Wildcat Nr. 80, Dezember 2007, China-Beilage, S. 29–34 [w80_china_tianjin.htm]
Wanderarbeit in Tianjin
Interviews mit Bauarbeitern und Dienstleistungsarbeiterinnen
«Wandernde Bauern sind bereits ein wichtiger Teil der industriellen Arbeitskraft»1, musste sich die Kommunistische Partei China (KPCh) im Februar 2004 auch in der Öffentlichkeit eingestehen. Nachdem es in den Jahren davor immer häufiger zu Protesten sowohl auf dem Land als auch von WanderarbeiterInnen in den Städten der Volksrepublik (VR) China gekommen war, sah sich die Partei gezwungen, zu reagieren und ihre Politik gegenüber der ländlichen Gesellschaft zu ändern. Dennoch oder gerade deshalb stellen sich die Fragen: In welcher Arbeits- und Lebenssituation befinden sich WanderarbeiterInnen derzeit in chinesischen Städten? Haben sich ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse verbessert?
Im folgenden Artikel sollen die Ergebnisse von Interviews2 präsentiert werden, die wir im Zeitraum von Juni bis Juli 2007 mit WanderarbeiterInnen in der Stadt Tianjin geführt haben. Tianjin ist eine von vier regierungsunmittelbaren Städten Chinas, liegt im Norden des Landes, südöstlich von Beijing und ist in fünfzehn Stadtbezirke und drei Kreise unterteilt. Im Jahr 2005 lebten 10 430 000 Menschen im Gebiet Tianjins, von denen 9 393 100 als registrierte und etwa eine Million als temporäre EinwohnerInnen galten.3
Insgesamt haben wir zwölf Interviews mit WanderarbeiterInnen durchgeführt, von denen ein Interview abgebrochen werden musste, da das Auswahlkriterium, über keinen urbanen hukou zu verfügen, in diesem Fall nicht erfüllt wurde. Abgesehen von diesem Kriterium, beschränkten wir die Auswahl der InterviewpartnerInnen auf Frauen in Dienstleistungsberufen und Männer, die als Bauarbeiter tätig sind. Des Weiteren schränkten wir die Gespräche örtlich auf die Bezirke Nankai (Arbeiterinnen in Dienstleistungsjobs) und Xiqing (Bauarbeiter) ein – diese Wahl der Bezirke beruht auf der Feststellung Li Bingqin's, Anfang 2000 hätten sich dreißig Prozent der MigrantInnen in diesen Bezirken Tianjins niedergelassen.4 Die Interviews wurden mit einem halbstrukturierten Fragenkatalog geführt, mithilfe dessen wir Fragen zur Arbeits-, urbanen Lebens- und Familiensituation sowie zum Verhältnis mit staatlichen Institutionen stellten. Die Gespräche erfolgten jeweils abends nach dem Arbeitsende der ArbeiterInnen an deren Arbeitplatz. Um eine Beeinflussung durch die Anwesenheit von ArbeitskollegInnen zu verhindern, wurden die Interviews ausschließlich einzeln durchgeführt.
Das Ziel der Interviews liegt in einem genaueren Verständnis der Situation von WanderarbeiterInnen in Tianjin. Unser Anliegen war es im Besonderen, durch die Gespräche einen Einblick in viele unterschiedliche Bereiche ihres Lebens in der Stadt zu erlangen, was sich in den auf mehrere Themenbereiche angelegten Fragen widerspiegelt. Abgesehen von der Unmöglichkeit, die Ergebnisse der Interviews als repräsentativ zu bezeichnen, ist damit die Einschränkung verbunden, in diesem Beitrag einen weniger analytischen und eher deskriptiven Blick auf das Gesagte der WanderarbeiterInnen werfen zu können. Der folgende Artikel gliedert sich in eine Zusammenfassung der zentralen Aussagen der Arbeiterinnen in Dienstleistungsberufen sowie anschließend der Bauarbeiter. Verteilt auf diese Zusammenfassung finden sich auch Interview-Auszüge zu einigen Themenbereichen, die wir hervorheben wollen, da sie uns besonders interessant erscheinen.
Verwandtschaftliche Beziehungen sind sowohl für Arbeiterinnen in Dienstleistungsberufen als auch für Bauarbeiter von zentraler Bedeutung, um in die Stadt zu kommen und eine Arbeit zu finden. Es zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede in den Beweggründen dieser beiden Gruppen, den Heimatort zu verlassen. Auf die Frage «Warum hast du deinen Heimatort verlassen und in der Stadt/in Tianjin eine Arbeit gesucht» antworten die Wanderarbeiterinnen in Dienstleistungsjobs:
«Ich will mich selbst ein wenig abhärten und mich selbst dazu bringen, erwachsen zu werden.»
