Wildcat Nr. 79, Herbst/2007, S. 5–10 [w79_leitartikel.htm]



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Von Wellen, Streiks und Neuzusammensetzung1

2006 gab es in der BRD mehr Streiks als in den zwölf Jahren davor, 2007 werden es nochmal mehr sein. »Streiken kommt bei den Deutschen allmählich in Mode«, titelte die Frankfurter Rundschau. Als wir im Frühjahr 2004 der Wildcat 69 ein Streik-Plakat beilegten, war das mehr eine Grundsatzerklärung. Heute müssen – oder besser gesagt: können – wir viel genauer über Streiks diskutieren. Denn es gibt welche! Streiks gegen Betriebsschließungen, Entlassungen und Ausweitung der Arbeitszeiten – aber nicht für Verbesserungen; sie konkretisieren nicht die im Plakat erwähnte Macht der ArbeiterInnen, die kapitalistische Verwertung in Frage zu stellen, indem sie einfach etwas nicht tun. Die betriebliche Realität sieht oft beschissen aus (siehe die breite Dokumentation in diesem Heft von Erwachsenenbildung über Leiharbeit bis zu Auto5000), wurde aber in den Streiks so gut wie nie offiziell thematisiert. Auch deshalb bleiben die vielen Streiks voneinander isoliert, kämpft am Ende jede/r für sich. Eine Streikwelle ist was anderes.
Wir probieren im folgenden eine Standortbestimmung für die BRD. Zur sich neu zusammensetzenden weltweiten Arbeiterklasse kommen nur ein paar Farbtupfer – mit allerdings weitreichenden Fragestellungen.

Der weltweite Gegenangriff

Leute unter 40 kennen die Geschichte der weltweiten Klassenkämpfe und die darauf basierende Gewissheit, die Welt tatsächlich selber verändern zu können, nur aus Filmen oder Büchern. Denn spätestens seit 1980 standen die Zeichen überall in der Welt auf Konterrevolution. Als Vorläufer gilt der CIA-Putsch in Chile, der am 11. September 1973 die gewählte linksreformistische Regierung beseitigte. Die anschließende Kombination von harter Repression gegen die radikale Linke und einer neuen Wirtschaftspolitik, die auf vollen Konfrontationskurs gegen die Arbeiterklasse ging, wurde hier zum ersten Mal praktiziert und in der Folge in vielen Ländern angewandt.

Wir haben die Ursachen und Motive dieser Konterrevolution in der Wildcat schon oft von ihrem Anfang her dargestellt: der internationalen revolutionären Bewegung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Wie dringlich sie für das Kapital war, wird auch bei einem der letzten Ausläufer dieser Bewegung deutlich:

In England kippte die breite Streikwelle im Winter of Discontent 1978/79 die Lohnleitlinien der Labour-Regierung, die allen Firmen Strafen androhten, welche die Löhne um mehr als fünf Prozent erhöhten Ford schloss nach mehrwöchigen Streiks z.B. mit 17 Prozent ab. Nicht nur FabrikarbeiterInnen streikten, sondern ein großer Teil der Infrastruktur stand still, weil LKW-Fahrer, Hafenarbeiter, Totengräber, Müllmänner, Bäcker, Krankenhausbeschäftigte u.v.a. im Ausstand waren. Der Premierminister musste beim IWF um neue Kredite vorstellig werden, um die Zahlungsfähigkeit des Landes wiederherzustellen. Die massive Propaganda der Rechten gegen die der Gewerkschaftsmacht gegenüber hilflose Labour Party machte bei den Parlamentswahlen im Herbst '79 den Weg frei für die Thatchersche Konterrevolution. Thatcher verbot viele der zuvor üblichen gewerkschaftlichen Streiktaktiken und schreckte nicht vor harten Strafen zurück. Die Niederlage der Bergarbeiter im Streik 1984/85 beendete eine Epoche, in der die ArbeiterInnen in Britannien zu den streikfreudigsten Europas gehörten, aber trotz harter Kampfformen nie die Grenzen des gewerkschaftlichen Kampfs überschritten hatten. 1978 waren 9,3 Millionen Arbeitstage durch Streik verloren gegangen, 1979 waren es 29,5 Millionen.

