Wildcat Nr. 86, Frühjahr 2010 [Seite 24-25]



[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: Wildcat #86 – Inhalt [Gesamtindex]


»Außerordentliche Geschwätzigkeit« im »Doppel einer kämpfenden und einer regierenden Linken«

Buchbesprechung: Thomas Seibert: Krise und Ereignis; siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus; VSA-Verlag, Hamburg 2009

Gerade haben wir selber in langen Diskussionen ein paar Thesen zum Kommunismus aufgeschrieben, da erscheint ein Buch mit dem vielversprechenden Titel: »Krise und Ereignis; siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus«. Na klar, das müssen wir lesen! Vielleicht sind ja ein paar gute Gedanken drin, die uns weiterhelfen? – Viel, viel mehr als »ein paar« – aber leider wenige gute!

»… in seinem Denken (gewinnt) vieles von dem, was im Folgenden den Begriff der transnihilistischen Reformation füllen wird, eine ganz außerordentliche Plastizität, wenn auch nicht nur um den Preis liberaler Einhegung, sondern auch um den einer ebenso außerordentlichen Geschwätzigkeit. Sei's drum, man wird sich zu helfen – und zu bedienen wissen. Ich selbst tue das, indem ich seine Begriffe der ›Vertikalspannung‹ und der ›Sezession‹ wie den der zynischen Vernunft für meine Zwecke entwende.« (S. 53) Es geht hier um den Sesselfurzer Sloterdijk, dessen reaktionäre Vorstöße zur Abschaffung des Steuer- und Sozialstaats zwecks Wiedereinführung einer »aristokratischen Kultur der Gabe« immer noch irgendwelche Feuilletonisten für »Philosophie« halten. Seine hier geäußerte Ansicht – man könne die politischen Implikationen von Begriffen abstreifen und sie für die eigenen Zwecke »entwenden« – exerziert Thomas Seibert im vorliegenden Buch in Schleifen immer wieder durch. Er zitiert alle und alles, was sich zitieren lässt, von Aristoteles über Marx bis Heidegger, Nietzsche, Negri, Foucault, Fanon, Deleuze, Derrida, Vaneigem, um hier mal nur eine wirklich sehr kleine Auswahl preiszugeben. Und obwohl er im Kapitel »Fragen der Methode« (S. 61-66) die Autorität Debord aufbietet, um den Unterschied von »entwenden« und »zitieren« deutlich zu machen, bleibt er beim »Zitieren« »der theoretischen Autorität«, das »Zitat geworden … (zum) aus seiner Epoche … gerissenen Fragment geworden ist« (Debord, zit. S. 63). Seibert vertieft keinen der vielen Gedanken, die er im Buch zitiert; seine »Originalität« besteht lediglich darin, das alles am Ende zu einem Aufruf zum Aufbau der Kommunistischen Partei zu montieren.

Seine »Thesen zum Kommunismus« gipfeln in der 27.: »Die spezifisch kommunistische Geduld und ihr unverzichtbares Anderes, die plötzliche Entscheidung, sind kein subjektives Kunststück, sondern noch immer Sache einer Kommunistischen Partei… [verstanden als] Moderate wie Radikale verbindendes Netzwerk … [das] nach Möglichkeit im Doppel einer ›kämpfenden‹ und einer ›regierenden Linken‹ operieren muss.« (S. 158 f.) Diese Kommunistische Partei sei auch dann nicht mit den diversen Linksparteien zu verwechseln, »wenn Kommunist/innen an diesen Parteien, damit auch an von diesen Parteien gestellten Regierungen teilnehmen: was einige bereits tun, andere künftig tun werden und alle, die das können, auch wollen sollten.« (S. 160) Denn »in den Medien, in Parteien, Gewerkschaften, NGOs und sozialen Institutionen – gegebenenfalls auch in Regierungen« muss nach »Offenheiten für das Ereignis bzw. einen ereignishaften Prozess gesucht werden«. (S. 163) Die KPD der 20er Jahre hat im Parlament nach dem proletarischen Umsturz gesucht, Seibert sucht nach Offenheiten in Gewerkschaften und Regierungen. So unterschiedlich die Begründungen, so ähnlich das Ergebnis, Gesuchtes nicht gefunden!

Das Gleiten zwischen Staat und Autonomie

Moe Hierlmeier hat das Buch im ak 546 äußerst positiv besprochen und sich dabei auf die beiden Begriffe des Titels konzentriert: Krise(nanalyse) und Ereignis. Da ihm im Vorwort des Buchs gleich zweimal – u.a. als einem der »ersten Leser/innen« – gedankt wird, können wir ihn getrost als Experten nehmen (alle Zitate im folgenden Abschnitt sind aus: Moe Hierlmeier »Zuerst die Politik« in ak 546 S. 30). Hierlmeier zufolge verstehe Seibert die aktuelle Krise als »Konterrevolution« gegen den »Mai 68«. Vergessen wir für den Moment unsere Befürchtung, dass Seibert »Mai 68« lediglich als Chiffre für seine vielen situationistischen Anleihen nimmt, und verstehen wir es als die reale Sache, die damaligen weltweiten Kämpfe, Bewegungen und gesellschaftlichen Umwälzungen, dann lässt sich dem Gedanken durchaus folgen: Die kapitalistische Krisenpolitik muss sich noch immer mit diesen Ereignissen und ihren Folgen auseinandersetzen. Aber Hierlmeier macht zwei kleine Verschiebungen und schon steht die Sache auf dem Kopf.

Das genauer anzugucken lohnt deshalb, weil auch das ganze Buch mit solchen diskursiven Techniken operiert.