«Weil sie [die Mitschülerinnen] sagen, dass es auswärts mehr Spass macht. Sie sagen nach dem Schulabschluss ist es auswärts sehr gut – sich ein wenig durchschlagen. Dann bin ich eben gleich von dort weg und her gekommen.»
«Weil die Entwicklung in meiner Heimat nicht gut ist und ich finde, dass sich Tianjin besser entwickelt.»
«Um eben etwas Geld zu verdienen und nachher meine Eltern zu ernähren.»
«Weil ich zuhause keine passende Arbeit gefunden habe und es mir außerdem zu nahe bei meiner Familie war. Ich will mich auch selbst durchs Leben schlagen und etwas Erfahrung sammeln.»
Dahingegen lauten die Antworten der Bauarbeiter, die meist auch Hauptverdiener innerhalb der Familie sind:
«Ich habe zuhause ein paar Kinder und die finanzielle Lage ist relativ schwierig, deshalb bin ich gekommen um etwas Geld zu verdienen.»
«Zuhause kann man sich seinen Lebensunterhalt überhaupt nicht verdienen. In einem Jahr kann eine Person ein Mu (1/15 Hektar) Land bebauen. Wenn man bei einem Mu Land den Einsatz abzieht, dann liegt der höchste Ertrag bei nur tausend Kuai. Sag mir, was kann man mit tausend Kuai machen? Wer würde denn weg gehen wollen, wenn man dort ein gutes Leben hätte? Niemand würde weg gehen wollen.»
«Die Situation zuhause ist relativ eng, denn wir haben kein Geld. […] Wir sind zwei Brüder, deshalb haben wir zurzeit keine Wohnung. So bin ich eben weg gegangen, um Geld zu verdienen.»
«Ich bin mit ihnen [Freunden aus dem Heimatort] gemeinsam gekommen, um Geld zu verdienen.»
«Es ist dort zurzeit so: Zuhause haben wir nicht viel Land, die Anbaufläche ist sehr klein. Jeder hat nur etwa vier, fünf Fen (66,666 qm) Land und alles ist Gebirgsgebiet. Ich bin von dort weg und hierher arbeiten gekommen um ein wenig Geld zu verdienen.»
«Um Geld zu verdienen und die Familie zu ernähren halt.»Dienstleistungsberufe
Die fünf befragten Wanderarbeiterinnen in Dienstleistungsberufen sind zwischen 18 und 22 Jahre alt. Sie kommen aus den Provinzen Hebei, Henan und Jilin sowie aus der regierungsunmittelbaren Stadt Chongqing. Der Zeitraum der Ankunft in Tianjin reicht von Mai 2005 bis Februar 2007. Drei der interviewten Frauen arbeiten als Kellnerinnen (eine davon im Imbissladen ihrer eigenen Eltern), eine Frau ist als Verkäuferin in einem Supermarkt tätig und eine Frau als Haarwäscherin in einem Frisörsalon. Die fünf Arbeiterinnen haben ihren derzeitigen Job auf unterschiedliche Art und Weise gefunden, wobei sich zeigt, dass verwandtschaftliche Beziehungen eine zentrale Stellung einnehmen. So wurden die Jobs von drei Frauen über Familienmitglieder vermittelt und eine Befragte wurde von ihren Mitschülerinnen darauf aufmerksam gemacht. Auch im Falle der als Haarwäscherin tätigen Arbeiterin, die angab, ihre Anstellung per Zufall im Vorbeigehen gefunden zu haben, leben Verwandte in Tianjin, bei denen sie in der Zeit der Arbeitssuche untergebracht war. Die Kriterien für die Jobwahl der interviewten Frauen reichen von der Qualität des Chefs und der Atmosphäre unter den ArbeiterInnen über die Höhe des Gehalts sowie dem freien Zugang zu Wohnplatz und Essen bis hin zur Aussage der Verkäuferin im Supermarkt, einen «anständigen Beruf» – als Gegensatz zu einem KellnerInnenjob genannt – auszuüben. Eine der Befragten hatte keine Kriterien für die Auswahl ihres Jobs.
Arbeitszeit
Die befragten Wanderarbeiterinnen müssen zwischen 10 und 13,5 Stunden pro Tag arbeiten, im Winter verkürzt sich die vorgeschriebene Arbeitszeit einer der Kellnerinnen auf acht Stunden. Überstunden machen zu müssen, geben drei der Arbeiterinnen an, wobei diese nur in einem Fall bezahlt werden. Anspruch auf Urlaub – von zwei Tagen – hat nur eine Befragte, jedoch sagt diese, sie nehme sich nie frei, da sie nicht wüsste, was sie in der freien Zeit tun solle. Arbeiterinnen ohne geregelte Urlaubszeiten bitten um freie Tage, wenn sie zur Erntezeit nach Hause fahren müssen bzw. von der Arbeit erschöpft sind.
