Wildcat Nr. 79, Herbst/2007, S. 26–32 [w79_leiharbeit.htm]



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Leiharbeit –

»Rauskommen war schwieriger«

Für die einen ist der Gang zum Sklavenhändler1 die einzige Chance, überhaupt irgendwo unterzukommen, weil sie eine Festanstellung nicht zu erwarten haben. Andere nutzen sie als Möglichkeit, nur zeitweilig zu arbeiten und trotzdem Hartz IV zu umgehen. Viele haben die Hoffnung, übernommen zu werden, und für manche funktioniert das auch.
Wir haben mit ein paar Arbeitern Gespräche geführt, Auszüge daraus findet ihr im zweiten Teil. Drei Interviews sind kein Querschnitt durch die Leiharbeit, zumal es die typische Leiharbeiterin nicht gibt. Die Interviews geben stark subjektive Einschätzungen wieder und können nur einen Einblick vermitteln, wie sich die ArbeiterInnen in diesen Verhältnissen bewegen und wie sie diese prägen.
Einleitung

Kasten: Änderungen des AÜG

Interview 1: Platinenbestückung bei Flextronics

Interview 2: Jetzt kannst du lebenslang bei der Firma bleiben...

Interview 3: Unter Streikbrechern

Die Leiharbeit ist eine der sich am stärksten entwickelnden Beschäftigungsformen in der BRD. Die Zahl der LeiharbeiterInnen verdreifachte sich in den letzten zehn Jahren. Jeder vierte neu entstandene Arbeitsplatz wird mit Zeitarbeit abgedeckt. Die mehr als 7000 Verleihfirmen, die 12,4 Milliarden Euro pro Jahr umsetzen, beschäftigten nach Angaben des Bundesverbandes Zeitarbeit (BZA) rund 650 000 Menschen. Bei Berücksichtigung der hohen Fluktuation kann von einer Million Menschen ausgegangen werden, die 2006 über Verleiher arbeiteten.

Die hohen Wachstumsraten der Branche von jährlich 10 Prozent stützen sich im Osten eher auf die klassischen Auslagerungsbereiche wie Reinigung, Bewachung, Call Center usw.. Im Westen sind es stärker die großen Industriebetriebe.

Dennoch sind immer noch unter zwei Prozent aller Beschäftigten LeiharbeiterInnen, während es in Großbritannien z.B. fünf Prozent sind. Nur 2,4 Prozent aller Unternehmen in der BRD nutzen Zeitarbeit. Deren Bedeutung liegt nicht in ihrer Masse, sondern in ihrer politischen Funktion.2

Ein Drittel aller Einsätze fallen in den größeren Betrieben der Metall- und Elektroindustrie an. In der Autoindustrie war vor zehn Jahren Leiharbeit noch die absolute Ausnahme, heute beschäftigen 86 Prozent aller Hersteller und Zulieferer permanent um die 60 000 LeiharbeiterInnen, das entspricht 17 Prozent aller ArbeiterInnen in diesem Sektor. Bei BMW in Leipzig sind 30 Prozent Leiharbeiter; Opel kündigte an, in Bochum künftig mit 15 Prozent LeiharbeiterInnen zu produzieren.

Solchen sogenannten »Intensivnutzern« der Leiharbeit geht es vor allem um höchstmögliche Flexibilität. Leiharbeiter können von heute auf morgen aus dem Betrieb entfernt werden, ohne dass für den Entleihbetrieb schwer kalkulierbare Kosten für Abfindungen, Prozesse, Frührenten, Krankheiten usw. anfallen. Mit der Kombination von Leiharbeit und Jahresverträgen kann die Probezeit faktisch auf drei Jahre und mehr ausgeweitet werden. Eine absolut beschissene Situation für alle, die auf eine Festeinstellung hoffen. Es entstehen ein verstärkter Druck, sich beweisen zu müssen, Unsicherheit und Konkurrenz. Die Leiharbeit ist neben den Arbeitszeitkonten und der flächendeckenden Einführung befristeter Verträge eines der wichtigsten Instrumente der Flexibilisierung geworden. Vor allem dort, wo durch Auslagerung, Subunternehmer und Just in time-Produktion die Produktionsketten verändert werden, wo der Produktionsprozess in viele einzelne Segmente aufgeteilt wird, die als selbständige unternehmerische Einheiten auftreten und miteinander konkurrieren, ist Leiharbeit in all ihren Facetten fester Bestandteil der Produktion geworden. Sie dient dazu, Druck auf die Stammbelegschaften aufzubauen, schlechtere Bedingungen durchzusetzen, und sie wird zum wichtigen Faktor beim Standortranking. Bei Airbus beispielsweise machen LeiharbeiterInnen ein Drittel der Belegschaft aus. Auf der Häfte der 3700 Stellen, die in den nächsten Jahren abgebaut werden sollen, sind Leiharbeiter beschäftigt.

Oft verdienen LeiharbeiterInnen weniger als Festangestellte, aber zum Teil wird diese Flexibilität auch mit Löhnen erkauft, die sich denen der Festangestellten annähern. Im August hat die IG Metall mit der Leihfirma Adecco einen Tarifvertrag speziell für die bei Audi Ingolstadt beschäftigten Leiharbeiter abgeschlossen. Nach diesem erhalten sie in den ersten drei Monaten 13,70 Euro pro Stunde, danach 14,43 Euro, was laut IGM dem Niveau eines Facharbeiters der bayerischen Metall- und Elektroindustrie entspricht. Hinzu kommt eine Auslöse bei Übernachtung und bezahlte Heimfahrten nach Bundesmontagetarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie. Es bleibt abzuwarten, ob das eine Entwicklung ist, die sich fortsetzt, weil es zunehmend schwieriger wird, geeignete ArbeiterInnen zu finden, die längerfristig zu niedrigen Löhnen arbeiten.

