Wildcat Nr. 83, Frühjahr 2009, w83_proletarisierung_china_und_wir.htm



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Proletarisierung, Weltarbeiterklasse, China und wir

Bildet sich in den gegenwärtigen Umwälzungen eine Weltarbeiterklasse heraus? Dieser Frage sind wir im Artikel Was kommt nach der Bauerninternationalen im letzten Heft nachgegangen. Die "Internationale" des 20. Jahrhunderts als Bündnis von Arbeiter- und Bauernbewegung hat immer auf den Staat gesetzt. Ihre Politik war eingeklemmt zwischen Entwicklung/Unterentwicklung und nationalen Befreiungsbewegungen. Heute entsteht die Internationale in der weltweiten Proletarisierung.


Industrialisierung und Bauern

Die weltweite Verlagerung der Produktion war eine der kapitalistischen Gegenstrategien seit den 1970er Jahren. Dabei entstand keine "homogen industrialisierte Welt" - das könnte im Kapitalismus auch gar nicht funktionieren! -, aber beim Anzapfen immer neuer Arbeitskräftereservoirs ist spätestens heute eine Scheidelinie überschritten, wo Unternehmer aus China weiterziehen, weil dort die Löhne "zu hoch" sind, und gleichzeitig aus denselben Gründen (nach Westeuropa) rückverlagert wird. Es gibt zwar weltweit Millionen von KleinbäuerInnen, aber ein immer kleinerer Teil der Landbevölkerung kann noch von Subsistenzproduktion leben, d.h. von einer Produktion für den Eigenbedarf, bei der Überschüsse getauscht werden. Immer mehr Landarbeit ist zu mittelbarer oder unmittelbarer Lohnarbeit geworden.[1] Die Gleichsetzung von Nahrungsmittelproduktion und Bauern stimmt immer weniger. Auch die Lebensperspektiven der Menschen auf dem Land hat sich verändert, sie liegt für die Mehrheit in der Stadt - die "Slumcities" sind auch Ausdruck davon, dass die Menschen Teil der globalen Klasse sein wollen. Wenn in der aktuellen Krise WanderarbeiterInnen keine Arbeit mehr finden und zurück aufs Land müssen, liegt darin ein erheblicher sozialer Sprengsatz. Denn sie sind keine Bauern mehr. Aus all dem haben wir geschlossen: Vorstellungen von Bauernkriegen oder Arbeiter/Bauern-Bündnissen haben keine materiellen Grundlagen mehr. [2]


Proletarisierung bedeutet nicht Homogenisierung

Proletarisierung verläuft zwischen relativ abgesicherter Lohnarbeit einerseits und Formen von Sklaven-ähnlicher oder "unfreier" Arbeit andererseits, die sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern neu entwickelt hat. Seit Jahren beschäftigt sich die linke sozialwissenschaftliche Debatte damit, die Teile dieses Fächers immer weiter aufzufalten, voller Sorge, eine Ausbeutungsform gegenüber der anderen zu privilegieren oder vorschnell "zu vereinheitlichen", wie sie das vielleicht selbst im früheren antiimperialistischen Überschwang getan hat. Auf diese Art lassen sich zwischen den beiden Polen fast beliebig viele Schubladen einfügen. Aber diese ethnografische Sichtweise ist der augenblicklichen Beschleunigung der Proletarierungsprozesse und den unterschiedlichen Ausbeutungsformen, die dieselben Subjekte nacheinander durchleben, nicht mehr angemessen! Und das ewige Herumhacken auf dem "männlichen weißen Fabrikarbeiter" aus dem Museum der Arbeiterbewegung ist von der Entwicklung längst überholt. Diese Schubladen - "Bauern", "Landarbeiter", "Landlose" usw. - wurden z.B. gerade wieder auf dem Weltsozialforum in Brasilien von den Präsidenten von Venezuela, Bolivien, Paraguay und Ecuador als "Säulen (ihres) Sozialismus des 21. Jahrhunderts" genannt. Die Antiglob-Bewegung muss sich entscheiden, ob sie einen Blick auf die Welt von unten einnehmen will - oder von oben, aus staatlicher Sicht. Der Pragmatismus, der nach Genua 2001 (die Strafverfahren ziehen sich bis heute!), der verschärften Repression nach dem 11. September 2001 und durch die "Kriege gegen den Terror" Raum ergriffen hat, ist vor allem den inhaltlichen Grenzen des Gipfelstürmens und realpolitischen Verengungen geschuldet - weniger einem Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit. Die Bewegung ist locker in der Lage, Großereignisse wie in Heiligendamm 2008 oder gegen den Natogipfel in Straßburg/Baden-Baden Anfang April 2009 zu organisieren. Aber die wirklichen Fragen werden kaum noch diskutiert: wie steht es mit der lokalen Verankerung, wie kann die Bewegung "im Alltag" weiterwirken, was hat sie mit unseren Hoffnungen auf Revolution zu tun? "Bündnispolitik" ist das Gegenteil von dem Versuch, sich auf die skizzierten Proletarisierungsprozesse, die veränderten Lebensperspektiven in den Kämpfen z.B. der MigrantInnen zu beziehen. Sie steht mit beiden Beinen in den Fußstapfen Lenins, der aus einer Analyse der damaligen Klassenzusammensetzung (ein Agrarland mit kleiner, aber wachsender Industriearbeiterklasse) seine Vorstellung eines Bündnisses von Arbeitern und Bauern entwickelt hatte. Das erklärt nebenbei, warum sich linke Debatten immer wieder im Für und Wider des "neuen" linken Parteiprojekts verheddern, da leider oft Bündnispolitik ohne Untersuchung der Klassenzusammensetzung gemacht wird.