In Italien beendete die Niederlage der Fiat-ArbeiterInnen nach ihrem monatelangen Streik gegen Massenentlassungen 1980 eine Epoche von Arbeiterkämpfen, in der Italien in vieler Hinsicht ein Laboratorium revolutionärer Versuche gewesen war. In den USA ließ Reagan, kaum im Amt, ein Jahr später streikende Fluglotsen in Handschellen abführen. – Zu Beginn der 80er Jahre wurde die Konterrevolution weltweit zur vorherrschenden Tendenz: Militärregierungen in Polen und der Türkei; IWF-Kredite nur noch bei neoliberaler Politik mit Sozialkürzungen; überall stieg die Arbeitslosigkeit auf etwa zehn Prozent; überall wurden sozialstaatliche Leistungen gekürzt.

Die militärische Niederschlagung der Bewegung auf dem Tienanmen-Platz in Peking und der Zusammenbruch der Staatskapitalismen in Osteuropa Ende der 80er Jahre wurden als »Ende der Geschichte« in die Köpfe gehämmert, d.h. als das Ende aller Utopien von einer freien und besseren Gesellschaft. »Bürger«kriege in Afrika und dem ehemaligen Jugoslawien und imperialistische Angriffskriege (Irak) verstärkten in den 90er Jahren diese Botschaft.

Die Situation in der BRD

Relativ schwach entwickelte unabhängige Kämpfe und relativ starke Gewerkschaften machen die besondere Situation in der BRD aus. Das hat sich folgendermaßen entwickelt:

Auch hier fanden Ende der 70er Jahre die letzten großen Arbeiterkämpfe statt (z.B. der Stahlarbeiterstreik 1978). Danach standen die Zeichen auf Krisenpolitik. Die Arbeitslosigkeit lag 1974 bei einer Million, Anfang der 80er Jahre überstieg sie die Zwei-Millionen-Grenze. Die SPD-geführte (Schmidt-) Regierung leitete mit der Operation 82 die Politik der sozialen Kürzungen ein – nahtlos fortgesetzt von der fast putschhaft im Herbst 1982 an die Macht gelangten Kohlregierung.

Trotz großen Theaterdonners der CDU-geführten Regierung gegen etwas, das sie »Gewerkschaftsmacht« nannte, setzten sich in der BRD die Gewerkschaften an die Spitze der Modernisierung der Produktionsstrukturen. Sie konnten die 80er Jahre hindurch die Tariflöhne halten und vermieden damit den Sturz in die tiefe Krise, der alle anderen Gewerkschaften in Europa ereilte. Die ursprünglich im linksgewerkschaftlichen Milieu entstandene Forderung nach der 35-Stundenwoche bestimmte ein Jahrzehnt lang die Tarifauseinandersetzungen. Jede Stufe der Arbeitszeitverkürzung bezahlten die ArbeiterInnen mit niedrigen Lohnabschlüssen und weiterer Flexibilisierung ihrer Arbeitszeiten. Dreischicht- und Samstagsarbeit sowie Jahreszeitkonten sind heute die Regel in Fabriken. Seitdem die Flexibilisierung erreicht ist, werden auch die realen Arbeitszeiten wieder ausgeweitet, die in den 50 Jahren zuvor immer kürzer geworden waren.

Die zweite Sonderentwicklung bezieht sich auf die »Wiedervereinigung«: 1987/89 gab es in Westeuropa Wellen selbstorganisierter Kämpfe (Studis, Eisenbahner, Krankenschwestern, ErzieherInnen). Sie organisierten sich außerhalb der Gewerkschaften in Koordinationen, weil sie sämtlichen Institutionen misstrauten. Die Krankenschwesternbewegung kam noch in der BRD an – danach war nur noch »Wiedervereinigung«. Nun wurden völlig andere Themen in den Vordergrund gestellt und alle drohenden Konflikte in den ersten Jahren mit Geld zugeschüttet – Belegschaften geschlossener Betriebe wurden in bezahlte Vollzeit-Kurzarbeit geschickt. Erst 1993 setzte dann mit der Erhöhung der Leitzinsen durch die Bundesbank um so schärfer die Krise ein. Die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Und es dauerte sehr lange, bis sich wieder emanzipative Bewegungen von unten entwickelten. Ein großer Teil der proletarischen Jugendkultur im Osten igelte sich im rechten Spektrum ein, während »links« in den 90er Jahren Antifa oder »antideutsch« oder beides hieß.