Die Ausweitung der Leiharbeit und die rechtlichen Änderungen verändern auch das Arbeitsleben. Es verkürzten sich sowohl die Beschäftigungsverhältnisse in den Zeitarbeitsfirmen als auch die Verweildauer in den Betrieben, an die die LeiharbeiterInnen verliehen sind. Leute werden öfter zwischen den Aufträgen in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ein Drittel bleibt maximal drei Monate, ein Viertel nicht länger als sechs Monate, und nur jedeR zehnte LeiharbeiterIn ist ein Jahr oder länger beim selben Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt.

Es macht auch einen Unterschied, ob man als LeiharbeiterIn oder über einen Werkvertrag als Fremdarbeitskraft beschäftigt ist. LeiharbeiterInnen unterstehen den Vorgesetzten im entleihenden Unternehmen, werden zum Teil von diesen ausgesucht. Sie sind von der Leiharbeitsfirma eingestellt und werden von dieser bezahlt. Bei Airbus beispielsweise erhalten sie nach drei Monaten den gleichen IGM-Tarif wie die Festangestellten. Die Leiharbeitsfirma kann aber auch einen Werkvertrag mit einem Unternehmen abschließen. Dann unterstehen die Fremdarbeitskräfte, die zur Ausführung eingestellt werden, nicht mehr dem Auftraggeber.

Zwar hat nur ein Drittel der LeiharbeiterInnen keine Berufsausbildung, rund die Hälfte wird aber als »NichtfacharbeiterIn« zu entsprechend niedrigeren Löhnen eingesetzt. Angaben über den sogenannten Klebeeffekt, d.h. die Übernahme von LeiharbeiterInnen mittels Direktverträgen, schwanken zwischen 30 Prozent (BZA) und 15 Prozent (DGB). So zirkuliert innerhalb der Kernbereiche der Industrie eine Mischung aus jungen, meist migrantischen ArbeiterInnen und älteren, oft schon jahrelang arbeitslosen Ehemaligen aus Kernbelegschaften – mit geringen Chancen auf formale Unternehmenszugehörigkeit und die mit ihr verbundenen Vorteile.


Überblick über die Änderungen des 1972 verabschiedeten »Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes« (AÜG)

1982

Verbot der Leiharbeit im Bauhauptgewerbe (Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und Schwarzarbeit)

1994

Verlängerung der Überlassungshöchstdauer von 6 auf 9 Monate und Aufhebung des Synchronisationsverbots für schwer vermittelbare Arbeitslose. Synchronisationsverbot heißt, dass die Dauer des Leiharbeitsverhältnisses die Zeit des ersten Entleiheinsatzes »erheblich« überdauern muss, als Faustregel hatte die Rechtsprechung hierfür eine Dauer von 25 Prozent des Ersteinsatzes festgelegt.

1997

Verlängerung der Überlassungshöchstdauer von 9 auf 12 Monate und Zulassung lückenlos aufeinander folgender Befristungen mit demselben Leiharbeitnehmer. Zulassung der Synchronisation von Ersteinsatz und Arbeitsvertrag beim erstmaligen Verleih, Erlaubnis einmaliger Befristung ohne sachlichen Grund.

2002

Verlängerung der Überlassungshöchstdauer von 12 auf 24 Monate. Das »Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« (Hartz I) nimmt zahlreiche Änderungen am AÜG vor, die zum Teil erst 2004 in Kraft treten, nachdem die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden. Der Gleichbehandlungsgrundsatz zwischen LeiharbeiterInnen und Festangestellten soll nach 12 Monaten greifen.

2003

Lockerung des Entleihverbots im Bauhauptgewerbe; Voraussetzung ist ein gültiger Tarifvertrag.

Am 30. Mai schlossen die beiden großen Zeitarbeitgeberverbände – der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ ) und der Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen (BZA) – mit dem DGB Manteltarifverträge zur Regelung von Mindestarbeitsbedingungen in der Zeitarbeit und Entgelttarifverträge ab. Gab es vor dieser Gesetzesbestimmung nur wenige Haustarifverträge in der Zeitarbeitsbranche, so sind heute etwa 95 Prozent aller Zeitarbeitskräfte auf Basis tariflicher Vereinbarungen beschäftigt.

Die ausgehandelten Tariflöhne liegen im Westen bei 43,6 bis 46,1 Prozent des Medianlohns. Der folgende Vergleich zeigt, dass sich die gelbe christliche Gewerkschaft, der DGB und der Staat nicht wirklich über die Lohnhöhe streiten: im Westen (Osten) liegt der Einstiegslohn laut christlichem Tarifvertrag bei 6,80 Euro (5,60 Euro), beim DGB-Vertrag bei 7,00 bis 7,20 Euro (6,00 bis 6,20 Euro). JedeR achte ZeitarbeiterIn war 2006 auf zusätzliche staatliche Leistungen (z.B. aufstockendes ALG II) angewiesen, 94 Prozent davon waren Vollzeitbeschäftigte.

