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01.01.2014

aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007

Slowakei: das neue Detroit?

Falls alle geplanten Investitionen umgesetzt werden, wird die Slowakei Belgien als Land mit der höchsten Pro-Kopf-Autoproduktion der Welt ablösen. Damit wäre sie (neben Polen und Tschechien) dritter Standort eines seit 1995 Schritt für Schritt entstehenden »neuen Detroit«. Für die deutschen Automobilkonzerne ist die Region östlich von Deutschland inzwischen wichtiger als Spanien.

Dabei ist die Produktion in der Slowakei in den meisten Werken wie Kia, PSA und bei vielen Zulieferern gerade erst oder noch gar nicht angelaufen. Nur im Fall von VW stammt die Investition nicht aus dem »Post-Meciar-Boom«, sondern aus den frühen 90er Jahren. Zwölf Jahre lang war es das einzige Autowerk in der Slowakei. In dieser Zeit hat VW etwa 1,2 Milliarden Euro investiert. 2004 wurden Autos im Wert von 174 Milliarden Kronen produziert. Neben Bratislava hat VW noch ein Werk in Martin in der Nordslowakei. In Bratislava werden hauptsächlich Oberklassenfahrzeuge (Audi Q7, Touareg, Porsche Cayenne) überwiegend für den amerikanischen Markt produziert, außerdem der VW Polo für den europäischen Markt. VW beschäftigt 8400 Festangestellte in drei Schichten. Der Standort Slowakei wirft mit die höchsten Gewinne unter allen 42 VW-Standorten weltweit ab, hauptsächlich wegen der niedrigen Löhne und der fehlenden Klassenaktivität.1

Etwa 70 Prozent der ArbeiterInnen sind gewerkschaftlich organisiert. Offene Konflikte gibt es kaum. Dem Vernehmen nach arbeiten die slowakischen Gewerkschaften ausgezeichnet mit dem Management zusammen. Die Gewerkschaften behaupten, dass man problemlos innerhalb eines Tages eine Sonderschicht zusammenstellen kann. Die ArbeiterInnen selbst sind mit den Gewerkschaften nicht so zufrieden wie die Geschäftsführung. Sie klagen über das hohe Arbeitstempo und die Bedingungen insgesamt. Ihnen ist bewusst, dass sie sich die Dinge, die sie herstellen, selbst nicht leisten können. Gewerkschaftsboss Jankovic meint: »Die Leute klagen, aber sie kündigen nicht, denn wenn sie sich umschauen, sehen sie die Ukraine und haben Angst um ihren Job.«

2003 wurden während eines Arbeitskampfs bei Seat in Spanien 10 Prozent der Produktion des Seat Ibiza nach Bratislava verlagert. Als die spanischen ArbeiterInnen nachgaben, ging die Produktion ein Jahr später wieder zurück nach Spanien. Eine ähnliche Situation gab es im Frühling 2006 mit der Fabrik in Navarra, die den VW Polo produziert.

In Trnava wurden schon vor 1989 LKWs und Busse gebaut. Für das PSA-Werk, das im Sommer 2006 den Betrieb dort aufgenommen hat, wurden aber komplett neue Werkhallen errichtet, in denen gegenwärtig 3300 Beschäftigte knapp 50 000 Fahrzeuge pro Jahr produzieren sollen. 2007 soll mit 3500 Beschäftigten die volle Kapazität von 240 000 Autos pro Jahr erreicht werden. In das Werk wurden bisher insgesamt etwa 1,1 Milliarden Euro investiert. Ende 2006 sollen dort 125 Manager, 545 Spezialisten und mittlere Manager, 1400 »qualifizierte« ArbeiterInnen und 1760 ProduktionsarbeiterInnen arbeiten.

Das neue Kia-Werk in Zilina soll etwa 1,3 Milliarden Dollar kosten. Etwa 3400 ArbeiterInnen sollen dort 300 000 Billigautos pro Jahr produzieren (die Zahlen ähneln denen der neuen Werke in Tschechien: TPCA in Kolin und Hyundai in Nosovice). Die volle Kapazität soll 2009 erreicht werden. Während des Baus der neuen Werkhallen hatte Kia großen Ärger, weil einige Hallen auf Grundstücken errichtet wurden, die noch nicht gekauft waren. Kia drohte mit Investitionsstopp und einer Klage gegen den slowakischen Staat. Dieser löste das Problem radikal – die Grundstücke wurden enteignet.