Die sozialen Angriffe der rot-grünen Regierung (Hartz I–IV) richteten sich nicht mehr nur gegen »Randgruppen«. Die Streichung der auf Grundlage des letzten Lohns berechneten Arbeitslosenhilfe zwingt Arbeitslose, spätestens nach einem Jahr auch eine wesentlich schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen. Dies hat die Starrheit der Löhne nach unten aufgeweicht und u.a. dazu geführt, dass die BRD mit der Reallohnentwicklung heute am unteren Ende in der EU liegt. Der Einkommensabstand zwischen Gutverdienenden und Schlechtverdienenden ist stark angewachsen. Auch dauerhaft beschäftigte ArbeiterInnen werden immer schlechter bezahlt. Die Armut verfestigt sich auf knapp ein Zehntel der Bevölkerung, betroffen sind v.a. ungelernte ArbeiterInnen, aber auch FacharbeiterInnen, v. a. mit Migrationshintergrund oder Kindern.

Widerstand

Im Sommer 2004 kam mit den Montagsdemos die »soziale Frage« auf die Straße. Die Daimler-ArbeiterInnen in Mettingen blockierten die B10, und die Opel-ArbeiterInnen in Bochum machten mit ihrer sechstägigen »Betriebsversammlung« den ersten wildcat-Streik seit langem. Die »soziale Wut« und die »Jetzt reicht's-Stimmung« drückten sich auch in militanteren Kampfformen der Studis und SchülerInnen aus (Besetzungen, Autobahnblockaden…).

Für das Jahr 2006 registrierte die amtliche Streikstatistik der Bundesagentur für Arbeit 166 000 Streikende und 429 000 Streiktage, soviel wie seit 1993 (593 000 Streiktage) nicht mehr. Die hohe Zahl basiert auf dem langen Streik im Öffentlichen Dienst und auf den Streiks für einen »Sozialtarifvertrag«. Damit haben die Gewerkschaften eine Möglichkeit gefunden, Kämpfe gegen Betriebsschließungen als geregelte Streiks mit Tarifkommission, Streikgeld usw. zu führen. Streiks für »Sozialtarifverträge« beschränken den Verhandlungsgegenstand bei Betriebsschließungen auf Qualifizierungsmaßnahmen, Auffanggesellschaften, Abfindungen, bzw. bei Weiterbeschäftigung auf Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen. Am Ende stehen »Kompromisse«, die immer von der Gewerkschaft als »Sieg« gefeiert werden, weil sie »Schlimmeres« verhindern; und die immer eine Absenkung der bisherigen Standards festschreiben. Zugespitzt lässt sich sagen: wer streikt, dem geht’s nachher schlechter. Der Frust ist in diesen Kämpfen am Ende vorprogrammiert. Wer die Nase voll hat, geht mit einer Abfindung. Auch das ein markantes Zeichen der Streiks in den letzten Jahren: es wurden hohe Abfindungen bezahlt und es waren häufig vor allem die StreikaktvistInnen, die auf diese Weise gingen. In allen Kämpfen gegen Betriebsschließungen wollte ein beträchtlicher Teil der Belegschaft hohe Abfindungen und nicht die Weiterbeschäftigung um jeden Preis.

Es ist also keineswegs so, dass Leute in Kämpfen gegen Verlagerungen und Schließungen nichts zu verlieren hätten! Es gibt Streikgeld, eine reale Aussicht auf Abfindungen, und Auffanggesellschaften bieten dir ein Jahr Gammeln bei 90 Prozent Lohnfortzahlung. Wer sich ausmalt, was wäre, wenn von Schließung bedrohte Belegschaften nichts zu verlieren hätten, kann ermessen, wie wichtig die integrierende Funktion des deutschen Sozialstaats inklusive Streikgeld und Abfindungen ist.

Trotz aller Streiks und Bewegungen sind auch 2006 die Reallöhne in der BRD wieder gesunken.

Gibt es überhaupt noch IndustriearbeiterInnen in der BRD?

Sicherlich – und nicht wenige! – auch wenn deren Arbeitssituation und Lebensbedingungen immer weiter aus dem Blickfeld des öffentlichen Interesses gerückt sind. »Arbeiterklasse« hat vor dem Hintergrund von Arbeitsplatzabbau und Flexibilisierung ihren Schrecken als Bedrohung und Infragestellung der herrschenden Verhältnisse, und damit ihre politische Sichtbarkeit verloren.

