Wildcat Nr. 80, Winter 2006/2007, S. 5–7 [w80_bahnstreik.htm]



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Endlich volkswirtschaftlicher Schaden!

»Sicher ist mal, dass man durch die Abnahme der körperlichen Belastung
den Job wesentlich stressfreier gestalten könnte, wenn man nicht alle
Freiräume durch die Rationalisierung bis zum Erbrechen zusammenkürzen würde.«
Eisenbahnforum1

Verhandlungspause im Streik der Lokführer. Seit Sommer hatten sie mit wachsender Popularität in ihren Streiks immer wieder vorgeführt, was Arbeitermacht in einem zentralen Sektor bewirken kann. Sie schienen nicht nur – stellvertretend für viele – in der Lage zu sein, den arroganten Mehdorns, Piëchs und Ackermanns eine Grenze aufzuzeigen, sondern endlich mal wieder mit einem Streik deutliche Verbesserungen rauszuholen, reale Lohnerhöhungen und Zurückfahren der Flexibilisierung.

Deshalb war der Arbeitskampf der GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokführer) populär. Nicht nur aus Umfragen, auch beim Flugblattverteilen an Pendler konnten wir das erleben: Trotz Pressehetze, vollen U-Bahnen und längeren Wartezeiten wuchs zum Streikhöhepunkt Mitte November die Zustimmung. Es beginnt sich Widerstand gegen die mittels der Zersplitterung der Belegschaften durchgesetzten neuen Bedingungen herauszukristallisieren, auf denen der Boom der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren basiert. 2

Der Streik der Lokführer hätte zum Zündfunken werden können. Aber dieses ungeheure Potenzial des Kampfs wurde nicht gehoben. Die Streiks wurden von der GDL defensiv und extrem zögerlich geführt. Trotzdem entwickelten sich keine autonomen Ansätze, keine eignenen Streiks. Hinter dem Vertrauen der Lokführer in die Organisation »GDL« steckt kein Standesdünkel, sondern eine noch zu beantwortende Frage: Wie kann eine völlig flexibilisierte Belegschaft, wo jeder zu einer anderen Zeit anfängt und aufhört, wo man örtlich voneinander getrennt arbeitet, gemeinsam diskutieren und handeln? Es gab außerhalb des Streiks und der verstreuten Streiklokale keine Orte der Betriebsversammlung – weder für die Lokführer alleine, noch für Fahr- und Bahnpersonal insgesamt.

Wir haben erst im letzten Moment noch etwas zum Streik bei der Bahn geschrieben – denn in den Monaten vorher war es uns kaum gelungen, Kontakt zu Streikenden zu bekommen. Angesichts der Stärke, allein durch Arbeitsniederlegung etwas gegen die Unternehmer durchsetzen zu können, schienen sie gar keine Öffentlichkeit zu brauchen. Erst während der letzten längeren Streiks haben die BahnerInnen dann angefangen, sich öffentlich zu zeigen. So haben wir doch noch einiges aus erster Hand mitgekriegt und am 6. Dezember ein Interview gemacht. Zunächst aber eine Sammlung von Informationen aus persönlichen Gesprächen in verschiedenen Städten, dem Eisenbahnforum und anderen Quellen.

Zersplitterung

1994 wurde das Staatsunternehmen Bahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Seither wurde sie in fast 200 »Töchter« und unzählige betriebliche Untereinheiten aufgesplittert (das Fahrpersonal ist über 360 eigenständigen EVUs – Eisenbahnverkehrsunternehmen – zugeordnet). Diese Auslagerungen haben verheerende Konsequenzen für Löhne und Arbeitsbedingungen. Während die Produktivität um 180 Prozent gesteigert und die Personalkosten um 28 Prozent gesenkt wurden, hat der DB-Konzern fast jeden zweiten Arbeitsplatz abgebaut, insgesamt rund 150 000. Momentan unterhält die DB AG etwas über 100 Tarifverträge in den einzelnen Sparten, Branchen und Bereichen. Zwar brüstet sich Transnet, als fast einzige Gewerkschaft die tarifliche Trennung zwischen Ost und West aufgehoben zu haben, aber die größten Trennungen innerhalb einer Berufsgruppe bestehen zwischen Ost und West, da die ehemaligen Reichsbahner der DDR keine Beamten sind – deren Anteil im Westen recht hoch ist. Viele ehemalige Reichsbahner arbeiten im Westen, das bedeutet: Zweitwohnung und/oder lange Pendelwege, um soziale Kontakte zu pflegen. Die »31-Prozent«-Forderung der GDL zielt auf eine Angleichung der Nettolöhne von Beamten und Angestellten und würde somit auch zu einer »regionalen Angleichung« führen. Die GDL war 2002 aus der Tarifgemeinschaft mit Transnet und GDBA ausgestiegen, als diese den Einstieg in regional gestaffelte Tarifverträge durchsetzen wollten. Die von Transnet betriebene Zersplitterung des Flächentarifvertrags ist mit ein Grund für die Wandlung der ehemaligen Berufsgewerkschaft in eine Spartengewerkschaft.3