Ein neues Detroit?

Zwischen 1998 und 2004 hat sich das Produktionsvolumen der Autoindustrie in der Slowakei mehr als verdoppelt und ist damit anderthalb mal schneller gewachsen als die Industrieproduktion insgesamt. Seit 1999 wurden insgesamt 167,3 Milliarden slowakische Kronen [ca. 4,7 Milliarden Euro] in diesem Sektor investiert (davon 40 Milliarden Kronen [ca. 1,1 Mrd. Euro] allein 2005). Der Anteil der Autoindustrie an der industriellen Gesamtproduktion ist von 14 Prozent im Jahr 1998 auf über 25 Prozent im Jahr 2005 gestiegen. Ihr Anteil an den Exporten beträgt 30 Prozent (wovon allein zwei Drittel auf VW entfallen!). 90 Prozent der Produktion gehen in den Export.

Was die Slowakei attraktiv für das Kapital macht, sind neben niedrigen Steuern und umfangreichen Investitionsanreizen vor allem die niedrigen Arbeitskosten und (relativ!) viele qualifizierte ArbeiterInnen. Laut dem Gelsenkirchener Center for Automotive Research sind die Arbeitskosten in den Zulieferfirmen mit 3,30 Euro pro Stunde zwar höher als in Rumänien (1,70 Euro), aber die niedrigsten in der ganzen EU. In Tschechien liegen sie bei 4,20, in Ungarn bei 4,70 und in Polen bei 5,40 Euro. In Ostdeutschland liegen sie bei 16,50 und in Westdeutschland bei 25,80 Euro. 2005 sind die Arbeitskosten pro Stunde gegenüber dem Vorjahr um 10 Prozent gestiegen (in Tschechien sogar um 11 und in Polen um 15 Prozent). Die Reallöhne in der Industrie sind 2005 um 4,8 Prozent gestiegen (gegenüber 2,6 Prozent 2004 und einem Rückgang um 1 Prozent 2003).

Arbeitskräftemangel?

Auch die qualifizierte Arbeitskraft zieht das Kapital in die Slowakei. Bisher kommen die Neueingestellten der entstehenden Autofabriken nicht vom Land, sondern sind qualifizierte ArbeiterInnen mit Erfahrung in der Industrieproduktion.

Zur Zeit arbeiten in der Autoindustrie mehr als 28 000 ArbeiterInnen (11 Prozent aller IndustriearbeiterInnen). Diese Zahl soll bis 2008 kontinuierlich auf 85 000 bis 100 000 ArbeiterInnen steigen, davon 16 000 bei VW, PSA und Kia selbst. Aber wie in der Tschechischen Republik oder in Polen fehlen dem Kapital in der Slowakei zunehmend »qualifizierte« ArbeiterInnen, besonders in der Westslowakei, wo sich die Autoindustrie konzentriert.

Vor 1989 war die Slowakei eine Hochburg der Rüstungsindustrie. Ihr Niedergang setzte große Zahlen von ArbeiterInnen frei. Sehr viele von ihnen arbeiten bereits in der Autoindustrie in Tschechien, die inzwischen stark von ihnen abhängt. Zu Hause warten aber schon die neuen Autofabriken und Zulieferer auf sie. Kia z.B. weist ausdrücklich darauf hin, dass Teile seiner Belegschaft schon Erfahrungen aus der tschechischen Autoindustrie haben. In einigen Regionen Tschechiens ist jetzt schon zu spüren, dass der Zustrom von slowakischen ArbeiterInnen zurückgeht.