Lohn und Lebenshaltungskosten
Die Monatslöhne der Arbeiterinnen liegen zwischen 700 und 800 Kuai5 – eine Ausnahme stellt die Kellnerin im familieneigenen Imbissladen dar; sie spricht von Einnahmen von etwa 2.000 Kuai pro Monat. Abgesehen von dieser Ausnahme, werden die Löhne den Befragten jeden Monat ausbezahlt. Obwohl einige Arbeiterinnen von Fällen ausstehender Gehälter gehört haben, ist es noch in keinem der derzeitigen Arbeitsverhältnisse zu einer derartigen Situation gekommen.
Bei keiner der Befragten stellt der eigene Lohn die Haupteinkommensquelle innerhalb der Familie dar. In den meisten Fällen wird zwar ein Teil des Lohns gespart oder an die Eltern überwiesen, doch diese sind nicht darauf angewiesen und legen das Geld wiederum für die Tochter zurück. Eine der Arbeiterinnen verbraucht ihren Monatslohn jeweils zur Gänze und legt nichts zurück. Die Angaben zu den monatlichen Lebenshaltungskosten schwanken zwischen 200 und 800 Kuai. Ausgegeben wird dieses Geld hauptsächlich für Essen, Kleidung, das Mobiltelefon und alltägliche Gebrauchsgegenstände.
Arbeitsvertrag und Krankenversicherung
Die Arbeiterinnen haben, bis auf die Ausnahme der Kellnerin im familieneigenen Betrieb, keinen Arbeitsvertrag unterzeichnet und verfügen über keine Krankenversicherung. Im Restaurant einer Kellnerin forderte der Chef die ArbeiterInnen im vergangenen Jahr auf, Arbeitsverträge zu unterzeichnen. Dies erklärt sie damit, dass ihr Chef zum damaligen Zeitpunkt Angst hatte, die Belegschaft könnte das Restaurant aus Unzufriedenheit über die Arbeitsbedingungen verlassen. Auf die Frage, was sie im Falle eines Arbeitsunfalls tun würden, antwortet die Befragte, sie würden den Chef bzw. Manager aufsuchen, der für einen Teil der Arztkosten aufkomme.
Wohnsituation
Zwei der Kellnerinnen wohnen in Wohnungen in der Nähe des Arbeitsplatzes, die von ihren Chefs gemietet wurden. Die anderen Befragten wohnen bei Verwandten bzw. der Familie und nur eine Arbeiterin muss für ihre Miete selbst aufkommen, da keine Wohnung vom Chef zur Verfügung gestellt wird und sie sich gemeinsam mit weiteren sechs Personen eine Wohnung gemietet hat.
Bildung
Die meisten der Wanderarbeiterinnen haben die Untere Mittelschule abgeschlossen. Einer Arbeiterin fehlt noch ein Jahr für die Absolvierung der Oberen Mittelschule. Zur Frage, ob die erfahrene Schulbildung für die jetzige Arbeit nützlich sei, gibt es unterschiedliche Meinungen. Während zwei der befragten Personen meinen, sie habe keinen Nutzen, wird die Schulbildung für die persönliche Charakterbildung, das Sprachverständnis und den zwischenmenschlichen Umgang als nützlich beschrieben.
Familie
Keine unter den befragten, um die 20 Jahre alten Wanderarbeiterinnen ist verheiratet. Da Fälle von arrangierten Ehen besonders auf dem Land noch weit verbreitet sind, haben einige Angst, den Ehemann von den Eltern vorgestellt zu bekommen. Die interviewten Arbeiterinnen, die alle über ein eigenes Mobiltelefon verfügen, haben mit ihrer Familie in sehr unterschiedlichen zeitlichen Abständen Kontakt. So rufen einige ihre Eltern täglich oder mehrmals in der Woche an. Bei anderen beschränken sich die Anrufe auf spezielle Anlässe wie Geburts- oder Feiertage. Der Großteil der Befragten kehrt nur einmal im Jahr – zum Neujahrsfest – in den Heimatort zurück. Eine Arbeiterin aus der nahe gelegenen Provinz Hebei fährt zweimal im Jahr nach Hause, um bei den Feldarbeiten zu helfen.
Freizeitbeschäftigungen
Die interviewten Wanderarbeiterinnen geben an, in der kaum vorhandenen Freizeit gerne fernzusehen und sich einfach nur vom Arbeitstag auszuruhen. Als weitere Freizeitbeschäftigungen werden Einkaufen gehen, spazieren, lesen und Musik hören genannt.
