Wildcat Nr. 79, Herbst/2007, S. 3–4 [w79_edi.htm]



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Trau keinem über 30 !

war ein gängiger Spruch im Summer of Love, der große Dinge ankündigte (u.a. den Mai ’68 in Frankreich, den Heißen Herbst ’69 in Italien) und am 7. Oktober vor 40 Jahren zuende ging. Vor genau 30 Jahren, im sogenannten »Deutschen Herbst«, erschien das erste Heft der Vorläuferin der Wildcat. Ende September 2007 werden wir 30 und stehen jetzt am Scheideweg! Natürlich feiern wir das nicht, keine Jubiläumsnummer mit Rückblick auf 1977! Tretet ein, in die deutsche_herbst-freie Zone…

» Im nächsten Heft dann in der Stadt!«, endete der Kollektivartikel in der letzten Nummer. Aber die Suche nach den städtischen Kollektiven müssen wir aufs nächste Heft schieben – hallo Dresden, Radiosendung war klasse!

Wir haben lange kein Heft, nebenher aber in den letzten Monaten eine Zweitauflage der DVD gemacht, die in der letzten Wildcat für AbonnentInnen beilag (Blick nach links!). Mit dem Dokumentarfilm Porto Marghera. Die letzten Feuer haben wir ein Jahr lang Veranstaltungen in über 40 Städten gemacht. Für uns war dieses systematische Touren wichtig, weil wir damit unsere Diskussionen nicht nur über Papier rüberbringen, sondern im lebendigen Austausch mitkriegen, was Leute damit anfangen. Solche Veranstaltungsrundreisen wollen wir weiterhin machen – dabei aber drauf achten, dass das Heft regelmäßig erscheint. Versprochen!

Die Veranstaltungen haben uns auch darin bestärkt, nicht weiter auf die philosophisch interessierte (Post-)Operaismus-Debatte einzugehen. Sie hilft nicht wirklich bei den Fragen, die heute anstehen; sie gibt uns keine Mittel in die Hand, uns gemeinsam mit anderen zu wehren. Mit den Rundreisen haben wir andere Leute kennengelernt, die einen praktischen Zugang zu diesen Fragen haben.

Oft waren Leute vom Kontrast zwischen den anturnenden Berichten über vergangene Kämpfe und unserer nüchternen Analyse von heute enttäuscht, sie hatten auch aktuell optimistische Nachrichten erwartet. Die konnten wir teilweise nicht liefern. Für uns war wichtiger, die realen aktuellen Bewegungen und Probleme anzugucken. Nur aus der realen Situation lässt sich ein tragfähiger Optimismus entwickeln. Alles andere ist Pfeifen im Wald. Und so schlecht läuft es doch in letzter Zeit gar nicht!

Gewisse linke Kreise näselten vor kurzem noch irgendetwas von »ismus«, wenn jemand auch nur das Wort »Arbeiter« in den Mund nahm, oder gar Klassenkampf! Je »autonomer« die Position, um so mehr verengt sich das »Kämpfen« auf die eigene Gruppe oder Szene.

Inzwischen sind viele linke Zeitschriften wieder voll davon, und jede Menge Bücher zum Thema erscheinen. Manche jubeln sogar schon von »Streikwelle«, wenn irgendwo 20 Leute auf Befehl Trillerpfeifen rausholen. Die Berichterstattung ist insgesamt auf eine ziemlich unanständige Weise »wohlwollend«. Je gewerkschaftsnäher die eigene Position, um so schneller wird jede Warnstreikaktion mit Rumstehen in Plastiktüten als »Kampf« bezeichnet.

Die wichtige Nachricht ist aber auf jeden Fall, dass es wieder Bewegungen gibt – über die es sich auch (wieder) zu streiten lohnt. Im Heft sind mehrere Artikel zum Thema Arbeit und Kämpfe dagegen:

– Zwei Artikel zu VW: Auto 5000 in Wolfsburg (S. 33) und zum Streik in Belgien Ende letzten Jahres. (S. 39)

– Die Leiharbeit wurde in letzter Zeit mit großem Getöse von Arbeitgeberseite als Krisenlöser gepusht und als Schreckgespenst benutzt. Gemischtes Resümee nach mehreren Interviews auf den Seiten 26-32.

– Schon dramatisch die Einblicke bei den Interviews mit einem ehemaligen Fallmanager und einer Quereinsteigerin im Weiterbildungsbereich. (S. 43)

– Die Besprechung des Gate Gourmet-Buchs fällt kritisch aus, weil wir die »Rückkehr der Streiks« auf ihre Chancen und Grenzen hin untersuchen wollen, um Eingreifmöglichkeiten zu finden, um genauer zu gucken, wo die Linke dazu lernt – und wo sie nur ihre alten Vorurteile und Theorien bestätigt. (S. 54)

– Auch in der Wildcat wurde das Ende des Streiks bei Gate Gourmet mit »nach dem Streik ist vor dem Streik« kommentiert. Jemand, der seither dort gearbeitet hat, berichtet eher von verbrannter Erde. (S. 31) Eine Erfahrung, die wir auch in anderen Situationen gemacht haben, z.B. nach dem Ende der Streiks im Öffentlichen Dienst 2006. Deshalb haben wir Interviews zum Thema »Nach dem Streik« gemacht, wovon wir eins im Heft abdrucken (S. 11).

– Wir waren bei Bike Systems in Thüringen und haben darüber einen kurzen Bericht geschrieben. (S. 23)

– Bei allen Streiks der letzten Zeit spielten Abfindungen eine große Rolle – eine noch größere spielten sie vielleicht beim Verhindern von Streiks. So wie die Montanbestimmung in den 50er und 60er Jahren der gesetzliche/gewerkschaftliche Rahmen zum Abbau des Ruhrkohlebergbaus war, sind Beschäftigungspakte und Sozialtarifverträge die Instrumente, mit denen die aktuelle Umstrukturierung gegen die Industriearbeiterklasse in Deutschland »sozialverträglich umgesetzt« und das heißt vor allem anderen: »politisch durchgesetzt« wird. Wir haben deshalb einen eigenen Artikel zur Frage der Abfindungen geschrieben. (S. 16)

Schließlich versuchen wir im Einleitungsartikel eine Standortbestimmung: wo stehen wir im Jahr 2 der Rückkehr der Streiks? (Blick nach rechts!) Dazu eine weitere positive Meldung: Laut offiziellen Erkenntnissen setzt sich der Trend der stetig sinkenden Krankenstände der letzten Jahre 2007 nicht fort. Erhebungen weisen fürs erste Halbjahr 2007 sogar einen leicht erhöhten Krankenstand gegenüber dem Vorjahr auf: 3,9 im Vergleich zu 3,6 Prozent. Das ist immer noch verdammt niedrig, 2006 wurden mit 12,4 Tagen die geringsten Krankentage seit 30 Jahren ausgewiesen! Aber endlich scheint die Talsohle bei den geringen Fehlzeiten durchschritten zu sein.

Und wenn diese Talsohle erstmal durchschritten ist, werden andere folgen!

Da könnt Ihr uns trauen – wenn auch vielleicht zum letzten Mal.

Kollektiv wildcat, 11. September 2007



aus: Wildcat 79, Herbst 2007



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