Während Tschechien zunehmend ausländische ArbeiterInnen rekrutiert, ist eine solche Entwicklung in der Slowakei bisher nicht erkennbar. Um den Arbeitskräftenachschub zu sichern, sollen die Oberschulen und Universitäten in den Autoregionen in die Produktionskette einbezogen und ihre Lehrpläne auf die Bedürfnisse der Autofabriken zugeschnitten werden. Aber ähnlich wie in Tschechien scheinen die Jugendlichen nicht allzu scharf darauf zu sein, sich an den Berufsschulen auf die Maloche am Band vorzubereiten, gleichzeitig gehen die Schülerzahlen zurück.

Auch die Wohnungsfrage ist nach wie vor ungelöst. In den Zentren der Autoproduktion sind die Mieten viel höher als in anderen Regionen. Trotz der langen Tradition der Arbeitsmigration gibt es daher kaum eine Binnenmigration. Nur 16 Prozent aller VW-Beschäftigten in Bratislava kommen von weiter als 100 km her, obwohl VW den zugezogenen ArbeiterInnen eine Unterkunft anbietet. Von 41 000 BewerberInnen bei PSA in Trnava kamen nur 15 Prozent aus den besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen in der Zentral- und Ostslowakei. Nur Kia konnte ohne Probleme ArbeiterInnen aus weit entfernten Gegenden rekrutieren; abgesehen von der Region Zilina selbst kommen die größten Gruppen aus Kosice und Michalovce in der Ostslowakei. In der Regel gehen migrationswillige ArbeiterInnen aber wohl lieber ins Ausland (vor allem nach Tschechien und Großbritannien), wo sie besser verdienen.

Auch der verglichen mit den Nachbarländern rigide »aktivierende« Sozialstaat hat offensichtlich nicht genügend gefügige Arbeitssuchende produziert.

Die Zulieferer

Die Zulieferer stellen – wiederum ähnlich wie in Tschechien – den wichtigsten Teil der Autoindustrie in der Slowakei dar. Auf jeden in der direkten Automobilproduktion Beschäftigten kommen fünf ArbeiterInnen bei Zulieferern. Dieser Teil der Branche wächst auch am allerschnellsten – von 53 Milliarden Kronen Umsatz 2002 auf 140 Milliarden 2004.

Da viele Zulieferer räumlich eng an die Autowerke gebunden sind, konzentrieren sie sich in der West- und Zentralslowakei – in Zahori (VW), entlang der Vah (PSA) und im Raum Kysuce (Kia). Die unmittelbar um Kia in Zilina herum angesiedelten Zulieferer sollen etwa 4000 Jobs schaffen – gegenüber 2400 Arbeitsplätzen im Kia-Werk selbst. Insgesamt hängen schätzungsweise 11 000 Arbeitsplätze in der Slowakei an VW. Viele Zulieferer produzieren aber nicht nur für einen Konzern, sondern gleich für mehrere. Visteon in Nitra etwa, wo 400 ArbeiterInnen Innenausstattungen und Klimaanlagen herstellen, beliefert sowohl Kia als auch PSA. INA-Schaeffler, in dessen Werken in Kysucke Nove Mesto und Skalice (in der Nähe von VW) 6000 Menschen Motorteile herstellen, beliefert auch Daimler-Chrysler, General Motors, Toyota und BMW.

Viele Zulieferer produzieren auch für Autofabriken im Ausland. So wird Getrag Ford mit 3000 Beschäftigten im ostslowakischen Kechnec bei Kosice Getriebe und Motoren für Ford in ganz Europa produzieren. Ford will hier – in seinem ersten Produktionsbetrieb in Mitteleuropa – 200 000 Motoren und Getriebe pro Jahr herstellen. Beim japanisch-amerikanischen Ford-Zulieferer Yazaki produzieren 3000 ArbeiterInnen in zwei Werken in der Ostslowakei Kabelbäume.

Die Firma Matador sitzt in der nordwestslowakischen Kleinstadt Puchov, wo es auch eine Reifenfabrik von Continental gibt. Matador war hier schon vor 1989 ansässig. Die Gründung der dortigen chemisch-technischen Universität war stark auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. Matador investiert auch im Ausland – mit bestehenden Werken in Russland und Äthiopien und geplanten in China und Indien. Neben Reifen produziert Matador inzwischen auch andere Komponenten. In Dubnica nad Vahom werden gemeinsam mit der koreanischen Firma Dong Won Autotüren für den slowakischen Kia hergestellt. Insgesamt beschäftigt Matador in der Slowakei 3850 ArbeiterInnen.