In der Doppelentwicklung von Proletarisierung und Krise sehen wir die Möglichkeit einer politischen Neuzusammensetzung von Arbeiterkämpfen und Bewegung. Die aktuelle Krise wirkt wie eine Lupe: weltweit könnten wir z.B. die Zahlen der entlassenen Leiharbeiter entlang der globalen Produktionsketten - manchmal eher regionale Flecken - zusammenzählen. Die Gleichzeitigkeit und Tiefe, mit der beide die Krise zu spüren bekommen, zeigt, dass die ArbeiterInnen in einem Sweatshop in Indien und die ArbeiterInnen in einer Autofabrik hier im selben weltweiten Zusammenhang produzieren. Die verschiedenen Ausbeutungsformen existieren nicht "nebeneinander", sondern bedingen sich gegenseitig. Die relative Mehrwertproduktion (höchstmögliche Nutzung der teuren Maschinerie durch Schichtarbeit) ist auf die Ausweitung von absoluter Mehrwertproduktion (schlechte maschinelle Ausstattung bei langer Arbeitszeit) angewiesen.


Proletarisierung und Krise - Verbindungen ohne Automatismus

Die Weltarbeiterklasse gibt es schon - als unter das Kapitalverhältnis subsumierte Arbeitskraft, aber auch als Lebensperspektive der ProletarierInnen. Die in einer Zulieferklitsche in den Slums von Delhi in internationalen Produktionsketten malochenden Arbeiter können in dieser Stellung wahrscheinlich keine "Produktionsmacht" (B. Silver) entwickeln, aber ihre Ansprüche entwickeln sie trotzdem am Lebensstandard "der Städter". Ein Zusammenhang, der sich in aller Deutlichkeit in der aktuellen globalen Krise zeigt. Welche Organisierungsformen, welche Kämpfe können sich daraus entwickeln? (siehe Indienbeilage der letzten Wildcat)

Schon einmal sah es nach der Entwicklung einer weltweit kämpfenden Arbeiterklasse aus: ab 1905 gab es in den USA, in Russland, in ganz Europa, in Schanghai, Südafrika und Australien Arbeiterräte und Wobblies. Diese Entwicklung wurde durch Krieg, Krise, National(sozial)ismus, New Deal und wieder Krieg unterbrochen. In dieser Phase entstanden auch die heutigen Organisationen der Arbeiterbewegung, die mit dem Fabriksystem verwobenen (Industrie-)Gewerkschaften. Sie sind mit dem Beginn der "langen neoliberalen Krise" des Kapitals seit Anfang der 1970er Jahre spiegelbildlich ebenfalls in die Krise gerutscht. Heute braucht es neue Ideen zu Organisierung unserer Kämpfe. Einer Antwort kommen wir nur näher, wenn wir in den aktuellen Krisenprozessen und Kämpfen nach diesen Zusammenhängen suchen.