Arbeitszeiten und Arbeitsverdichtung

Während die meisten nicht fahrenden Angestellten der Bahn feste Schichtzeiten haben, muss das Fahrpersonal äußerst flexibel arbeiten. Planstellen haben immerhin eine feste Schichteinteilung nach einem dreimonatigen Plan. Die sogenannten »Rollierer« dagegen haben keinen Dienstplan, sondern es stehen nur die Ruhetage fest: »Ich erfahre erst bis zu einem Tag vorher, was ich am nächsten Tag machen muss.« Eine Schicht kann zu jeder Tageszeit beginnen und enden. Zwischen den Schichten müssen lediglich elf Stunden liegen, was bis zu zweimal hintereinander auf nur neun Stunden gekürzt werden kann. Dadurch sind rückwärts rollierende Schichtfolgen möglich, eine enorme körperliche Belastung! Bei Zugverspätung darf eine Schicht sogar bis zu vierzehn Stunden lang sein. Im Güterverkehr sind die Fahrpläne nicht so festgelegt wie im Personenverkehr, so dass selbst Planschichten kurzfristig geändert werden können.

Durch die extrem dünne Personaldecke werden die Schicht- und Jahresarbeitszeiten länger, weil Überstunden nicht abgefeiert werden können. Es gibt keinen Ersatz mehr, wenn man während einer vielstündigen Fahrt aufs Klo muss. Zusätzliche Aufgaben wie Kundeninformationen, »Störungsmanagement« usw. müssen übernommen werden. Das verwässert die Pausenzeiten. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten haben auch Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Belegschaft, höchstens durch Zufall trifft man mal einen Kollegen in der Pause.

Der Unternehmer verstärkt den Stress durch immer weitere Kontrollen, etwa durch als Fahrgäste getarnte Kontrolleure: »Und die finden dann immer irgendwas, wofür sie dich abmahnen«. Gleichzeitig verfällt die Infrastruktur für das Personal: Viele Bahnhöfe haben keinen richtigen Pausenraum mehr, sondern ein »verdrecktes Loch«.

Weniger belastende Arbeitsplätze für ältere oder gesundheitlich angegriffene Kollegen gibt es nicht mehr. Während der Kampf der Lokführer stark von diesen miesen Arbeitsbedingungen motiviert ist, setzt die GDL diese als Verhandlungsmasse ein.

»Ich gehe davon aus, dass bei einem nächsten Streik, die Kollegen allein Diskussionsgruppen bilden werden und das ›jetzt und hier‹ diskutieren werden. So war es bei den letzten Streiks, dass die Kollegen selbst viel diskutiert haben und aus dem Reden nicht rausgekommen sind. Es stand nie einer länger als fünf Minuten allein mit seinen Gedanken da.« (ein streikender S-Bahner)


»Wir haben ganz schön was in Bewegung gesetzt«

Interview mit zwei Lokführern:
Kai fährt von Berlin aus bundesweit Güterzüge für die Railion,
Rolf fährt S-Bahn in Berlin.
Beide sind in der GDL organisiert, bekleiden aber keine Funktion.

Die GDL hat sich auf eine freiwillige Friedenspflicht bis Ende Januar eingelassen. Wie wurde das aufgenommen?

Kai: Den meisten Kollegen ist gar nicht bewusst, dass die »freiwillig« ist; sie wissen nicht, dass wir rein rechtlich gesehen weiter streiken könnten.

Rolf: Das ist der ungeschriebene Kodex der westdeutschen Funktionäre: »Wir haben nie während der Verhandlung gestreikt.« Sobald man das mit den Kollegen bespricht, ist der Tenor eindeutig: »Wie? freiwillig – det brauchen wa nich, wir müssen weiter Druck machen!«

In Berlin seid ihr zum Großteil »Ossis«…

Kai: Das liegt zum großen Teil daran, dass wir keine Beamten haben. Der Osten als Osten ist nicht kämpferischer als der Westen. Nur, die alten eingefahrenen Strukturen gab es hier nicht, die GDL ist im Osten frischer, die Transnet wird hier heute noch als Nachfolgeorganisation des FDGB gesehen. Die Lokführer hatten ne Alternative, die nicht viele hatten. 4

Die GDL war mit der Streikleitung oft überfordert. Ihr beide habt in den letzten Wochen selbst einiges gerissen: Wie beziehen sich Eure Kolleginnen und Kollegen auf Euch?

