingen, weil in den Konzepten sehr viel Wert auf »Netzwerke«, »Lebensrealitäten« usw. gelegt wird. Tatsächlich aber dienen die Bündnisse mit der »Zivilgesellschaft« nur dazu, die eigene organisatorische Zuständigkeit für den Bereich »Arbeit« zu stärken – als Betriebsrat oder als Tarifpartner. Schon von der Konzeption her werden Fragen der Hierarchie in der Arbeit und der Gesellschaft allgemein nicht angetastet, sondern eher noch verstärkt: So in der Forcierung »sozialer Hierarchien« bei der Rekrutierung und dem Konzept, gegebene Hierarchien für die eigenen Ziele auszunutzen, wenn etwa Filialleiter tragende Ansprechpartner bei der Lidl-Kampagne sind oder Politiker und Pfaffen als »Paten« angesprochen werden.

Aufschlussreich sind Situationen, wo Selbstorganisierung auf Organizing trifft. Ein Beispiel ist die Bewegung der LKW-Fahrer in den Häfen von Los Angeles4. Die Gewerkschaftsorganizer bekommen dort keinen Fuß in die Tür. Bezeichnend ist der Unterschied in der Art und Weise, Dinge durchzusetzen: Während die »sich selbst« organisierenden Fahrer Taktiken entwickeln, durch kurze punktuelle Streiks Unternehmen und Chefs unter Druck zu setzen, baut die Kampagne der Teamster-Gewerkschaft allein auf die Kooperation mit »vernünftigen« Unternehmen auf, d.h. solchen, die bereit sind, Tarifverträge mit den Teamsters abzuschließen. Die nicht gewerkschaftlich eingebundenen Kämpfe schwächen die Verhandlungsposition der Gewerkschaft – wenn diese keine Ruhe schaffen kann, ist sie für den Unternehmer unbrauchbar. Die daraus folgende wütende Bekämpfung jeder Art von Selbstorganisation dürfte die optimistische Einschätzung des Organizing als Instrument zur Ausweitung sozialer Konflikte in Frage stellen. Ein Artikel aus der Zeitung The Nation beginnt mit einem ähnlichen Beispiel einer Autozulieferfirma in Chicago namens Silver Capital5. Und das Wirtschaftsmagazin Forbes stellt fest: »Auch wenn sich die Gewerkschaften in streitlustigen Organizing-Kampagnen engagieren, scheint das Ziel der ›Change-to-win‹-Koalition darin zu bestehen, partnerschaftliche Beziehungen mit dem Management auszubauen.«6

Aber die Arbeiter wollen das doch so…!

Ein immer wiederkehrendes Motiv bei der Darstellung von Organizing-Projekten ist die Selbstcharakterisierung der Aktivisten als »weiße Wand«, an die die Beschäftigten ihre Marken setzen. Interviews mit Arbeitern, um die Konfliktpunkte auf der Arbeit rauszukriegen – das hört sich tatsächlich viel versprechend an. Nur dumm, dass die Ergebnisse allein das zu bestätigen scheinen, was die Herren von der Ver.di-Leitung schon vorher wussten. Es scheint keine anderen Ziele als Mindestlöhne, Arbeitszeiten unter 300 Stunden im Monat, keine anderen Organisationsformen als betriebliche Vertretungsstrukturen à la Ver.di und keine anderen Kampfformen als das öffentliche Heischen um »Respekt« zu geben.

Auf Seiten der linken Aktivisten, die sich für die Gewerkschaft einspannen lassen, wird offensichtlich unterschätzt, dass man weder als Wissenschaftler, noch als Aktivist oder auch als Kollege jemals ein neutraler Kummerkasten ist. Wenn man als Vertreter der Gewerkschaft den Leuten gegenüber tritt, wird man bei allen guten Vorsätzen immer das zu hören bekommen, was in der Vorstellung der Leute eine Gewerkschaft für sie tun könnte. D.h., auch hier wird es nicht funktionieren, im Auftrag einer Institution und für Geld etwas zu tun, und das dann mit eigenen Ideen zu füllen. Von außen können die Leerstellen nicht gefüllt werden, aber der Anspruch auf die Überwindung verknöcherter gewerkschaftlicher Strukturen und die Thematisierung der ganzen »Bandbreite des prekären Lebens« ließe sich besser umsetzen, wenn sich die Aktivisten auf reale Konflikte der ArbeiterInnen einstellen würden – die gibt es nicht nur mit dem Chef, sondern auch mit ihren eigenen Vertretern.

 


Fußnoten:

[1] So gibt es z.B. bei Ver.di einen Arbeitskreis namens ORKA – Organisierung & Kampagnen

[2] http://www.verdi.de/aktive/kampagnen_organisieren/an_die_arbeit/kampagnen_fuer_erfolgreiche_gewerkschaften

[3] Wer mehr zu der Diskussion von, unter, über Organizing lesen will: Verdi hat als Teil eines Projektes ein Internetportal mit Material eingerichtet: www.neverworkalone.de
Bei Labournet gibt es eine Sonderseite zum Thema Social Movement Unionism: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/smu/index.html
und eine zum Thema Organisierungsdebatte: www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/us-orga.html

[4] siehe auch Troqueros in L.A im USA-Dossier von Wildcat 73

[5] »Teamsters: Changing to Win?«, The Nation, 12.06.06, online unter: www.thenation.com/doc/20060612/johnson

[6] »Breakaway Union Pushes Organizing«, Forbes vom 17.4.2006, online unter: www.forbes.com/work/2006/04/17/afl-cio-unions-cx_0418oxford.html



aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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