Delphi mit seinem 2300 ArbeiterInnen im westslowakischen Senica ist eine der wenigen Zulieferfirmen, bei denen von größeren Konflikten zu hören war. Im Zuge eines vor allem gegen die ArbeiterInnen in den USA gerichteten konzernweiten Einsparprogramms versuchte das Management Ende 2005, die Löhne im slowakischen und den tschechischen Werken zu senken. Als daraufhin die Gewerkschaften über ein gemeinsames Vorgehen berieten und mit Streik drohten, wurden die geplanten Lohnsenkungen zurückgenommen.

Johnson Controls gehört zu den wenigen Firmen, die in der Slowakei nicht nur einen bloßen Produktionsbetrieb, sondern ein Forschungs- und Entwicklungszentrum baut. Die amerikanische Firma beschäftigt in Trencin gut 500 ArbeiterInnen in der Sitzeproduktion.

Produktionsorganisation

Da bei der vorherrschenden Just-in-Time-Produktion jedes einzelne Teil genau rechtzeitig ankommen muss, ist die ganze Produktion sehr anfällig, z.B. wenn der Verkehr lahmgelegt ist oder ein Montageband steht. Hier liegt die größte potentielle Macht der ArbeiterInnen in der Autoindustrie.

Das Autobahnnetz in der Slowakei ist bislang nur minimal ausgebaut. Es gibt z.B. noch keine Anbindung des Kia-Werk in Zilina an das Hyundai-Werk im tschechischen Ostrava-Nosovice, mit dem es eng kooperieren soll. Die Autobahnen in der Ostslowakei sollen neue Investoren anziehen, die den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in der Westslowakei beklagen. Bisher verbindet ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz alle Zentren der Autoindustrie in der Slowakei und Ostrava in Tschechien miteinander – was wiederum die EisenbahnarbeiterInnen in eine wichtige Rolle für zukünftige Konflikte rückt.

Mangels offener Klassenkämpfe und persönlicher Kontakte können wir aus diesem Material nur sehr begrenzte Schlussfolgerungen ziehen:

Die Autoindustrie, einer der wichtigsten Sektoren für die Kapitalakkumulation, gewinnt in der Slowakei immer größere Bedeutung. Die wichtigste Grenze für ihr weiteres Wachstum scheint (ebenso wie in Polen und Tschechien) der Mangel an qualifizierten ArbeiterInnen zu sein. Das macht dem Kapital Sorgen und uns Hoffnung auf größere ArbeiterInnenmacht in möglichen Kämpfen. Die Abhängigkeit der Autoindustrie von der Just-in-Time-Produktion führt zu einer Vereinheitlichung der ArbeiterInnenerfahrung und zu lokalen und internationalen Verbindungen zwischen den ArbeiterInnen.

Das Kapital äußert bereits Befürchtungen, dass der aktuell entstehende Arbeitskräftemangel in der Branche einen Lohndruck auslösen könnte.

Der Prozess der technischen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse ist noch keineswegs abgeschlossen. Vielleicht ist das der Hauptgrund dafür, dass die Klasse bisher keine politischen Antworten im Klassenkampf gefunden hat. Dabei fragen wir uns, ob den ArbeiterInnen eigentlich bewusst ist, in welcher außergewöhnlich günstigen Position sie sich angesichts der Wachstumspläne und des absehbaren Mangels an »qualifizierten« Arbeitskräften gegenüber den Arbeitgebern befinden.

GenosseInnen aus Tschechien

Fußnoten:
[1] Der Lohn bei VW lag 2004 bei etwa 26.000 slowakischen Kronen [ca. 730 Euro], der Durchschnittslohn in der Slowakei lag bei etwa 15.000 Kronen [ca. 420 Euro]. Die Lohnkosten pro Stunde betragen etwa 13 Prozent

 
 
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