Rolf: Wir gehören ja trotzdem zur GDL, wir sind Unterstützer, Inspirator, »Querdenker«… Aber wir haben ganz schön viel in Bewegung gesetzt, nicht nur innerhalb der GDL, vor allem bei den Kollegen, das müssen wir auch erstmal begreifen.

Kai: Wir waren viel unterwegs und haben mit vielen Kollegen gesprochen. Die merken dann: »Die sind aktiv, die könnte man mal fragen«. Wir haben nen Vorteil gegenüber den Funktionären: Die bekommen vom Vorstand die Weisungen und von unten den Druck, da müssen sie immer abwiegen. Wir sind kein Brückenelement zwischen Vorstand und den eigentlichen Gewerkschaftern, wir können freier agieren. Höchstens die GDL kann uns Stress machen, falls wir ihr zu kritisch sind. Wir sind bestrebt, dass die Basis wächst, dass wir die Köpfe, die es bei uns gibt, aktivieren.

Rolf: Das muss ja nicht heißen, dass die Struktur [GDL] aufgelöst wird, sondern dass das alte Denken – die Gewerkschaften hätten so und so zu funktionieren – aufhört.

Habt Ihr vor, selbst für Funktionen in der Gewerkschaft zu kandidieren?

Rolf: Ne, da verliert man Kraft, das sehe ich an den Funktionären, was da für Kraft über die Struktur gebunden wird. Die werden teilweise bewusst so eingesetzt, dass sie nicht mehr »querdenkerisch« aktiv werden. Es ist wichtiger, aktiv querzudenken, als nur ein kleiner Mitläufer zu werden.

Wenn Ihr auf die letzten Wochen zurückblickt, was ist gut gelaufen?

Kai: Der Moment, den Kampf zu beginnen, war gut gewählt. Der Forderungskatalog fand zu 100 Prozent die Unterstützung der Kollegen. Vor zwei, drei Jahren war die Stimmung noch anders, jetzt ist den Leuten bewusst, dass Personalmangel herrscht und ihre Arbeitskraft gebraucht wird!

Rolf: Die andere Seite ist der Druck des Arbeitgebers. Immer mehr Kollegen mussten Einschränkungen bei Lohn und Arbeitszeiten hinnehmen. Viele Ältere, die teilweise noch Dampfloks gefahren sind, leiden zudem unter der massiven Dequalifizierung der Arbeit. Und die Äußerungen der Konzernvertreter, wie Frau Suckale, haben angesichts der realen Arbeitsbedingungen und Schichtpläne wie ne Ohrfeige eskalierend gewirkt.

Was ist schlecht gelaufen, was müsstet Ihr beim nächsten Mal besser machen?

Kai: Man hätte die Leute vorher schulen müssen: Wie geht ne Streikleitung, wie argumentiere ich, welche Rechte habe ich, wie kann ich gegenüber Bahnhofsmanagern auftreten. Zu Streikbeginn sind Flugis verteilt worden, aber das ist doch keine Streikvorbereitung.

Rolf: Wenn das alles besser gelaufen wäre, dann wären wir – als Aktivisten – gar nicht notwendig gewesen, wir hätten uns lediglich eingebracht. Wir sind erst aus den Mängeln entstanden, ob es Organisierung, Information oder Planung betrifft…

Wie ist es zur Demo am 15.11. zum Hauptbahnhof und zum DB-Tower gekommen?

Rolf: Die Kollegen haben immer bemängelt, dass nichts passiert. Durch das Hausverbot des Unternehmers durften wir ja nicht mal im Bahnhof auftreten, deshalb entstand die Idee einer Demo. Dann kam der lange 48-stündige Streik, doch innerhalb der GDL war nichts organisiert. Am Tag vorher in der Geschäftsstelle war so'n Trubel, bei den Funktionären ging die Idee wahrscheinlich rein und raus. Dann half der Zufall, einer von uns nahm das klingelnde Telefon ab, SAT 1 suchte für ne Reportage streikende Lokführer, jemand antwortete: »Morgen um 9 Uhr am Hauptbahnhof!« Die Entscheidung war gefallen. Einer hat sich schlau gemacht: Demonstrationsrecht, Anmeldung. Donnerstag um 3 Uhr wurden im Streikbüro die Kollegen informiert: »Ey, um 8 Uhr gehen wir raus und machen ne Demo« – »Geil, super« bis dann unser OG-Leiter da war: »was, wie, aber, aber…«. Doch das Ding lief schon an, Kollegen und Presse wussten Bescheid, die Demo war angemeldet, einer hat noch die Fahnen geholt und dann haben wir das losgemacht.5

Das waren nur S-Bahnfahrer. Am Freitag haben sich dann Aktive aus mehreren Ortsgruppen zusammengesetzt. Wie ist es dazu gekommen?