Was heißt es, wenn die BRD zum xten Mal in Folge »Exportweltmeister« wird? Deutsche Unternehmen exportieren (in einer einheitlichen Währung gerechnet) insgesamt mehr Waren als irgendein anderes Land der Welt. Dabei handelt es sich vor allem um industriell erzeugte Waren (v.a. Maschinen, Chemieprodukte und Autos). Sie werden in Fabriken in der BRD zusammengebaut, wobei ein großer Teil der Vorprodukte aus Betrieben im Ausland kommt (ihr Anteil an der Wertschöpfung lag 2006 im Schnitt bei 24,4 Prozent). Die Industrieproduktion wuchs stärker als die Wirtschaft insgesamt – aber sie wurde zu Lasten der ArbeiterInnen umstrukturiert. Abteilungen mit einfacher Massenproduktion wurden geschlossen, Teile aus Zulieferbetrieben bezogen. Damit verlieren v.a. ältere ArbeiterInnen ohne Ausbildung ihren bislang tariflich relativ abgesicherten Job.

Es gibt noch knapp 7,5 Millionen IndustriearbeiterInnen in Deutschland, ihre Zahl ist auch im letzten Jahr leicht zurückgegangen. Die Phase der Zersetzung der alten Arbeiterklasse und ihrer Besitzstände ist in Westeuropa in den letzten Zügen, aber noch nicht zuende. Beispielhaft hierfür ist die Verlagerung nahezu der gesamten Hausgeräteindustrie nach Osteuropa und in die Türkei, der Fabrikation von Elektrogeräten nach Ostasien.

So wie die Abwehrkämpfe dieser »alten« MassenarbeiterInnen von Gewerkschaften und Medien inszeniert werden, brüllen sie den anderen ArbeiterInnen, die vielleicht die Möglichkeit hätten, das Gegenteil zu beweisen, entgegen: »Es kann Euch nur noch schlechter gehen.«

Dort, in den boomenden Exportbranchen, hantieren die Gewerkschaften sehr behutsam: ein paar Warnstreiks, kurze Tarifverhandlungen, schnelle Abschlüsse, nur kein Streik! Hier hätten die Beschäftigten ganz andere Möglichkeiten, »offensiv« zu werden und sich durchzusetzen. Kämpfe, die endlich mal deutliche Verbesserungen durchsetzen, wären äußerst populär und könnten auch KollegInnen aus anderen Branchen mitreißen!

»Exportweltmeister« heißt auch, dass diese 7,5 Millionen IndustriearbeiterInnen hochproduktiv sind und nach wie vor im Zentrum der Mehrwertproduktion in diesem Land stehen – umstellt von den »Wissensarbeitern« (Ingenieure, Mathematiker, Controller) und »Dienstleistern«, die dem Unternehmer die Leiharbeiter besorgen.

Was sind »Kampferfahrungen«?

In der BRD hatte die Mehrheit der Lohnabhängigen in 30 Jahren Arbeit keinen Streik mitgemacht (die symbolischen Warnstreiks mal weggelassen). Vor diesem Hintergrund ist es äußerst wichtig, dass das, was 2004 mit selbständigen Aktionen wie Montagsdemos, B10-Besetzung und Opelstreik angefangen hat, seither nicht abgerissen ist. Die Aktionsformen sind militanter und experimenteller als in der Vergangenheit, die kämpfenden Subjekte sind vielfältiger (Krankenschwestern, AutoarbeiterInnen, Studis, Bus- und LokomotivfahrerInnen, Müllfahrer, ErzieherInnen, Küchenhilfen…). Die Leute sind offen für andere Erfahrungen und daran interessiert, dass sich andere einmischen.

Endlich werden auch in der BRD Kampferfahrungen in einer gewissen Breite gemacht. In der Vergangenheit verpufften die wenigen Erfahrungen, und die nächsten Kämpfe fingen wieder bei Null an. Sie fanden in einem gesellschaftlichem Vakuum statt. Alle Streikenden fühlten sich allein und unbeachtet. Inzwischen bauen die Streiks nach und nach ihr eigenes Terrain auf. Wenn Leute in eine Auseinandersetzung treten, haben sie von anderen Kämpfen gehört, haben sie eine Idee, von wem sie lernen können. Als die streikenden BSH-ArbeiterInnen nach Kamp-Lintfort kamen und dort von der halben Stadt empfangen wurden, entstand punktuell so etwas wie proletarische Öffentlichkeit, ein direkter Austausch zwischen den ArbeiterInnen, nicht vermittelt über die Gewerkschaft oder RTL. Solch eine Zirkulation von direkten Erfahrungen gibt es in der BRD bisher selten.