2004

Wegfall der Begrenzung der Überlassungshöchstdauer; das Synchronisationsverbot und die Wiedereinstellungssperre sind gänzlich aufgehoben. Jetzt kann der Sklavenhändler eineN ArbeiterIn für nur eine einzelne Überlassung in einen Kundenbetrieb einstellen und danach wieder entlassen und später wieder einstellen, ohne für die dazwischen liegende Zeit Lohn zu bezahlen.

Gleichbehandlungspflicht der ZeitarbeiterInnen mit den vergleichbaren Stammbeschäftigten im Kundenbetrieb, sofern es keine abweichenden Tarifvereinbarungen gibt.

Die zahlreichen Tarifabschlüsse schalteten den Gleichbehandlungsgrundsatz aus und führten zu einer allgemeinen Lohnsenkung in der Branche.

Die Einsatzzeit beim Entleihbetrieb ist nicht mehr auf zwei Jahre begrenzt. Die Leihfirma muss nicht mehr unbefristet einstellen. Die Leihfirma kann sofort kündigen, wenn der Einsatz im Entleihbetrieb beendet ist. 3


»Bis zum Sommer noch, bis es warm wird, dann hörste auf!«

Platinenbestückung bei Flextronics Paderborn …

Flextronics stellt im Auftrag von Firmen wie Sony, Ericsson, Microsoft oder Siemens Spielkonsolen, Handys oder Satellitenreceiver her und gehört mit weltweit ca. 70.000 Beschäftigten zu den größten Herstellern von Elektronikartikeln. Neben niedrigen Löhnen setzt Flextronics auf eine hohe Auslastung und flexiblen Maschineneinsatz. Rückgrat dieser Produktionsform sind Platinenbestückungsmaschinen, die sich sehr schnell auf neue Serien umrüsten lassen. In Paderborn laufen sieben unterschiedliche SMD-Linien,4 die für bis zu 15 verschiedene Kunden ca. 500 verschiedene Teilprodukte herstellen. Von den rund 600 Beschäftigten arbeiten 200 in der Produktion, davon ca. 60 LeiharbeiterInnen, die von zwei kleineren regionalen Zeitarbeitsfirmen kommen. Etwa die Hälfte der Belegschaft sind MigrantInnen, etwa die Hälfte sind Frauen. Die letzten Festeinstellungen sind fünf Jahre her, die meisten arbeiten seit zehn, zwanzig Jahren im Werk. Auch von den Zeitarbeitern sind viele MigrantInnen.

Die meisten Frauen arbeiten in der Handlötabteilung und in der Qualitätskontrolle. An den Bestückungsautomaten arbeiten meist Männer. Die Anlernzeit an den Linien mit kleinerer Stückzahl beträgt offiziell einen Monat, es sind aber eher zwei bis drei Monate notwendig, bis man über die speziellen Kenntnisse fürs Umrüsten verfügt. Die Anlernzeit an den Massenfertigungslinien beträgt rund eine Woche, hier ist die Arbeit aber bei Vollauslastung stressiger.

Die Festangestellten, die an den SMD-Linien arbeiten, bekommen in der untersten Lohngruppe um die 12,50 die Stunde, die ZeitarbeiterInnen zwischen 7,50 und 10,50, je nach formaler Qualifikation. Mit der Übernahme des alten Nixdorf-Standortes durch Flextronics und einem neuen Haustarifvertrag hatten die festangestellten ArbeiterInnen zwischen 200 und 300 Euro monatlichen Lohnverlust.

Es werden drei rotierende Schichten gefahren, regelmäßig drei Wochen Samstagsschicht und ›bei Bedarf‹ Sechs-Tage-Woche. Zusätzlich werden Studi-LeiharbeiterInnen eingesetzt, um die Lücken zu füllen. Die normale wöchentliche Arbeitszeit beträgt 35 Stunden, es werden aber 37,5 Std. reine Arbeitszeit verlangt.

»Nach meiner Ausbildung zum Mechatroniker hab ich im Hochregallager in einem Nahrungsmittelwerk in der Wartung/Instandhaltung gearbeitet. Das war nicht wirklich Facharbeit, umgekippte Saftpaletten neu stapeln und so was. Du warst nur am Hin- und Herrennen in diesem Riesenklotz. Ich hatte einen Zeitvertrag und bin nach 18 Monaten gegangen – ich wollt nicht mehr. Das war auch ganz gut, mal acht Monate arbeitslos zu sein. Nach einem halben Jahr bekam ich vom Arbeitsamt ne Liste mit 20 Zeitarbeitsfirmen, bei denen ich mich bewerben sollte. Zum Sommer hätte ich Hartz IV bekommen, und um das etwas rauszuschieben, dachte ich, ich mach irgendwas. Hab dann einen Sechs-Monats-Vertrag bei Prondzinski-Personal aus Lippstadt gekriegt, sechs Monate Probezeit. Eigentlich wollte ich nie wieder Dreischicht machen, schon im Hochregallager hatte ich gemerkt, dass sich das zu sehr auf dein Leben auswirkt. Am Anfang geht das immer noch, aber je länger du das machst, um so beschissen wird das. Ich dachte, wenn du keinen Bock mehr hast, fliegste da schnell wieder raus, feierste mal krank oder so. Die sechs Leute, mit denen ich da angefangen hatte, waren auch alle nach drei Monaten wieder weg – von sich aus – keine Lust mehr oder hatten was Besseres gefunden.