Eingangs gibt Hierlmeier »die aktuelle Krise geht in der politischen Ökonomie nicht auf« als eine zentrale These von Seibert aus. Dem ist zuzustimmen, denn die Krise geht viel tiefer als ein Konjunkturabschwung, berührt gesellschaftliche und moralische Fragen. Hierlmeier fährt aber fort: »Der ökonomischen Krise entspricht noch lange keine ethisch-politische Krise. Dies verweist auf die Krise des subjektiven Faktors.« Womöglich macht jeder dieser drei Sätze Sinn, aber sie ergeben sich nicht auseinander, zwischen dem ersten und dem zweiten liegt sogar ein logischer Bruch. Aber mit schnellen Schritten ist Hierlmeier schon wenige Sätze später dort, wo er hinwollte: »Die Krise ist vor allem eine Krise des subjektiven Faktors«. Und für die braucht man natürlich die ganzen Spezialisten von Sloterdijk bis Nietzsche und von Heidegger bis Derrida. »Seibert macht deutlich, warum die Engführung des Marxismus mit Nietzsches Nihilismus und Heideggers Existenzial- und Fundamentalontologie auch heute noch unverzichtbar für eine Krisenanalyse auf der Höhe der Zeit ist.« Den Marx »engführen« mit Nietzsche und Heidegger? Wollte Hierlmeier hier nicht das Gegenteil sagen? Egal, »auf der Höhe der Zeit« klingt immer gut – auch wenn's dann gleich wieder ins Zeitlose abgleitet: »Die messianische Denkfigur des Ereignisses ist für jedes linke, radikale Denken unverzichtbar«, und der Gesalbte knietief in Realpolitik steht. Um diese zu begründen, werden mal wieder Benjamins Geschichtsthesen aufgerufen – und erbärmlich in ihr Gegenteil verstümmelt. Benjamin habe darauf hingewiesen, »wie sehr ein linearer Fortschrittsbegriff die Sozialdemokratie hilflos gegenüber dem Faschismus gemacht hat.« Die Sozialdemokratie hat die revolutionäre Arbeiterklasse 1918 auch militärisch bekämpft und vorher und nachher jeweils mit Parlamentarismus und Fortschrittsglauben hilflos gemacht. Aber Hierlmeier will uns allen Ernstes einreden, die Alternative in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die zwischen Sozialdemokratie oder Faschismus gewesen. Infam, sich dafür auf Benjamin zu berufen! Wie sehr sowohl Seibert als auch Hierlmeier ihre realpolitische Lektion gelernt haben, drückt sich auch stilistisch aus im routinierten Gebrauch von Floskeln wie »bis dahin muss getan werden, was getan werden muss« (Hierlmeier) oder »man wird sich zu helfen wissen« (Seibert).

Hierlmeier und Seibert hatten den Offenen Brief1 an die Linkspartei mit unterschrieben. Hierlmeier hatte das in der jungle world mit dem Argument verteidigt: »Die Linkspartei könnte zu einem Katalysator dieses Bruchs werden, der in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. … Welche Möglichkeiten sich mit der Linkspartei für eine außerparlamentarische Linke ergeben, lässt sich nur bestimmen, wenn man den Spielraum auslotet.« Dabei hatte er auf die seiner Ansicht nach sehr positive Zusammenarbeit der Rifondazione mit den »sozialen Bewegungen« in Italien verwiesen. Wäre heute ein Nachdenken drin, gar ein Umdenken, wo die Rifondazione so eklatant gescheitert ist? Buch und Besprechung sind deutliche Hinweise, dass Nein! Beide sind an ihre Realpolitik genagelt wie der Gesalbte ans Kreuz und keineswegs »offen« für Lernprozesse.

Ganz großer philosophischer Popanz. »Hier beginnt das Wächter/innenamt der Philosophie, … auch sie ist konstitutiv aristokratischen Wesens« (S. 165). Eine Seite später bestimmt sie sogar, was Wahrheit ist… Aber eigentlich will Seibert am Ende all seiner diskursiven Pyrotechnik doch nur sagen können: »Es ist gut, wenn die IL maulradikal ist und gleichzeitig auf Regierungsbeteiligung hinarbeitet.« Wenn jeder Schuld hat (S. 162: »die Partei wie ihre Militanten (laden) auch dann Schuld auf sich, wenn sie sich – was de facto nie der Fall sein wird – nichts vorzuwerfen haben«), macht es auch nichts, wenn die IL mit Bullen zusammen gegen den Schwarzen Block vorgeht.

»Die Zeit des Gleitens zwischen Kalkül und Ereignis, zwischen Staat und Autonomie ist dann aber … die Krise selbst…« (S. 163)

Eben.


Fußnoten:

[1] Der »Offene Brief an die Linkspartei« wurde 2005 von FelS kurz vor der vorgezogenen Bundestagsahl verfasst und von verschiedenen linken Gruppen und Einzelpersonen unterzeichnet. Er begrüßt die Parteiforderung nach der Abschaffung von Hartz IV und einem Existenzgeld und verlangt nach einer Positionierung gegen die Diskriminierung von MigrantInnen. In erstaunlicher Offenheit wird außerdem die Hoffnung auf eine Verbesserung »der Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit« über die Partei ausgedrückt, sprich auf Jobs und Zuschüsse. Der Brief war ein Bekenntnis weiter Teile der Linken zu Reformismus und Parlamentarismus, Ausdruck grandioser Selbstüberschätzung (»Wir … waren auf die eine oder andere Weise an nahezu allen linken Bewegungen, Mobilisierungen, Kampagnen und Protesten der vergangenen Jahre beteiligt«) und konstituierendes Moment für die »Interventionistische Linke«



aus: Wildcat 86, Frühjahr 2010



[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: Wildcat #86 – Inhalt Artikel im Archiv Gesamtindex