In den Konflikten machen die ArbeiterInnen eigenständige Erfahrungen und überlegen, wie sie sich durchsetzen können. Mehr und mehr haben die Schnauze davon voll, »für Verschlechterungen« zu kämpfen, sie wollen für Verbesserungen kämpfen. Aber an den wenigen Punkten, wo sich autonome Kampfformen und Forderungen entwickelten, haben die Gewerkschaften nicht gezögert, den Streik abzubrechen – durch rasche Abschlüsse auch gegen den Willen der Mehrheit und notfalls mit Drohungen.

Es werden also jede Menge Erfahrungen gemacht, aber sind es Kampferfahrungen? Was ist ein Kampf? Es ist erstmal gar nicht entscheidend, ob der Kampf innerhalb oder außerhalb der Gewerkschaften oder anderer Institutionen geführt wird. Auch die Wirksamkeit in der Öffentlichkeit ist letztlich nicht entscheidend. Wichtiger sind Art, Form und Mittel der Kämpfe. Und das wichtigste Kriterium ist, ob es sich um eine Bewegung von unten handelt, in der Leute zusammen aus ihrem sonstigen Leben heraustreten, kollektiv die Regeln brechen und auch was riskieren.

Neue Bedingungen – neue Subjekte?

Die neuen Arbeitsverhältnisse sind auch in den Fabriken angekommen. In vielen ehemaligen Hochlohnbetrieben herrschen gespaltene Verhältnisse. Neueingestellte arbeiten unter wesentlich schlechteren Bedingungen. Auch in der Autoindustrie ist Leiharbeit die normale Durchgangsphase zur Festeinstellung. LeiharbeiterInnen, die in verschiedenen Werken am Band standen, machen andere Erfahrungen und haben vermutlich andere Bedürfnisse als die klassischen Kernbelegschaften. Wird die alte Klassenfigur nun von innen aufgerollt und zur Ruhe gebracht, oder entsteht eine neue Widerständigkeit? Der Streik bei FIAT im süditalienischen Melfi 2004 hat gezeigt, dass Konflikte bei Zulieferern schnell auf ganze Belegschaften überspringen können, und dass die in der Just-in-time-Produktion vermeintlich vereinzelten ArbeiterInnen tatsächlich gemeinsam kämpfen können.

Das Ende der Globalisierung?

Seit Ende des letzten Jahrhunderts zeigen sich Kriege (Afghanistan, Irak) und die Flucht des Kapitals aus Direktinvestitionen in spekulative Anlagen als Bumerangs (Internetblase, Immobilienblase). Die Auslagerungseuphorie ist vorbei. Seitdem 1999 in Seattle zum ersten Mal ein WTO-Treffen scheiterte, während auf der Straße No-Glob-Bewegung und Arbeiterbasis gemeinsam demonstrierten, sind weltweit sehr viele neue Subjekte in den Kampf getreten: StudentInnen und SchülerInnen (Chile, Frankreich, BRD…), Arbeitslose (Argentinien, BRD…), Prekäre (LandarbeiterInnen, GebäudereinigerInnen), MigrantInnen (die Si Se Puede-Bewegung im Frühjahr 2006 brachte die größten Arbeiterdemos in der Geschichte der USA auf die Straße).

Davor waren die Kämpfe lange Zeit defensiv gewesen, Teile der alten Arbeiterklassen wehrten sich dagegen, abgeräumt zu werden; in boomenden Sektoren wurde nicht gekämpft. Zum Beispiel erschütterte im Frühjahr 2002 die »größte Streikwelle seit 50 Jahren« den Nordwesten Chinas (Kohlereviere, Bergwerke, Erdölindustrie). In Polen zogen sich die Kämpfe gegen die Privatisierung der Bergwerke und der Schwerindustrie von 1988 bis 2003. Auch die vielfältigen Bewegungen in Argentinien im Gefolge des Aufstands im Dezember 2001 blieben innerhalb dieser Schranken: Es kämpften die Arbeitslosen und die ehemals staatlich garantieren ArbeiterInnen.

Das hat sich inzwischen gewandelt: Kämpfe laufen da, wo die Industrie sich gerade rasant entwickelt, wie in China, Indien, Vietnam. Nicht jedoch in der Autoindustrie in Osteuropa: dort gibt es gewerkschaftliche Warnstreiks und schnelle Abschlüsse – genau wie in den Kernbereichen der Industrie in der BRD. In Osteuropa sind die Abschlüsse allerdings oft zweistellig, die Unternehmer klagen über »Lohndruck«.