Ich hab dann aber doch 14 Monate dort gearbeitet – hätte ich nicht gedacht am Anfang. Hab mir immer wieder Deadlines gesetzt, bis zum Sommer noch, bis es warm wird, dann hörste auf. Aber das hat nicht funktioniert, die haben mich nicht rausgeschmissen. Ich dachte mir, nach sechs Monaten ist dein Vertrag abgelaufen, dann schmeißen sie dich auf jeden Fall raus. Nach fünfeinhalb Monaten hab ich erstmal zwei Wochen krank gemacht – aber die riefen mich an, dass sie den Vertrag verlängern wollen! Nu gut, dachte ich mir, im Betrieb ging eh das Gerücht um, dass sie ab November/Dezember gar nichts mehr zu tun haben und dass dann alle rausfliegen. Also war klar, die nächsten drei Monate noch, und dann ist Schluss. Im Dezember haben sie dann sechs Leute gekündigt – aber im Januar waren die wieder da! Und die Maschinenbediener mit Facharbeiterausbildung haben sie gleich gar nicht gekündigt. Da dachte ich mir, ok, machste die zwölf Monate, dann haste auch wieder ein Jahr Anspruch auf Kohle vom Amt. Das hat dann auch so funktioniert. Ich hab mir immer eingeredet: ok, noch drei Wochen oder so, schon nur um das aushalten zu können und nicht zu denken, ich bleibe ewig da.

Die Arbeit war körperlich nicht anstrengend. Es gab keinen Akkord, aber der Zeitdruck durch die Maschinen war immer da. Am Anfang bist du da nicht so cool bei, so wie Leute, die das seit zehn Jahren machen, die sich absprechen, sich aushelfen. Die gehen bei dem Stress ne Viertelstunde Kaffee trinken zwischendurch, lassen die Maschinen laufen, und da guckt dann halt der von der Nachbarlinie, dass es weiter läuft. »Weil ich jeden Tag ne Viertelstunde gehe und gut ist«, sagen sie. Das kriegt man raus mit der Zeit, und dann wird es lockerer.

Die Leute von der Stammbelegschaft haben immer aufgepasst, dass du das auch machst. Die schicken dich einfach los. Das war von Anfang an so, ich dachte am Anfang auch, das wäre ihre reguläre Pause. Ich kannte das so aus meiner Zeit im Lager. Und hier wurde das einfach so durchgesetzt. Und wenn ein Chef das gesehen hat und mit den Schichtleitern meckerte, die Leute sollen nicht vor halb acht in die Kantine gehen, dann ist das aber sofort so weiter gegangen, völlig unbeeindruckt.

Es hat ungefähr einen Monat gedauert, bis ich halbwegs selbständig arbeiten konnte. Zuerst stellten sie mich zu zwei Kollegen an die Linie. Dann hatten sie Personalengpass und sagten: ›So, jetzt kommst du allein an eine Linie.‹ Da haben die Festangestellten mit den Köpfen geschüttelt, ›wie können die das machen, so schnell!‹ Sie erzählten mir, dass du früher drei Monate eingelernt worden bist. Ich sollte nun nach einem schon allein an so ne Linie – da ist einiges schief gegangen! Und es ist immer stressiger, wenn dir die Arbeit nicht leicht von der Hand geht. Dann rennst du immer rum, weil du Hilfe brauchst. Die anderen haben auch ihre eigene Linie und haben dann ihre eigene Arbeit nicht geschafft, weil sie dir helfen müssen – das ist unangenehm! Ist angenehmer, wenn du selbst entscheiden kannst. Wenn du keinen Bock hast, groß Trara zu machen, musst du dir was ausdenken. Wenn dein Ofen kaputt ist, dann schiebst du die Platinen bei den Kollegen der anderen Linie dazwischen.

Ich hab gemerkt, dass es gar nicht so schwer ist, irgendwo rein zukommen. Rauskommen war schwieriger. Von den Kollegen her fand ich es auch ganz angenehm. War nicht so, dass du als Leiharbeiter was Anderes warst. Und ich hab mein erstes Mal gestreikt! Ein popliger IGM-Warnstreik. 2006 war auch Warnstreik, und da ist keiner raus gegangen. Da sagten sie noch: »Wir müssen produzieren, der Kunde braucht doch seine Teile.« 2007 sind dann alle aus der Produktion raus gegangen, auch wir Leiharbeiter. Die, die nicht raus gegangen sind, haben gesagt: »…denen von der Gewerkschaft renne ich doch nicht hinterher, die verarschen uns doch nur!« Ich wollte ja eh aufhören, deshalb war mir das scheißegal. Aber auch für die anderen Leiharbeiter, die sagten: »Sollen sie mich doch rausschmeißen, aber das machen die eh nicht. Die können ja nicht die ganze Linie nach Hause schicken.«

Das war schon ganz nett. Für mich war das echt interessant – an der Oberfläche ist das ja ziemlich langweilig. Aber zu sehen, was dahinter steht, warum die Leute das machen, dass sie das zum ersten Mal seit vielen Jahren machen. Das letzte Mal war, als sie verkauft wurden. Es wurde viel mehr diskutiert, weil durch die dauernden Organisationsänderungen von oben und die häufigen Betriebsversammlungen z.B. über Ergänzungstarifvertrag viel Anlass dazu war. Und sie haben ja auf viel verzichtet die letzten Jahre – Weinachtsgeld, 180 unbezahlte Überstunden jedes Jahr. Also die haben 35-Stunden-Woche genauso wie ich, aber sie kriegen jedes Jahr 180 Stunden abgezogen. Die fangen mit Minusstunden an. Und das ist auf jeden Fall ein Konfliktpunkt, die Leute aus der Produktion überlegen ja, wie sie die 180 Überstunden schnell weg bekommen. Und manche der Angestellten wissen nicht, wie sie die Stunden machen sollen und kriegen die dann am Ende des Jahres geschenkt.