Rolf: Ja, eben aus dem Kampf selber heraus. Man hört voneinander, fängt an, über Sachen zu quatschen, der eine denkt wie der andere, und so bildet sich dann ne kritische Gruppe.

Am Freitag lief bei uns (S-Bahnern) drei, vier mal der Film über den Streik der französischen Bahnfahrer 1995, die Leute waren begeistert »Verdammt, warum machen wir das nicht?« Sie wollten wieder raus, doch von der GDL war niemand da. Aber nun hatten wir ja Erfahrung: »Kein Problem, hier sind Tüten, fahrt mal los und holt Infomaterial, nicht reden sondern machen!« Und dann sind die Leute los und kamen irgendwann wieder mit strahlenden oder nicht so strahlenden Gesichtern, je nachdem wie die Erfahrungen draußen waren. Immerhin haben sie sich nicht mehr versteckt, sondern selber was gemacht und Flagge gezeigt. Dann ging das schon parallel, wir haben von der OG Hbf 6

gehört, die haben eigene Aktionen gemacht, und da war nichts koordiniert. »Das müssen wir doch zusammenfassen«, haben wir gedacht. Noch am Freitag sind welche von Meldestelle zu Meldestelle gefahren und haben versucht, Leute zu finden, um beim nächsten Mal gemeinsame Aktionen zu machen. Leider hat es seitdem keinen weiteren Streik gegeben…

Kai: Aber der Kampf ist nicht vorbei, die Unternehmer versuchen, den Gewinn zu steigern und die Löhne zu drücken, wir können uns da nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Es ist immer gut, was zu erreichen, aber es wird weiter gehen.

Fußnoten:

[1] Eisenbahnforum: www.eisenbahnforum.de

[2] Flugblattverteilen

Berlin, 12.10.2007
Die Flugis gingen gut weg; wenn es feedback gab, dann eher positves. Ich hatte zwei Diskussionen mit Leuten, die den Streik bzw. die Lohnforderung ok fanden, aber sich darüber aufgeregt haben, dass die Pendler drunter leiden müssen. Eine meinte: »Die müssten was Spektakuläres machen: dem Mehdorn in die Fresse hauen oder wie in Frankreich: richtig streiken!«
Köln, 13.10.2007
Wirklich beeindruckend war der hohe Grad an Zustimmung zu dem Streik, was ich so nicht erwartet hätte. Manche fragten, ob die Flugis für oder gegen den Streik seien und nahmen sie erst, als sie erfuhren, dass sie für den Streik sind.

[3] Lohnspaltung
»Was soll denn das Gerede von der Einheit, die gibt es doch schon lange nicht mehr, ich als Beamter verdiene 1000 Euro mehr im Monat, über diese Spaltung hat sich bisher nie jemand aufgeregt.« Ein Beamter am 8.11.07 auf dem Güterbahnhof Gremberghoven, Köln

[4] Gewerkschaften
Die GDL ist mit etwa 35 000 Mitgliedern (80 Prozent davon sind Lokführer) weit kleiner als Transnet (270 000) und GDBA (65 000). Sie gilt als älteste deutsche Gewerkschaft und vertritt die Mehrheit der Lokführer bei der Deutschen Bahn und den Privatbahnen. Während des Streiks gab es allein bei den S-Bahnfahrern 200 Neumitglieder. In München sind massenhaft StraßenbahnfahrerInnen eingetreten. Beim Fahrgastpersonal insgesamt dominieren noch Transnet bzw. GDBA, deshalb fallen nun die Zug-, die Gastronomiearbeiter, die Bordtechniker, die Wagenmeister, die fahrenden Reinigungskräfte und besonders die Zugbegleiter, von denen nicht wenige mitgestreikt haben, bei dem Verhandlungsergebnis raus.

[5] Videoclips zum Streik auf Kanal B:

[6] Es gibt vier Ortsgruppen der GdL in Berlin, OG genannt: OG-S-Bahn, OG-Hauptbahnhof (überwiegend Kollegen vom Fernverkehr: Lokführer, Gastro und Zugbegleiter, aber auch von S-Bahn, Regio, Railion und Privatbahnen), OG-Pankow (überwiegend Railion), OG-Schöneweide (überwiegend Regio).



aus: Wildcat 80, Winter 2007/2008



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