Klassisch hat die sogenannte freie Lohnarbeit so funktioniert, dass die ProletarierInnen sich selbst in ein Lohnarbeitsverhältnis hinein begeben. Sie sind bereit, ihr Dorf hinter sich zu lassen, eine elende Bleibe und harte Arbeit zu akzeptieren, um mit dem Lohn ein besseres Leben als bisher führen zu können. Wenn diese »neuen ArbeiterInnen« dann aber kämpfen, stellen sie die ganze Scheiße in Frage, das gilt sowohl für die revolutionäre Bewegung 1917/18 als auch für die Kämpfe des Massenarbeiters in den 60er Jahren. Das Kapital reagierte in beiden Fällen mit einer Mischung aus Repression auf der politischen und einem Entwicklungssprung auf der sozialen Ebene. Heute wird allenthalben angenommen, dass ein Entwicklungssprung, der die ArbeiterInnen in Asien auf Bedingungen bringt, die in den Metropolen für Industriearbeiter Standard sind, innerhalb des Kapitalismus technisch, ökologisch und räumlich nicht mehr möglich sei. Bleibt nur die Repression? Wie lange produzieren ArbeiterInnen Handies, Computer oder Autos, die sie sich selbst in der Perspektive nicht leisten können?

• russische AutoarbeiterInnen erstreiken massive Lohnerhöhungen;

• chinesische Arbeiterinnen in Rumänien erkämpfen sich eine satte Lohnerhöhung;

• in der ägyptischen Textilindustrie läuft die größte Streikwelle seit 50 Jahren;

• durch einen mehrwöchigen Streik erkämpften Textilarbeiterinnen in Bulgarien Ende Juli 27 Prozent Lohnerhöhung;

• Vietnam: Nach 2006 gab es auch im Frühjahr 2007 in Vietnam eine breite Streikwelle. Die Regierung fühlte sich in die Enge getrieben und erließ am 1. August 2007 ein Streikverbot für Schlüsselsektoren…

Punktuelle Beispiele? Im Gegenteil, Kämpfe entlang der Akkumulationsachsen des internationalen Kapitals! In einer direkt in die Weltproduktion eingebundenen Industrialisierung. Die kämpfenden ArbeiterInnen sind häufig in »Weltmarktfabriken« oder in der tiefgestaffelten internationalen Verbundproduktion tätig. Nach dem großen Hype um die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) stehen nun die sogenannten Next Eleven im Fokus des nach Verwertungsmöglichkeiten suchenden Kapitals: Ägypten, Bangladesch, Indonesien, Iran, Mexiko, Nigeria, Pakistan, die Philippinen, Südkorea, Türkei und Vietnam. Es fällt auf, dass in den meisten dieser Länder aktuell Kampfwellen laufen. Man muss ganz ernsthaft der Frage nachgehen: Erleben wir seit 2006 eine weltweite politische Neuzusammensetzung? Kämpft zum ersten Mal in der Geschichte eine weltweite Arbeiterklasse?

Das Arbeitskräftereservoir ist nicht endlos. Es treten immer größere Lücken zwischen passend qualifizierten Arbeitskräften, Lohn und Verwertungsbedingungen auf. Ein neuer Akkumulationsschub ist auf frisch proletarisierte ArbeiterInnen und die entsprechende gesellschaftliche Infrastruktur angewiesen. Für die Boomregionen in Indien und China sagen Experten die baldige Erschöpfung des Arbeitskräftereservoirs voraus.

Migration kann diese Lücke teilweise füllen, trägt aber nicht mehr so stark zur Klassenspaltung bei wie früher, als zum Beispiel die starke Zuwanderung in die USA vor dem Ersten Weltkrieg praktisch zum Zusammenbruch der damaligen Arbeiterbewegung führte. Migration trägt heute zur Herausbildung der Weltarbeiterklasse bei.

Von innen und außen

Auch hierzulande stellen sich einige Fragen neu. Trotz hoher Arbeitslosigkeit hat das bisschen Konjunkturbelebung ausgereicht, um die überraschendste Knappheit der letzten Jahre hervortreten zu lassen: Arbeitskräfteknappheit. Arbeitsagentur, Regierung und Medien reden nur von einem Facharbeiter- und Ingenieursmangel. Dahinter steckt aber ein Mangel an »industrietauglicher« Arbeitskraft vom Atlantik bis zur Ukraine, die Arbeit in Dreischicht, am Band, in den heutzutage »normalen« flexiblen Anstellungs- und Arbeitszeitverhältnissen mit den dazu notwendigen Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, technischem Verständnis, Umgang mit PC usw. zu leisten in der Lage oder willens ist. In Osteuropa beeinträchtigt dieser Arbeitskräftemangel bereits das Wachstum des Bruttosozialprodukts.