Und dann immer die Frage: »Wieviel kriegt der Sklavenhändler dafür, dass er uns hier einstellt?« Und dann kursieren da Zahlen, dass er 18 Euro kriegt und du nur 10. Dann hatte der Betriebsrat mal zu irgendwem im Gespräch ne Zahl gesagt, und die kursierte dann. Es war immer so ne Spekulation, dass die Leiharbeiter für das Unternehmen gar nicht billiger wären. Was ja immer das Argument war, um niemanden direkt einstellen zu müssen. Die haben ja seit Jahren nur noch entlassen. Auch unter Druck die Leute in die Frühverrentung geschickt. Sie konnten ja auch nicht den Leuten immer erzählen, dass das Werk unsicher ist, dass sie eigentlich zumachen wollen, und gleichzeitig Leute einstellen. Das hätte nicht funktioniert.«


»Jetzt kannst du lebenslang bei der Firma bleiben«

»Bin 66er Jahrgang, Hotelfachmann, Elektromaschinenbauer. Hab aber schon in vielen Berufen gearbeitet – als Gebäudereiniger, hab Versicherungen vertickt, Fenstereinbau gemacht und gekellnert. Hab jetzt einen modernen Beruf erlernt, Kraftfahrzeugelektriker, und tummel mich als solcher seit 2001 auf dem Arbeitsmarkt.

Mein erster Einsatz als Kraftfahrzeug-Elektriker: Mercedes-Dressel, Berlin, Festvertrag. »Halli Galli!«, dachte ich, »Das ist es!«. Musste dann nach drei Wochen feststellen, dass ich nur die Urlaubsvertretung gewesen war. Übers Arbeitsamt kam ich dann zu einer Umschulung bei Daimler in Ludwigsfelde. Produktionsarbeiter in der Produktion vom Vaneo. Wir sind in den Lack reingekommen. Wir haben bestimmte Stellen bei den Fenstern abgeklebt. Den ganzen Tag nur diese paar Handbewegungen, oder ›Hohlraumverfüllung‹: ein Loch und du hältst mit der Pistole rein, bis es voll ist. Arbeit, die keinen Spaß macht, die tut immer weh – ich war richtig fertig. Wir dachten alle, die nehmen uns, weil die einen Riesenaufwand betrieben haben. Wir waren alles Fachleute, Werkzeugmacher und Karosseriebauer, Mechaniker usw. und haben alle da für Arbeitslosengeld gearbeitet. Manche waren da so schlecht dran, die sind aus der Lehre in den Zivildienst und dann gleich da hin. Die haben noch bei den Eltern gewohnt und haben 320 Mark bekommen, die hatten nichts. Ich hatte 1000 Mark, bin nebenbei noch kellnern gegangen und hab noch was mit der Meldeadresse getrickst, um Fahrgeld zu kriegen. Wir sind alle in die Pfingstferien gegangen und dann zurück und gekündigt worden.

Also wieder arbeitslos. Dann bin ich in den Westen gegangen, sehr naiv. Ich dachte, im Westen ist es überall fett. Bin völlig nach Schnauze los. Nach Konstanz zu A.T.U., wo ich zwei Wochen lang Reifen gewechselt habe. So ne Knüppelarbeit war das, dass ich zum Chiropraktiker musste und Spritzen gegen Muskelverhärtung bekam.

Nach drei Monaten war ich schon wieder gekündigt. Und da saß ich mit meiner ostdeutschen 500-Euro-Arbeitslosenkohle in Konstanz. Und da kam die Panik. Aus dem Bauch heraus für München entschieden und was bei BMW-Fahrzeug-Erprobung bekommen. Die brauchten Leute! Die hatten einen eklatanten Arbeitskräftemangel. Die wollten noch Elektriker einstellen und hatten keinen gefunden. Das war 2003, 2004, 2005. Also Umzug nach München. Der Job – ein Paradies. Mit klimatisierten Räumen, Kaffee, Kantine – alles sauberst. Tolle Autos, interessanter Job.

Wir waren da, um die Ideen der Ingenieure technisch umzusetzen, also DVD-Einbau, Rückfahrkameras usw.. Messtechnik haben wir eingebaut für die ganzen Tests, mit den Zulieferern zusammengearbeitet, beispielsweise bei der Anhängerkupplung usw.. Und wir haben die Autos der Testfahrer betreut, wie es eine normale Werkstatt auch macht. Unsere Hauptmaschinerie war der Lötkolben und der Tester von BMW.

Es gab gerade mal noch einen ausrangierten Meister von BMW, vier Leute von der Dienstleistungsfirma Bertrandt6 und uns drei Leiharbeiter. Wie auch bei anderen, EADS, Eurofighter, Mercedes, gibt es bei BMW zwei große Dienstleister, die Ausschreibungen machen: I.K. Hofmann5 und Tuja. Bei denen bewerben sich Firmen wie Randstad, Adecco usw. als Zuträger. Das sind richtige Großhändler. Ich hatte einen Vertrag bei Adecco und die waren wiederum Verleiher für I.K. Hofmann und die wiederum für BMW. Dann gab es noch vier oder fünf andere Zeitarbeitsfirmen, die im Werk waren. Alle wollten mehr von ihren eigenen Leuten drin haben, und jeder hatte da seine Strategie, wie er die anderen alle raus haut, um seine Leute da unterzukriegen. Das ging von Abwerben bis Mobbing. Das Arbeitsklima war schon krass. Es gab immer das Gerangel, wer hat denn nun ne Chance, von BMW übernommen zu werden, denn es gab seit '98 Einstellungstopp.