Verhältnis zu StadtbewohnerInnen6
Die Arbeiterinnen haben meist nur während der Arbeitszeit Kontakt mit StadtbewohnerInnen, und der Freundeskreis nur einer der befragten Frauen umfasst auch Menschen aus Tianjin. Während einige Arbeiterinnen die StadtbewohnerInnen Tianjins als freundlich beschreiben und es bei ihnen zu keinen Formen von Diskriminierung gekommen ist, verweist eine der Interviewten darauf, dass sie das Gefühl hat, als Wanderarbeiterin verachtet zu werden, und bissigen Bemerkungen von Gästen ausgesetzt ist. Des Weiteren werden anfängliche Verständnisschwierigkeiten aufgrund der unterschiedlichen Akzente beschrieben, die mit der Zeit zu einer Anpassung der Sprachgewohnheiten bei den Arbeiterinnen führen kann.
Staat, Polizei, Kontrolle
Die interviewten Wanderarbeiterinnen verfügen über keine Sozialversicherung und erhalten keine Sozialhilfe. Ein Teil der befragten Frauen hat eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung, die vom jeweiligen Chef bzw. den Eltern besorgt wurde. Kontrollen der Polizei werden von allen als problemlos eingeschätzt. So wurde auch eine Kellnerin, die über keine temporäre Aufenthaltsgenehmigung verfügt, von der Polizei kontrolliert und nur darum gebeten, sich diese aus Gründen der eigenen Sicherheit zu besorgen.
Auf die Frage, welche Hilfeleistungen sie sich von der Regierung wünschen würden, reagieren zwei Arbeiterinnen ablehnend, und meinen, sie würden von der Regierung keine Hilfeleistungen benötigen. Als Wünsche an die Regierung werden hingegen Hilfe für ältere Menschen auf dem Land sowie die eigene finanzielle Sicherheit im Alter geäußert.
Zukunft
Die eigenen Vorstellungen vom zukünftigen Leben sind sehr unterschiedlich und nur zwei der Befragten überlegen, in Tianjin zu bleiben. Neben den Äußerungen, nur von einem Tag auf den nächsten zu leben und sich über die Zukunft keine Gedanken machen zu wollen, sehen zwei Frauen ihre Zukunft nicht im derzeitigen Job, sondern wollen die Arbeit wechseln, um sich selbst weiter zu entwickeln, oder in den Heimatort zurückfahren und einen eigenen Laden aufmachen.
Einige Bauarbeiter erzählen in den Gesprächen von ausstehenden und nicht bezahlten Löhnen sowie ihren Reaktionen darauf. Ein 56-jähriger Arbeiter aus der Provinz Henan erinnert sich dabei an Proteste aufgrund ausstehender Löhne in der Hauptstadt Beijing:
«Vergangenes Jahr, als ich an der Bepflanzung der Grünanlagen gearbeitet habe, habe ich Proteste mit eigenen Augen gesehen.»
Frage: Wie haben die Leute gehandelt?
«Sie haben mithilfe eines Journalisten recherchiert und sich einmal auf der Straße in einer Reihe aufgestellt. Ich habe aber nicht weiter nachgefragt.»
Frage: Hat der Chef ihnen schließlich den Lohn ausbezahlt?
«Das weiß ich nicht genau.»
Wie er weiter beschreibt, bleibt den Wanderarbeitern oft nur die Wahl, entweder unter den gegebenen Bedingungen weiterzuarbeiten oder an einen anderen Ort zu wechseln:
Frage: Hast du mit deinen Arbeitskollegen beim Chef protestiert und einen höheren Lohn gefordert, als du mit deiner früheren Arbeit nicht zufrieden warst?
«Das passiert gewöhnlich, wenn der Lohn nicht ausbezahlt wird oder zu niedrig ist. Einige Leute gehen dann zum Chef und sprechen mit ihm.»
Frage: Wie reagiert der Chef, wenn ihr ihm sagt, ihr seid unzufrieden?