Die Arbeitskraft, auf der die Akkumulation hierzulande ruht, ist bei weitem nicht so ersetzbar, wie Unternehmer, Medien und die reinen Arbeitslosenzahlen es suggerieren. Wie lange können die Gewerkschaften den Lohndruck noch vom »Standort Deutschland« fernhalten? Das ist andersrum die Frage danach, wie die gewerkschaftliche Kontrolle der Kämpfe überwunden werden kann.

Arbeiterautonomie?

In der Geschichte der BRD sind unabhängige Streiks in zwei Situationen entstanden. Als »wilde« Kämpfe von Leuten, die für ihre dringenden Anliegen keine institutionelle Vertretung hatten, und als »Nachschlagstreiks« von ArbeiterInnen, die durch eigene Kämpfe mehr durchsetzen konnten, als die Gewerkschaft abgeschlossen hatte. In diesem Sinn waren die Streiks der letzten drei Jahre nicht »autonom«, aber einige fielen durch Kreativität und große Selbsttätigkeit auf. Und in vielen Mobilisierungen äußerten sich Triebkräfte, Stimmen und Diskussionen, die über die institutionelle Umklammerung raus weisen. Manchmal tun die Leute bereits etwas, wissen es aber noch nicht: Der »Marsch der Solidarität« war die Idee der BSH-ArbeiterInnen. Trotzdem schafften sie es nicht, den Streik zu »ihrem Ding« zu machen, blieb mehrheitlich die Einschätzung, ohne die Gewerkschaft nichts erreichen zu können.

Kämpfende, die nicht durch Arbeitsverweigerung den Unternehmer hart treffen können, brauchen die »Öffentlichkeit«. Sie haben aber keine, fühlen sich in der Regel allein gelassen und unbeachtet. Die Gewerkschaft organisiert ihnen Aufmerksamkeit durch Prominentenbesuche im Streikzelt und Medienpräsenz durch RTL-Filmteams. Beides hebt Abhängigkeit und Verarschung auf eine neue Stufe. Zudem monopolisiert die Gewerkschaft sämtliche Kontakte zur Außenwelt (auch die zu anderen Belegschaften). Damit sich unabhängige Kämpfe entwickeln können, ist deshalb das oben beschriebene, langsam entstehende »eigene Terrain« extrem wichtig.

Zu einem solchen »Terrain« gehört auch, dass es allgemein üblich wird, zu Streiks hinzugehen und sich selber einzubringen. Wir können helfen, Verbindungen zu anderen Kämpfen(den) herzustellen. Welche Kampferfahrungen haben andere ArbeiterInnen gemacht? Flugis, Veranstaltungen im Streikzelt, Filme… BSH-Leute haben explizit kritisiert, dass die »Autonomen« ihnen nicht geholfen haben, das diesbezügliche Monopol von IGM und MLPD zu durchbrechen.

In Frankreich gibt es seit den 80er Jahren die Tradition, sich aus der eigenen sozialen Situation heraus zu Streiks in Beziehung zu setzen, etwa als »BenutzerInnen« öffentlicher Einrichtungen (Transport, Krankenhaus, Schulen, Energie usw.). Eine Verbindung mit unserer »Benutzerkritik« könnte das Streikterrain ausweiten (»Kritik am Gesundheitssystem … und gerade deshalb unterstützen wir die Krankenschwestern in ihrem Kampf« o.ä.). Die Wirksamkeit von Konsumenten-Boykotten wird oft überschätzt, aber im Zusammenhang mit einem Streik kann das fetzen! Spuckis, die Siemens-Hausgeräte in MediaMärkten als »Streikbrecherware« kennzeichnen, während in Berlin gestreikt wird. Flugblätter in Einkaufszentren, in denen BenutzerInnen die »weiße Ware« kritisieren und gerade mit dieser Argumentation zur Unterstützung des Streiks aufrufen. Der Möglichkeiten sind viele.

Es ist wichtig, dass alle ihre eigenen Arbeits- und Kampferfahrungen einbringen und sich über die vielen Unterschiede hinweg, die einen gemeinsamen Standpunkt unmöglich machen sollen, in Beziehung zueinander setzen.