Die Löhne waren tierisch unterschiedlich. Da, wo man sich kennen gelernt hatte, hat man darüber geredet. Da gab es Unterschiede, da sind Leute für 1000 Euro gekommen. Ich hab mit 1200 Euro angefangen als Leiharbeiter, Kraftfahrzeugelektriker, Facharbeiterberuf und wurde offiziell auch als Facharbeiter eingestellt. Bei BMW wirst du mit 1700 netto eingestellt, andere in meinem Alter, mit der gleichen Ausbildung und Erfahrung, haben ihre 2500 netto gehabt, mit Kindergeld usw.. Testfahrer haben 2000 netto bekommen, die konnten auch nichts Anderes als rumfahren. Als meine Tochter unterwegs war, wollte ich mit meinen Kollegen über Erziehungsgeld reden. Die wussten da nichts von, die lagen alle weit über der Bemessungsgrenze. Im Gegensatz dazu haben die Ingenieure bei uns 1350 Euro verdient. Hochschul-Ingenieure! Die waren über Bertrandt da.

Zu der Zeit, als ich da war, hatten sie 40 Prozent Leiharbeiter im Werk. Das ist dir erst richtig aufgefallen, wenn Betriebsversammlung war. In der Halle, zwischen den Linien, wurden eine Leinwand und Stuhlreihen aufgebaut und dann wurde aus dem Hauptquartier übertragen. Und wer da saß, war fest angestellt, und alle, die noch gearbeitet haben, waren Leiharbeiter. Da hat man sich oft gewundert, wer noch alles am arbeiten ist. Es gab dann eine Absatzkrise in Dingolfing, und die wollten ihre Leute rüberholen. Und Ende März haben die dann alle Leiharbeiter entlassen. Manche Leute haben es erst am Montag erfahren, weil sie nämlich nicht mehr rein gekommen sind, andere haben sonntags einen Anruf bekommen. Wenn einer das Bild seiner Freundin in der Werkzeugkiste hatte, dann hat sich da ein anderer drüber gefreut, denn der war einfach weg.

Ich war der einzige, der geblieben war. Und in der Zeit sah es so aus, als ob sie mich übernehmen. Aber ehrlich, wenn dein Ausweis mal nicht ging, du gerade aus dem Urlaub oder vom Wochenende wieder kamst, das war schon krass, das konnte dein letzter Tag gewesen sein. Und letztendlich war es bei mir so: mir wurde erzählt, dass es da Diskussionen um mich gab. Kann der noch bleiben oder nicht? Und letztendlich hat sich dann der Betriebsrat dagegen gestemmt. Und so hieß es: ›Pack deine Sachen!‹, ich konnte gerade noch ›Tschüß, tschüß‹ sagen, ›wir telefonieren mal‹, und dann war ich raus. Das war Mai 2005. Ich hab dann noch 2000 Abfindung rausgeboxt, denn die von Adecco wollten mich ja gleich kündigen. Haben mir gedroht: ›Ich schicke Sie sonst wohin‹ und so was. Aber ich kannte einen von Adecco, und der hatte mich ein wenig beraten.

Über die Gewerkschaft hab ich mich am meisten geärgert. Die schützen die, die einen Job haben, vor denen, die auch einen haben wollen. Hab ich irgendjemand gehabt, der mich geschützt hat? Hatte ich nicht! Was war ich denn? Zeitarbeiter? Ich hab einen Zeitarbeitertarif gehabt. Ich hab also igendwann mal Zeitarbeiter gelernt oder watt?

Als ich da anfing, mussten ja alle noch nach einem Jahr für drei Monate Pause machen und dann wieder ein Jahr. Das haben sie ja abgeschafft. Jetzt kannst du lebenslang bei der Firma bleiben. Die Grundidee der Zeitarbeit finde ich ja gar nicht schlecht. Ein Elektriker bei Mercedes soll ja nicht ein halbes Jahr Kabelgräben schippen und bei BMW wissen die nicht, wo sie einen her bekommen. Aber die Idee ist ja irgendwie pervertiert.

Also schon wieder arbeitslos. Bin nach Schwerin bei VW vorarbeiten, in Parchim vorarbeiten, nirgendwo eine Einstellung bekommen. Nach Grimma, Regensburg, Graz, über Adecco in eine Metallbude in der Nähe von Berlin. Dann nochmal München, wieder über ne Leihfirma zu BMW. Die hatten aber Schiss, dass ich nach sechs Wochen eine Wiedereinstellung erklagen könnte. Also auch da wieder raus. Dann ein halbes Jahr nach Namibia über die Handwerkskammer. Dann bei einer Klimaanlagenfirma wieder in Potsdam. Wir sind mittlerweile im September 2006 angekommen. Dann kurz bei einer Firma, die Support für Fuji-Siemens gemacht hatte, vier Tage bei Porsche in Leipzig, für 900 Euro. Wieder nach München für HIT, hab dort bei einer Firma für Spezialaufbauten gearbeitet. Ganz schlimm! Die Unterkunft, da waren die Ferienlager vor 20 Jahren noch besser gewesen. Mit einem Typen auf dem Zimmer, der Kette geraucht hat, und die haben mir nichts besorgt. So hab ich gesagt »leck mich am Arsch« und bin los. Danach Ingolstadt, Fahrzeugerprobung von Audi. Dann 2007, einen Monat bei einem Boschdienst für 890 Euro für 250 Stunden. Das war's bis jetzt.