«Wenn du nicht zufrieden bist und er dir den Lohn nicht erhöht, kannst du auch nichts machen. Wenn du gerne dort arbeitest, dann arbeitest du eben dort. Wenn nicht, dann gehst du nach Hause. Allerdings hängt das auch von der Laune des Chefs ab. Manche Chefs haben eine große Vertrauenswürdigkeit und wissen, dass es auch nicht leicht ist, auswärts zu arbeiten. Wenn du die Arbeit für ihn ausreichend erledigst, gibt er dir einen höheren Lohn. Manche Chefs sind einfach nicht bereit, dir einen höheren Lohn zu geben. Wenn du gewillt bist, zu arbeiten, dann arbeitest du. Wenn nicht, lässt du es eben sein. Das gibt es auch.»Bauarbeiter
Die sechs befragten Bauarbeiter sind zwischen 18 und 56 Jahre alt und sind aus den Provinzen Hebei, Henan, Shandong sowie Sichuan nach Tianjin gekommen, wobei die Dauer der jeweiligen Aufenthalte in Tianjin stark variiert und zwischen zwei Wochen und mehr als zwanzig Jahren liegt. Teilweise verfügen die Arbeiter über Arbeitserfahrungen in anderen Städten und auch anderen Arbeitssektoren. Keine der interviewten Personen hat seinen Wohnort auf dem Land alleine verlassen, sondern sie sind gemeinsam mit Verwandten oder anderen Leuten aus dem Heimatort, die zum Teil schon zuvor in Tianjin gearbeitet hatten, in die Stadt gekommen. Eine zentrale Rolle nehmen hier Subunternehmer ein, die Arbeiter aus ihren eigenen Dörfern für Bauprojekte suchen, und anschließend auch gemeinsam mit der Gruppe von Arbeitern in die Stadt fahren. Folglich sind die Arbeiter auf einer Baustelle in vielen Fällen aus demselben Dorf. Zu den kaum vorhandenen Kriterien für die Suche nach einer Arbeit zählen die Höhe des Lohns und die pünktliche Ausbezahlung desselben, so ist es auch die Nichterfüllung dieser Kriterien, die bei den Wanderarbeitern zum Verlassen vorangegangener Baustellen führte.
Arbeitszeit
Die Arbeitszeit der interviewten Bauarbeiter liegt zwischen acht und zwölf Stunden. Überstunden sind häufig gemäß des Verlaufs der Bauprojekte zu verrichten, werden jedoch zumindest ausbezahlt. Auf die Frage nach Urlaub und freien Tagen antworten die Wanderarbeiter, man könne sich grundsätzlich nach Belieben freinehmen, werde aber an diesen Tagen nicht bezahlt. Während ein jüngerer Befragter angibt, sich zwischen fünf und sechs Tage pro Monat auszuruhen, meint ein älterer Arbeiter, nur dann nicht arbeiten zu gehen, wenn er krank oder körperlich zu erschöpft sei.
Lohn und Lebenshaltungskosten
Der Tageslohn beträgt zwischen 35 und 50 Kuai, was einem Monatslohn von etwa 1050 bis 1500 Kuai entspricht. Ausbezahlt wird das Geld den Wanderarbeitern allerdings nicht pro Monat, sondern nach einer Abrechnung zum Jahresende. Stattdessen erhalten sie jeden Monat eine Art Taschengeld, welches die Lebenshaltungskosten abdecken soll und in der Höhe von 200 bis 400 Kuai liegt. Fälle von ausstehenden Gehältern gibt es in den derzeitigen Arbeitsverhältnissen der Befragten nicht, jedoch hat sich diese Situation erst seit einigen Jahren gebessert.
Bei den meisten der interviewten Arbeiter stellt ihr Lohn die Haupteinkommensquelle innerhalb der Familie dar. Dementsprechend wird versucht, während des Lebens in der Stadt sparsam zu sein und am Ende des Jahres – oder zu Erntezeiten – möglichst viel Geld nach Hause mitnehmen zu können. Das monatliche Taschengeld wird zum Kauf von Essen, Alkohol, Zigaretten, alltäglichen Gebrauchsartikeln, Kleidung, Medizin und Telefonwertkarten verwendet, wobei pro Monat etwa 200 Kuai ausgegeben werden.
Ein Arbeiter, 56 Jahre alt und vormals selbst Subunternehmer, erzählt im Gespräch von gescheiterten Versuchen in der Vergangenheit, Firmenchefs vor Gericht anzuklagen, um die nicht bezahlten Löhne doch noch zu erhalten:
Frage: Aber ich habe noch nicht verstanden, wenn sich damals niemand darum gekümmert hat und der Chef sowie der Subunternehmer kein Geld auszahlen, wie hast du damals gehandelt? Haben Wanderarbeiter mit dem Subunternehmer gesprochen? Hat es Proteste oder Ähnliches gegeben?
«Vor einigen Jahren, das sage ich dir, haben sich alle gegenseitig betrogen. Verstehst du, was ich meine? Der betrügt den und dieser betrügt den anderen. Man hat keine Alternative.»
Frage: Aber wie haben die Arbeiter, die ja in dieser Hierarchie ganz unten sind, wie habt ihr gehandelt?
