aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007
Die Standortsicherungspolitik der IGM beginnt international zu wirken: die Golfproduktion soll in Wolfsburg und Mosel konzentriert werden. Am 17.11.2006 wurde im belgischen Radio verkündet, dass mit dem Golf 4000 der 5800 Arbeitsplätze im VW-Werk Forest (in Brüssel-Vorst) verschwinden würden. Die Spätschicht ging sofort in Streik, die Nachtschicht schloss sich an, und in der Nacht zum Samstag wurde die Hauptverkehrsstraße in Vorst mehrere Stunden lang mit brennenden Barrikaden blockiert. Die Arbeiter besetzten das Werk, die Tore wurden dicht gemacht. Nach dem Wochenende bändigten die Gewerkschaften den Streik: Die Besetzung wurde zur Blockade abgeschwächt und Verhandlungen mit der Betriebsleitung gefordert. Nachdem auf der Betriebsversammlung am Dienstag die Pläne der Konzernleitung offiziell wurden, wurde abermals die Hauptstraße blockiert, die bereitgestellte Hundertschaft und die Wasserwerfer kamen nicht zum Einsatz. Am Mittwoch (22.11.) fand vor dem Haupttor eine Massenversammlung statt, auf der neben den VW-ArbeiterInnen viele aus den umliegenden Zulieferbetrieben teilnahmen, wo vermutlich 8000 bis 12 000 Stellen wegfallen werden. Die Weiterführung des Streiks wurde beschlossen und die Gewerkschaften planten eine europaweite Demo am 02.12., zu der dann auch ArbeiterInnendelegationen von 200-300 ArbeiterInnen aus Vorst bei Ford (Genk), Volvo (Gent) und Opel (Antwerpen) und in Charleroi mobilisierten. Die Werke von Faurecia und Decoma wurden besetzt.
An der Demonstration beteiligten sich ca. 25 000 Menschen, darunter viele AutomobilarbeiterInnen aus den Hersteller- und Zulieferwerken. Politik und Gewerkschaften wetterten gegen die »deutsche Heuschrecke« und plädierten für Verhandlungen um den Standort Brüssel. Es gab aber auch andere Blöcke – von Sans Papiers bis zu anderen von Schließung bedrohten Betrieben, wie z. B. Kraft Food Belgium – und Delegationen aus Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Luxemburg, Großbritannien, Italien und Portugal, die sich auf den Kampf bei VW bezogen. Die deutschen VW-Werke Kassel, Salzgitter, Braunschweig und Wolfsburg waren fast ausschließlich durch gewerkschaftliche Funktionäre vertreten, aus dem Riesenwerk Wolfsburg kam nur ein einziger Bus.
Der neue VW-Chef Winterkorn war schon kurz vor der Demonstration nach Brüssel gereist, um mit den Gewerkschaftsvertretern und der Regierung zu verhandeln. Angedeutet wurde, dass die geringfügige Polo-Produktion 2009 um die Produktion des Audi A1 ergänzt werden soll und so 3000 der 4000 bedrohten Stellen gerettet werden könnten. Das aber nur, wie die Konzernspitze am 7.12 auf der Betriebsversammlung zur Verabschiedung von Pischetsrieder in Wolfsburg konkretisierte, wenn die Belegschaft einer Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 38 Stunden ohne Lohnausgleich zustimmt.
Der Sozialplan stand nach Verhandlungen in der Nacht zum 9.12.: freiwillig ausscheidende Beschäftigte erhalten Abfindungen zwischen 25 000 und 144 000 Euro.
Die als kämpferisch geltenden ArbeiterInnen in Brüssel hatten sich bisher entschlossen gegen die Flexibilisierung und Verlängerung ihrer Arbeitszeit gewehrt.1 Diese Kämpfe hatten die Gewerkschaften bisher in Verhandlungsabschlüsse umgesetzt. Dieses Muster scheint auch den aktuellen Kampf zu begrenzen. Kurz nachdem die Verhandlungsergebnisse durchsickern finden sich am Sonntag (10.12.) vor dem Tor radikale Transparente: »Wenn die Chefs es im Guten nicht verstehen, gibt es die korsische oder irakische Methode«. Doch es herrscht Endzeitstimmung: von den anwesenden Streikposten denkt niemand daran – wie von VW verlangt – am 18.12. die Arbeit wieder aufzunehmen. Die Versprechungen der Audi-Produktion verstehen sie als Hinhaltemanöver. Aber offene Diskussionen darüber, wie nun der Streik weitergeführt werden könnte, sind nicht möglich: »ich bin kein Delegierter«, sagt ein Streikender in Brüssel.
Das folgende ist ein Flugblatt von Mouvement Communiste, das sie dreimal an den Fabriktoren und auf der Demo am Samstag, den 2. Dezember verteilt haben.
Produktionsstopp für den Golf bei VW Forest und Entlassung von 4000 direkt bei VW Beschäftigten und doppelt so vielen bei den Zulieferern
Als Akteur auf einem Markt, bei dem die Produktionskapazitäten in Europa und weltweit die Aufnahmefähigkeit des Marktes bei weitem übersteigen, hat sich die Konzernleitung von VW an eine umfassende Umstrukturierung der Produktionsstätten an allen Standorten gemacht: 20 000 Stellen werden in Deutschland abgebaut (trotz der Rückführung der Golf-Produktion in seine Heimat), 4000 in Forest, in Brasilien, und morgen bestimmt in Spanien....
Die Ankündigung, die Montage des Golf in Forest einzustellen, bedeutet die baldige Schließung der Fabrik und den massiven Verlust von Arbeitsplätzen nicht nur bei VW, sondern auch bei den Zulieferern.