Ich hab 20 Jahre lang gearbeitet wie ein Bekloppter, und es ist nichts bei hängen geblieben. Ich muss nicht nochmal 20 Jahre arbeiten, um dann mit 60 festzustellen, dass da auch nichts übrig bleibt…Vielleicht kommt ja irgendwann mal der Tag, wo ich einen Job finde, meiner Ausbildung entsprechend, wo ich nicht nach drei Monaten zum Arzt muss, weil ich völlig fertig bin, wo ich auch mal Anderes machen kann außer arbeiten und schlafen.«


Unter Streikbrechern

»Zu Gate Gourmet kam ich Mitte 2006 über die Leihfirma Mumme, also kurz nach dem Ende des Streiks.7 Sie sagten, man brauche eine Sicherheitsüberprüfung durch die Luftfahrtbehörde. Im Endeffekt haben sie, glaub ich, nur meine Meldeadressen der letzten zehn Jahre überprüft. Gleich nach dem Vorstellungsgespräch gab‘s die Zusage für alle, die sich beworben haben. Der Zeitarbeitsmanager von Mumme erklärte, dass Gate Gourmet eine Stamm-Mannschaft im »Transport« aufbauen will. Hoffnung auf Festverträge hatte er uns nicht gemacht.

Ich bin dann da ins Transportlager gekommen, wo um die 25 Leute arbeiteten. Es gab noch die Küche, das Zolllager und die LKWs. Im Zolllager arbeiteten viele der ZeitarbeiterInnen von Avci. Ihre Bedingungen sind am schlechtesten. Sie bekommen keine Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit, und ihnen wird Geld für das Kantinenessen abgezogen, das für uns alle »umsonst« ist. Die Supervisoren bei uns im Transportlager sind alles Festangestellte, in erster Linie Streikbrecher. Die »organischen VorarbeiterInnen« sind meist Festangestellte, die während des Streiks von LTU zu Gate Gourmet versetzt wurden, um dort die Arbeit am Laufen zu halten. Sie erzählten, dass sie bei LTU nur befristete Verträge hatten und in der Zeit des Streiks zahlreiche Minus-Stunden aufhäuften. Einige rechtfertigten damit, dass sie den sichereren Streikbrecher-Job angenommen hatten. Aber auch einige der ZeitarbeiterInnen, die schon vor oder während des Streiks bei Gate Gourmet gearbeitet hatten, hatten so was wie ne VorarbeiterInnen-Rolle. Bei den LKW-Fahrern gibt es keine Leiharbeiter, nur Festangestellte. Einem Zeitarbeiter mit LKW-Führerschein hatten sie mal einen Posten als Fahrer angeboten. Trotz des höheren Lohns von 9 Euro statt 6,50 Euro lehnte er den Job ab, da er zu stressig sei. Vor dem Streik haben die LKW-Fahrer auch teilweise die Ladung zusammengestellt und die LKWs beladen, jetzt sollen sie sich aufs Fahren konzentrieren. Zusammengestellt und beladen wird jetzt in erster Linie von ZeitarbeiterInnen, die meisten von ihnen wurden nach dem Streik angeheuert. Insgesamt dürften damit mehr als die Hälfte der ArbeiterInnen bei Gate Gourmet von Zeitarbeitsfirmen kommen. Grund dafür sind sicherlich weniger die unmittelbaren Lohnkosten als die unsichere Situation nach dem Streik und die geplanten Umstrukturierungen. Festeinstellungen sind denen zu riskant gewesen. Die Kehrseite der flexibleren Zeitarbeit war die hohe Fluktuation. Ständig sind Leute abgehauen. Und gerade die Arbeit bei uns im Transportlager erfordert schon so ein bisschen Spezialwissen. Du brauchst bestimmt zwei, drei Wochen, bis das sitzt: Wie viele Bild-Zeitungen für Inlandsflüge, auf welche Seite des LKWs kommen die Trolleys mit ungeraden Laufnummern, wie viele Kotztüten für einen Langstreckenflug? Die Vorarbeiter und Supervisoren klagten über vermehrte Verspätungen und Fehler, suchten die Schuldigen bei den unerfahrenen Neulingen und machten den ehemaligen Streikenden das Leben schwer. Einmal hing sogar am Brett ein Aushang, der von »Sabotageakten« sprach.