Die rasant gewachsene Ungleichheit der Arbeits- und Reproduktionsbedingungen muss zum Thema gemacht werden. Die Kämpfe brauchen einen egalitären drive. Gegen die Aufsplitterung in »Lebensstile«, gegen die immer weitere Aufspreizung der Löhne, müssen sie das Gemeinsame, das Gleiche betonen und wiederherstellen. Nur so entsteht ein Raum, in dem die Leute ihre Erfahrungen und ihr gemeinsames Handeln auch kollektiv verarbeiten können. Dann können wir auch wieder über Revolution statt über Sozialpläne und Lohnbestandteile diskutieren.

[1]»Neuzusammensetzung«

Für Leute, die schon lange Wildcat lesen, ein gängiger Begriff. Aber für neue LeserInnen? Ein Beispiel anhand des Kampfs der Studis gegen Studiengebühren: Die Jungen argumentieren sozial und politisch; ältere Semester sind persönlich betroffen, weil die Uni als Parkplatz wegfällt; eine relative Mehrheit der Studis sieht es betriebswirtschaftlich (Studienkosten als Investition in die eigene berufliche Zukunft) und mithin gar nicht so schlimm… Eine mögliche Neuzusammensetzung wäre nun, wenn sich die Altsemester und die kämpferischen Jungen zusammenschließen und den Kampf gewinnen. Dabei würde untereinander viel an Erfahrungsaustausch und politischer Diskussion laufen; das politische Bewusstsein der Studis würde sich erhöhen; und sie würden zu Veranstaltungen und Diskussionen eingeladen werden, um zu berichten, »wie man das macht«.
Es gibt Leute, die darauf bestehen, sich den Dauerlutscher falsch rum in den Mund zu schieben. Sie setzen am »Bewusstsein« an. Schwierige Sache, denn wie lässt sich so was messen? Sie werden in jedem ›einzelnen Bewusstsein‹ Spuren von Rassismus, Sexismus, Karrierismus und dergleichen finden. Und dann?
Dieses Rangehen hat nur einen Vorteil: Leute, die so drangehen, können sich über andere erheben. Denn sie sind es ja, die das Bewusstsein beurteilen und dann die entsprechenden Gegenmaßnahmen »verordnen«. Dieser eine Vorteil wiegt für viele Linke alle anderen Nachteile auf.
Gegen solche überholten Avantgardekonzepte entwickelten die Operaisten Anfang der 60er Jahre die Methode der »Klassenzusammensetzung«. Denn sie hatten kapiert, dass die Klasse nichts Einheitliches ist, und beobachtet, dass sich nicht nur ihre Zusammensetzung, sondern auch ihre Kampfformen, ihre Bedürfnisse, ihre Kulturen usw. geschichtlich ändern.

Das Konzept Klassenzusammensetzung

– kritisiert den falschen Materialismus, der aus der vorgefundenen gleichen ökonomischen Lage der Arbeiter im Kapitalismus den Klassenkampf ableitet;
– kritisiert einen philosophischen Klassenbegriff, der die Klasse als reinen Antagonisten setzt, als rebellisches Subjekt, das sich für eine Seite entscheidet, unabhängig von den vorhandenen Produktionsbedingungen;
– schlägt eine Brücke zwischen (revolutionärer) Subjektivität und den materiellen Bedingungen.
Die Vorarbeit dazu hatte Marx in den Thesen über Feuerbach geliefert, in denen er die menschliche Tätigkeit als etwas Materielles erkennt. Deshalb kann das Subjekt der Veränderung nicht einseitig in einem vom Menschen unabhängigen Materiellen noch in einem vom Materiellen unabhängigen Ideellen (»Transzendenz«) gesucht werden, sondern nur im Zusammenfallen des Veränderns der Menschen selbst, ihres Handelns und Denkens, mit dem Verändern der Umstände.
Die Kritik der ›Schule der Klassenzusammensetzung‹ am bürgerlichen Subjektbegriff lässt sich in der Formulierung zusammenfassen: Die einzige materielle Grundlage, von der ausgehend man von Subjekt sprechen kann, ist die Klassenzusammensetzung. D.h. es geht um ein kollektives Subjekt, das sich unter den Bedingungen einer bestimmten Produktionsweise im Kampf gegen das Kapitalverhältnis konstituiert.
Eine materialistische Analyse des Subjekts muss über die Analyse der Klassenzusammensetzung gehen. Wer die Gesellschaft revolutionär verändern will, muss sich zu ihr in Beziehung setzen.


aus: Wildcat 79, Herbst 2007



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