«Welche Mittel haben wir Wanderarbeiter? Wir haben überhaupt keine Mittel. Wo sollen wir uns beschweren? Vor einigen Jahren konnte man eine Klage vor Gericht einbringen und das Gesetz verwenden um diese Sache zu regeln. Das Gericht verurteilt jemanden und dennoch gibt es kein Geld. Wenn du nicht gewinnst, bekommst du das Geld nicht zurück. Wenn du gegen jemanden einen Prozess machst, musst du zahlen. Hast du gezahlt, dann bekommst du das Geld erst nicht zurück. Ich habe aufgrund dieser Sache geplant, vor Gericht?zu?gehen,?bin?schließlich aber nicht hingegangen, da ich kein Geld mehr hatte und mir die Prozesse nicht leisten konnte. Drei, vier Jahre bin ich herum gerannt, damit die Rechnungen bezahlt werden, doch sie wurden nicht bezahlt. Verstehst du was ich meine?»
Frage: Ich verstehe, nach drei, vier Jahren wurden dir auch keine Rechnungen bezahlt?
«Man hat mir keine Rechnungen bezahlt, Formalitäten waren auch nicht oder unvollständig vorhanden. Es gab nur einen Vertrag, wie viel Geld kannst du damit vor Gericht erlangen? Wie ich gerade gesagt habe, es ist unnötig davon zu reden, dass man kein Geld hat und für das Gericht Geld braucht. Doch wenn man vor Gericht geht und jemand verurteilt wird, sollte man uns Geld – egal wie viel – geben, nicht? Ich habe für dich gearbeitet, folglich musst du mir zweifellos Geld geben, wie viel sagen wir gar nicht. Das Gericht verurteilt ihn, aber er hat erst kein Geld und gibt dir nichts. Was machst du dann? Kannst du mit ihm fertig werden? So sieht es aus und deshalb bekommt man das Geld nicht mehr zurück. Aufgrund dieser Sache, das sage ich dir, sind viele Subunternehmer ruiniert worden und vor einigen Jahren gab es aus unserem Dorf davon fünf, sechs Subunternehmer.»Arbeitsvertrag und Krankenversicherung
Die befragten Wanderarbeiter haben keinen Arbeitsvertrag unterzeichnet, was von ihnen für als eine für Bauarbeiter übliche Situation beschrieben wird. An die Stelle von Arbeitsverträgen treten mündliche Vereinbarungen zwischen dem Chef bzw. Subunternehmer und den Arbeitern. Die Interviewten verfügen über keine Krankenversicherung. Bei Unfällen suchen sie den Chef bzw. Subunternehmer auf, von dem sie sich eine Entschädigung für etwaige Arzt- und Medizinkosten erwarten.
Wohnsituation
Die Bauarbeiter wohnen in Containern oder Baubaracken auf der Baustelle, die von der jeweiligen Firma zur Verfügung gestellt werden. Je nach Art der Unterkunft handelt es sich um Zimmer mit Stockbetten für etwa sechs Personen oder größeren Matratzenlagern für etwa zehn Personen.
Bildung
Die meisten der Arbeiter haben die Untere Mittelschule abgeschlossen. Unabhängig vom jeweiligen Bildungsniveau bezeichnen alle Befragten ihre Schulbildung auch für ihre derzeitige Arbeit als nützlich. Auch wenn für die Arbeit auf der Baustelle keine besondere Ausbildung erforderlich sei, so sei das in der Schule Gelernte für die Arbeitssuche, die Lohnabrechnungen, das Benutzen von Messgeräten und in Bezug auf das Allgemeinwissen hilfreich.
Familie
Die Mehrheit der interviewten Wanderarbeiter ist verheiratet und hat Kinder. 7 Etwa einmal pro Woche nehmen sie per Telefon – nur ein Arbeiter verfügt über ein eigenes Mobiltelefon – Kontakt mit der Familie auf. Zurück in den Heimatort fahren die Befragten zu Jahresende, zu speziellen Anlässen wie Hochzeiten und Geburtstagen, und in gewissen Fällen auch zu den Erntezeiten im Frühjahr und Herbst, um den Eltern, der Ehefrau, dem Sohn oder Bruder, welche weiterhin den Acker bebauen, zu helfen. Zu Veränderungen im Verhältnis zu den Familienmitgliedern sei es durch die eigene Abwesenheit nicht gekommen. Dies wird teilweise damit begründet, dass auch viele andere Verwandte in Städten weg von zuhause arbeiten.
Freizeit
Als Beschäftigungen nach dem Ende eines Arbeitstages nennen die Bauarbeiter das Spazierengehen auf Straßen und Märkten, hin und wieder Fernsehen oder das Lesen von Zeitschriften bzw. Büchern. Alle verweisen darauf, dass sie keine Hobbys hätten und diese Beschäftigungen nur der Erholung vom Arbeitstag dienen.