Die politische und gewerkschaftliche Szenerie regt sich allerorten und spielt sich in den Medien und hinter den Kulissen auf, um den Arbeitern bei VW und den Zulieferern »zu Hilfe zu eilen«. Aber das sind genau dieselben, die Euch schon mal »zu Hilfe geeilt« sind, als sie Euch gezwungen haben, im Namen der hochheiligen Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs alle bisherigen Sparmaßnahmen zu akzeptieren; als sie von Euch gefordert haben, als verantwortungsvolle und vernünftige Arbeiter zu handeln und als sie Euch das Ende des Unternehmens prophezeiten, wenn Ihr die verlangten Opfer verweigert.
Dass Politiker und Gewerkschafter aller Art lustvoll wiederholen, der Standort Forest sei einer der produktivsten des ganzen Konzerns, wird daran nichts ändern. Habt Ihr Renault Vilvoorde schon vergessen? Sie tischen Euch heute dieselben Argumente wie damals auf. Die Kosten für die Arbeitskraft sind am Standort Forest in etwa gleich hoch wie in Wolfsburg, seit die deutschen Gewerkschaften (die IG-Metall sitzt im Aufsichtsrat von VW) eine Ausweitung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich ausgehandelt haben. Der Konzern hat Überkapazitäten, die der Markt nicht aufnehmen kann. Außerdem kommen 60 Prozent der Teile für die Fabrik in Forest aus Deutschland, was große logistische Kosten mit sich bringt. Dagegen werden alle Opfer, denen Ihr zugestimmt habt, nichts ausrichten können.
Die Unterscheidung zwischen deutschen und belgischen Arbeitern ist eine Falle der Gewerkschafter und Politiker, um Euch von dem einzigen Terrain abzubringen, auf dem Ihr eine Chance habt, Eure Haut teuer zu verkaufen: dem Terrain des Klassenkampfs.
Heute, da Ihr dem Frontalangriff der VW-Konzernleitung ausgesetzt seid, verlangen dieselben »gesellschaftlichen Kräfte« ein weiteres Mal von Euch, ruhig zu bleiben, Euch als verantwortungsvolle Arbeiter zu betragen und klugerweise nach Hause zu gehen.
Letzte Woche, als sie Euch ermahnt haben, ruhig zu bleiben und abzuwarten, seid Ihr in den Streik getreten, ohne Euch um ihre Meinung zu kümmern.
Schnauze voll vom Vernünftigsein!
Das Beil ist gefallen, die Fabrik wird früher oder später dicht machen, sei‘s drum. Die Arbeiterseite fordert Lohn; bis zur Pensionierung, auch ohne Arbeit bei VW. Wenn der Chef entscheidet, die Fabrik zu schließen, ist es nicht die Sache der Arbeiter, die Konsequenzen zu tragen. Ohne radikalen Kampf ist das natürlich nicht zu erreichen.
Der Gegenschlag muss dort konzentriert werden, wo er weh tut. Ihr dürft Euch weder auf unnütze und kraftraubende nationale Demos einlassen, die den Kampf zu Grabe tragen. Noch dürft Ihr die Führung des Kampfes den Gewerkschaften und anderen »gesellschaftlichen Kräften« überlassen, die Euch seit jeher betrügen.
Im Gegenzug müssen die Arbeiter der Zulieferer für den Kampf gewonnen werden. Der gemeinsame Kampf darf niemanden auslassen, denn oft werden die Arbeiter des Unternehmens im Rampenlicht besser behandelt als die anderen. Wir müssen die Zugehörigkeit zu Kategorien abschütteln, in die sie uns unter dem Vorwand der Betriebszugehörigkeit einsperren.
Denn die einzige Art und Weise, sich hier bestmöglich rauszuziehen, ist die kollektive Kraft zu nutzen und den Chefs und der Regierung Angst einzujagen, und nicht rumzuheulen und sich zu beklagen, während man von ihnen Brotkrumen erbettelt.
Ihr werdet die Schließung des Standort Forest durch die Konzernleitung nicht verhindern können, aber Ihr könnt Eure Haut sehr teuer verkaufen.
Nur die unabhängige Organisierung der Arbeiter ohne irgendeinen Unterschied kann Erfolg haben.
Dafür sind die Minister, Gewerkschaften und Hilfen der Region völlig nutzlos. Mit Sicherheit wird der Arbeitgeber sie vorteilhaft einsetzen, um den Kampf ins Leere laufen zu lassen.
Mouvement Communiste
[1] siehe den vierwöchigen Streik gegen das Bandtempo 1994; Artikel in wildcat 64/65
Die Automobilproduktion in Belgien
Belgien ist nach wie vor das Land mit der höchsten Pro-Kopf-Autoproduktion der Welt. Während die EU Produktion von 2004 auf 2005 um 284542 abnahm, ist sie in Belgien um 38669 gestiegen. Derzeit (2005) arbeiten 46300 Beschäftigte in der belgischen Automobilproduktion. Wie in Deutschland waren die Produktionssteigerung vom Stellenabbau bei den Herstellern begleitet. In den vergangenen zehn Jahren haben schon 3000 Renault-ArbeiterInnen ihre Stelle verloren, General Motors baute in Antwerpen 4000 Stellen ab. Trotz des Streiks 2003 in Genk (siehe Wildcat 68) wurden bei Ford 3000 Stellen gestrichen. Die Autoproduktion in Belgien soll aber nach einer aktuellen Studie weiter zunehmen.