GenossInnen aus der Schweiz haben mit einer Broschüre den Versuch gemacht, die globale Entwicklung der Ausbeutung und die weltweiten Klassenkämpfe zu untersuchen: Den Multis die Stirn bieten, ein Rebellion-Dossier.[4] Ihr Startpunkt ist die Krise der radikalen Linken [3] in der Schweiz. Ausgehend von den Erfahrungen in der Antiglobalisierungsbewegung schlagen sie ein Einmischen in die "globalen Sozialrevolten" vor. Dazu spüren sie dem "objektiven" globalen Zusammenhang nach und fragen von da aus nach dem Zusammenhang in den Kämpfen. In den Fokus stellen sie dabei die BRIC-Länder (Brasilien, Russland, Indien und China) und die "Next-Eleven" (Ägypten, Vietnam usw., von denen sich eine ähnliche Entwicklung erhofft wird) und überprüfen mit offiziellen Statistiken zu Streiks und Hungerrevolten ob es einen "Zusammenhang zwischen kapitalistischer Expansion und Revolte" gibt. Bei der Einordnung der Kämpfe bleibt das eine oder andere Fragezeichen, aber wir hoffen, dass die Broschüre zum Ausgangspunkt weiterer Diskussionen wird.

Am deutlichsten zeigt sich dieser Zusammenhang momentan in China: die dortige (industrielle) Entwicklung schien dem krisengeschüttelten Kapitalismus neues Blut einzuflößen. Aber ebenso entwickelten sich die Ansprüche der ArbeiterInnen und die Fähigkeit, sich bessere Bedingungen zu erkämpfen. Der weltweite Kriseneinbruch trifft die WanderarbeiterInnen in der Exportindustrie als erstes. Mit einem Schlag werden sie auf ihre Ausgangssituation als ProletarierInnen vom Land zurückgeworfen - und sie haben bereits angefangen, sich dagegen zu wehren. Nicht zum erstenmal in der chinesischen Geschichte droht die Entwicklung auf dem Land eine politisch explosive zu werden, aber die Auswirkungen könnten über das Land, und wohl auch über die Grenzen Chinas hinaus wirksam werden. Die Spaltung in Land/Stadt funktioniert nicht mehr, das Regime sucht nach Möglichkeiten der Abfederungen - unter angespannter Beobachtung durch das transnationale Kapital. Und großen Hoffnungen von unserer Seite!


 


Randnotizen:

[1]Gleichzeitig ist der Anteil an den ländlichen Einkommen aus "Nicht-Farmarbeit" (also irgendeine Art von Dienstleistung, Tourismus, Handel...) z.B. in Lateinamerika von ca. 17 Prozent in den 1970er Jahren auf heute um die 50 Prozent angestiegen. Nur noch eine Minderheit der KleinbäuerInnen verkauft mehr Lebensmittel als zugekauft werden müssen (z.B. Bolivien 5,6 Prozent, Äthiopien acht Prozent, Bangladesh 8,4 Prozent) - und kann durch "gerechte Weltmarktpreise" gar nicht erreicht werden. (Tomas Fritz, Dem Weltmarkt misstrauen. Die Nahrungskrise nach dem Crash).


[2]Die Argumente und das Material sind in dem Artikel in der Wildcat 82 ausführlicher entwickelt.


[3]"Die Linke" muss auch die "eigene Proletarisierung" und die "eigene Krise" zum Thema machen, um überhaupt politisch aktiv bleiben zu können, um wirksam sein zu können, um mehr zu werden! Die Linke hat sich immer schwer damit getan, die eigene Existenz als Lohnarbeiter (oder Studierende) zu thematisieren. Vor "lauter Proletarisierung" kommen viele kaum noch zu regelmäßiger politischer Aktivität. Solche Fragen bewegen sich immer an den Schnittstellen zwischen kollektiven Ansprüchen und individueller Perspektive. Deswegen sind Diskussionen um Proletarisierung und Krise auch kein abstraktes Theoretisieren.

[4]Den Multis die Stirn bieten kann unter http://globalrevoltpress.wordpress.com als PDF runtergeladen oder als Hardcopy bestellt werden.



aus: Wildcat 83, Frühjahr 2009



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