Verhältnis zu StadtbewohnerInnen
Die interviewten Bauarbeiter geben an, einen geringen Kontakt mit StadtbewohnerInnen zu haben. Meist besteht der Kontakt nur über das technische Personal aus Tianjin auf Baustellen oder während der von den Arbeitern getätigten Einkäufe, wobei das Verhalten der StadtbewohnerInnen nicht als verachtend angesehen wird. Die Arbeiter zeigen sich bewusst über ihre äußerlichen und sprachlichen Unterscheidbarkeit, aufgrund beispielsweise der Kleidung und dem jeweiligen Akzent, fühlen sich aufgrund dessen von den StadtbewohnerInnen allerdings nicht diskriminiert. Eine Ausnahme stellt die Beschreibung positiver Diskriminierung eines Arbeiters dar, der erzählt, dass der Chef eines Supermarktes ihm aufgrund seiner verschmutzten Kleidung Waren zu herabgesetzten Preisen verkaufte.
Staat, Polizei, Kontrolle
Die befragten Wanderarbeiter verfügen weder über eine Sozialversicherung, noch erhalten sie Sozialhilfe. Einer der Arbeiter sagt im Interview jedoch, dass es auf dem Land eine Versicherung für ältere Menschen, die keine familiäre Unterstützung haben, gebe. Die Mehrheit der Arbeiter besitzt eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung bzw. wurde diese für erst kürzlich nach Tianjin Gekommene unter den Befragten zur Zeit der Interviews gerade beantragt. Für die Kosten der Aufenthaltsgenehmigung müssen die Bauarbeiter nicht selbst aufkommen, da dies vom jeweiligen Chef bzw. Subunternehmer erledigt wird. Nicht alle der interviewten Wanderarbeiter haben bereits Kontrollen durch die Polizei erlebt. Kontrollen in den letzten Jahren werden als harmlos beschrieben, da sich die Polizei damit begnügt, Arbeiter ohne temporäre Aufenthaltsgenehmigung aufzufordern, sich diese schnellstmöglich zu besorgen. Im Kontrast zu dieser Beschreibung erzählt ein Arbeiter von den gewaltsamen und korrupten Vorgehensweisen der Polizei und Sicherheitsdienste von vor mehr als etwa fünf Jahren. Als entscheidend für die Verbesserung der Situation nennen die Arbeiter den Erlass von Wanderarbeitergesetzen der Zentralregierung.
Von der Regierung wird gefordert, dass sie Initiative für die Wanderarbeiter ergreifen sollte, falls die Löhne zu niedrig sind oder am Jahresende nicht ausbezahlt werden. Abgesehen davon reagieren die Arbeiter allerdings ablehnend auf mögliche Hilfeleistungen der Regierung, da sie diese nicht brauchen würden.
Zukunft
Die Vorstellungen und Hoffnungen bezüglich der zukünftigen Lebenssituation fallen je nach Alter der Befragten unterschiedlich aus. Während sich ältere Arbeiter keine Hoffnungen mehr machen wollen und zufrieden sind, wenn sie genug zu essen haben und ihre Kinder groß ziehen können, wollen einige der jüngeren Arbeiter nur noch für eine gewisse Zeit fern von ihrer Heimat arbeiten und später ein eigenes Unternehmen in ihrem Heimatdorf gründen.
Die Bauarbeiter sagen in den Interviews, dass es derzeit kaum mehr Fälle von ausstehenden Gehältern gebe und auch die Polizei Wanderarbeiter nicht mehr nach Belieben festnehmen könne. Als Auslöser für die Verbesserung der Situation nennen die befragten Arbeiter den Erlass von Wanderarbeiter-Gesetzen durch die Zentralregierung. So antwortet ein 40-jähriger Arbeiter aus der Provinz Shandong auf die Frage, ob es zurzeit Fälle von ausstehenden Gehältern gebe:
«Das gibt es nicht. Allgemein haben wir auf dieser Baustelle noch nie von ausstehenden Löhnen gehört. Zurzeit packt die Regierung dieses Gewerbe fest an, vor einigen Jahren gab es das noch. Ich arbeite jedenfalls seit zwei Jahren und der Lohn ist noch nie ausgestanden.»