Vom Streik war nichts mehr zu sehen. Ich war gespannt, wie ich drei Monate nach einem langen Streik von diesem erfahren würde, ohne nach ihm zu fragen. Gleich am ersten Arbeitstag erwähnte ein junger Staplerfahrer im Transportlager den Konflikt: »Ich arbeite schon seit Februar hier, ich bin einer der Streikbrecher«. Zwei Tage später redeten ein paar ehemalige Streikende in der Kantine von »der Zeit vor dem Streik« und über die Drangsalierungen und Kürzungsandrohungen, die damals der Auslöser waren. Ansonsten war die Atmosphäre weder ge- noch entspannt. Es gab keine offenen Reibereien zwischen ehemaligen Streikenden, StreikbrecherInnen oder uns neuen ZeitarbeiterInnen. Ich hab auch Leute offen auf den Streik angesprochen. Die ZeitarbeiterInnen, die gegen den Streik eingesetzt wurden, sagten, dass sie sich von dem Streik nicht angesprochen gefühlt hätten. Drei Leute sagten unabhängig voneinander, dass die Forderungen der Streikenden aus einer anderen Liga gewesen seien: Kürzungen hin- oder her würden die Festangestellten trotzdem aufs Jahr gerechnet rund 40 Prozent mehr verdienen und hätten sicherere Arbeitsplätze. Präsenter als die Geschichte des Streiks sind die aktuellen Probleme der Arbeit gewesen. Viele der ZeitarbeiterInnen kommen aus der strukturschwachen Region am Niederrhein und haben Anfahrtswege von bis zu 80 Kilometern. Die Schichten sind mörderisch, z.B. sechs Tage hintereinander Frühschicht, von 3 Uhr früh bis 12 Uhr Mittag, dann zwei Tage frei, dann Nachtschicht, sechs Tage von 19 Uhr bis 4 Uhr. Falls mal zu wenig Leute zur Schicht erschienen sind, mussten Leute länger bleiben, meist ein bis zwei Stunden. Manchmal haben sie auch kurzfristig Extraschichten angekündigt. Angesichts dieser Schichten und des Lohns ist es nicht weiter verwunderlich, dass die zwei Leute, die zusammen mit mir eingestellt worden waren, schon nach drei Tagen weg waren. Ein kurz darauf zirkulierendes Flugblatt gegen die Ausbeutung der LeiharbeiterInnen, das zwischen Getränkekartons, in Trolleys und Zeitschriften, zwischen den Fresspaketen gefunden wurde, sorgte für Aufregung. Manager liefen herum und riefen Leute auf, alle bereits verplombten Trolleys wieder zu öffnen. Einige der Flugblätter, die sich auch in Englisch an die Passagiere wendeten, schafften es an Bord, was Gate Gourmet dazu veranlasste, die Kripo einzuschalten. Die Nerven des Managements lagen blank. Das war bestimmt noch vom Streik übrig geblieben, von den Blockaden und Sabotage-Aktionen. Einmal kam es auch zur Zerstörung eines Zeitarbeitsbüros. Was sie aber auch richtig Nerven kostete, war die allgemeine Unruhe und Fluktuation bei den Leiharbeitern.« 


Fußnoten:

[1] Leiharbeit oder Zeitarbeit? Vor 20 Jahren hieß beides bei uns noch Sklavenarbeit und die entsprechenden Leihfirmen Sklavenhändler. In diesem Artikel verwenden wir die beiden Begriffe synonym.

[2] Leiharbeit ist international. Und LeiharbeiterInnen sind auch in der Lage zu kämpfen:

Frankreich:

Am 15. November 2006 legten 100 der 600 Leiharbeiter im Peugeot-Citroën-Werk in Aulnay-sous-Bois (Banlieue von Paris) die Arbeit für zwei Tage nieder. Ein kurzer Bericht zum Streik in Aulnay ist auf der prol position website

Chile:Ab dem 25.06.2007 traten Leiharbeiter der chilenischen staatlichen Kupfergesellschaft COLDELCO für fünf Wochen in den Streik. Am Ende setzten sie Lohnerhöhung und jährliche Einmalzahlungen durch.

Südkorea: In der südkoreanischen Provinz Geyonggi-do streiken 400 Leiharbeiter des Autohersteller KIA. Sie fordern höhere Löhne, Arbeitsplatzgarantie und gleiche Bedingungen wie die Festangestellten, die kurz zuvor eine Lohnsteigerung von 5,2 Prozent durchsetzten. Für ihre Forderungen legten die Leiharbeiter ab dem 23.08.2007 die Produktion komplett lahm. Die Produktion von 3200 Autos fiel aus. Fünf Tage später soll die Produktion teilweise wieder angelaufen sein, aber die Streikenden hielten weiterhin die Lackiererei besetzt.

[3] weitere Infos auf: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/psa/elend

[4] Oberflächenmontierbares Bauteil (englisch surface-mounted device, abgekürzt SMD): Diese Bauelemente (z.B. Widerstände oder Kondensatoren) haben im Gegensatz zur Durchsteckmontage keine Drahtanschlüsse, sondern werden mittels lötfähiger Anschlussflächen direkt auf eine Leiterplatte (Flachbaugruppe) gelötet.

[5] I.K.Hofmann bietet auf seiner Website noch eine weitere Dienstleistung an: »Mit unserer Dienstleistung On Site Management bieten wir Ihnen als Full Service Angebot die umfassende Betreuung Ihres gesamten Zeitarbeit-Fremdpersonals an. Wir übernehmen für Sie die Auswahl, Rotationsplanung und Disposition der Zeitarbeitskräfte, die innerbetriebliche Koordination einschließlich eines individuellen Controllings bis hin zu allen Aufgaben der Verwaltung und Abrechnung.«

[6] »Die Bertrandt AG ist Partner der internationalen Automobil- und Luftfahrtindustrie. Das Leistungsspektrum umfasst die gesamte Prozesskette: Von der Idee bis zur Serienreife entwickelt Bertrandt mit rund 4.000 Mitarbeitern Lösungen für Karosserie, Innenraum, Fahrwerk, Motor, Elektrik/Elektronik und Aggregate – bis hin zur Serienanlaufbetreuung.«

[7] Zum Streik bei Gate Gourmet haben wir in wildcat 75, 76 und 77 berichtet. In diesem Heft findet ihr noch eine Buchbesprechung auf Seite 54.



aus: Wildcat 79, Herbst 2007



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