Ein weiterer Bauarbeiter antwortet auf dieselbe Frage:
«Vor einigen Jahren gab es das, jetzt ist es besser geworden und seit den letzten Jahren gibt es das kaum. Weswegen? Das Zentralkomitee hat dieses Wanderarbeiter-Gesetz erlassen und nun traut sich niemand mehr, den Wanderarbeitern Löhne zu schulden. Man schuldet eher dem Chef Geld und traut sich nicht, Wanderarbeitern Geld nicht auszuzahlen. In den letzten Jahren wurde es allgemein besser, vor einigen Jahren war es aber noch nicht in Ordnung. Damals, verfickt noch mal, hat es alleine durch dieses Schuldendreieck kein Geld gegeben. Egal ob der Chef Geld hat oder nicht, er würde es dir nicht geben. […] Wenn du bei einem Bau fertig gearbeitet hast, gibt dir der Chef kein Geld. Wenn unser Subunternehmer aber kein Geld erhält, was soll er uns dann geben? Das meine ich.»
Er erinnert sich im Verlauf des Interviews auch an Festnahmen von Wanderarbeitern durch die Polizei und spricht auch in diesem Fall von, durch die Wanderarbeiter-Gesetze ausgelösten, Verbesserungen der letzten Jahre:
«Ich weiß nicht mehr genau in welchem Jahr das war, aber ich habe damals auf dem Platz hinter dem Tianjiner Ostbahnhof auf einer Baustelle gearbeitet. Wir haben gerade zu Abend gegessen, als diese verdammte Polizei mit dem Auto zum Eingangstor gefahren ist und Leute festgenommen hat. Sie sind auf die Baustelle gekommen und haben uns überprüft. Wenn du nicht die gesamten Papiere hattest, dann haben sie dich eben mitgenommen. Manchmal haben sie dich auf der Straße überprüft, aber sie sind, verdammt noch mal, auch auf die Baustelle gekommen. Das hat es vor einigen Jahren alles gegeben.»
Frage: Wenn diese Festnahmen damals ganz üblich waren und du schon wusstest, dass Leute festgenommen wurden, hast du dann anderen Wanderarbeitern davon erzählt oder sie davor gewarnt?
«Davon haben auch die anderen Wanderarbeiter gewusst, jeder hat davon gewusst. Die Kleidung von Wanderarbeitern ist in Wahrheit ja ein wenig schmutzig, Menschen vom Land können sich dabei nicht mit den Stadtbewohnern messen. Ein Wanderarbeiter kann sich noch so herausputzen und kann sich noch so waschen, aber er wird dennoch nicht wie ein Stadtbewohner aussehen. Daher kann man auf der Straße auch einen Unterschied erkennen. Wenn man hin und wieder nicht aufmerksam ist, etwas einkaufen geht und so jemandem ein Dorn im Auge ist, wird man sofort mitgenommen. Diese Situation hat es vor einigen Jahren gegeben, jetzt ist es besser. Trauen sich diese Arschlöcher das heutzutage noch? Niemand traut sich das mehr, heutzutage sind Wanderarbeiter wie zu Göttern geworden.»
Frage: Warum traut sich das heute niemand mehr?
«Weil es jetzt das Wanderarbeiter-Gesetz des Zentralkomitees gibt, und es niemand mehr wagt, dich festzunehmen. Es ist nicht mehr wie damals. Vor einigen Jahren war es für einen Wanderarbeiter schon zu Ende, sobald er nur kontrolliert wurde.»Endnoten
[1] Zhonggong zhongyang (2004): «Zhonggong zhongyang guowuyuan guanyu cujin nongmin zengjia shouru ruogan zhengce yijian» (Einige politische Vorschläge des Zentralkomitees der KPCh und des Staatsrats für die Erhöhung der bäuerlichen Einkommen), auf der Website: www.people.com.cn/GB/jingji/1037/2325995.html, 29.10.2007.
[2] Die vollständigen Interviews sind auf der Homepage www.wildcat-www.de/dossiers/china nachzulesen.
[3] 2006 Tianjin Statistical Yearbook, in http://www.stats-tj.gov.cn/2006nj/2/2-1.htm (29.10.2007). Weitere statistische Erhebungen zur temporären Bevölkerung finden sich in http://news.enorth.com.cn/system/2006/03/17/001258181.shtml, 29.10.2007.
[4] Li Bingqin: «Floating Population or Urban Citizens? Status, Social Provision and Circumstances of Rural-Urban Migrants in China», in Social Policy and Administration, Nr. 2 (2006), 174-195.
[5] 10,7 Yuan RMB (umgangssprachlich als Kuai bezeichnet) entsprechen 1 Euro.
[6] Im konkreten Fall beschreibt der Begriff StadtbewohnerInnen nur Menschen, die in Tianjin geboren sind oder über einen Tianjin-hukou verfügen.
[7] Auf die Frage nach Kindern wurde oft nur mit der Anzahl der Söhne geantwortet und erst bei weiterem Nachfragen auch die Töchter genannt.
aus: China-Beilage Wildcat 80, Dezember 2007