Wildcat Nr. 86, Frühjahr 2010 [Pathways]
Pathways
Giovanni Arrighis Verschlungene Pfade
»Die verschlungenen Pfade des Kapitals« heißt ein Ende 2009 bei VSA erschienenes Buch mit drei Beiträgen des im Juni letzten Jahres verstorbenen Giovanni Arrighi: Ein längeres Interview, das David Harvey 2009 mit ihm gemacht hat; der 2001 zusammen mit Beverly Silver verfasste Artikel Die Nord-Süd-Spaltung des Globalen Proletariats und ein Gespräch mit Peter Strotmann von 2005 Die Weltgeschichte an einem neuen Wendepunkt.1
Arrighi gehörte zu den »großen Erzählern«: neue Entwicklungen und Tendenzen des Weltsystems herausarbeiten, nach den gesellschaftlichen Ursprüngen und den Kräften der Veränderung suchen. Deshalb hat er nach 1989 wieder verstärkt Interesse gefunden, denn er lieferte Material gegen das Gerede vom »Ende der Geschichte« und wurde zum Antipoden der beiden anderen »großen Erzähler« Negri und Hardt (zu Empire und Multitude siehe Wildcat 72). Auch wir haben immer wieder auf seine Texte zurückgegriffen, auf der Suche nach »Verbündeten« gegen die Fortschrittsgläubigkeit kommunistischer Orthodoxie wie auch gegen die postmoderne Beliebigkeit des puren Nebeneinanders von Kämpfen und Identitäten. Arrighis und Beverly Silvers Suche nach Verbindungen zwischen (Klassen)Kämpfen und »ökonomischen Strukturen« des Kapitalismus, nach historischen Kontinuitäten und nach Brüchen schien uns vielversprechend und hat anregende Resultate geliefert. Umso enttäuschter waren wir über seine Aussagen auf dem Kommunismus Reloaded-Kongress 2005. Ein gewaltiges Lebenswerk schien sich am Ende in dem Versuch zu verdichten, eine greifbare politische Alternative zu formulieren, auch wenn dies sehr widersprüchlich blieb. Welche Thesen zur aktuellen Krise und welche damit zusammenhängenden Perspektiven würde er wohl in diesem Nachlass-Bändchen vertreten?
Gleich im ersten Beitrag kommen David Harvey und Giovanni Arrighi auf Arrighis Krisenartikel von 1972 2 und dessen Entstehung zu sprechen:
»(…) [Wir] konnten sowohl mit den Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika wie mit den ArbeiterInnen in Italien [zusammenarbeiten]. Die Artikel über die kapitalistische Krise stammen aus solch einem Austausch im Jahre 1972. Den Arbeitern hatte man gesagt: ›Jetzt gibt es eine Wirtschaftskrise, wir müssen ruhig bleiben. Wenn wir weiter kämpfen, werden die Fabrikjobs woanders hingehen.‹ Also fragten uns die Arbeiter: ›Befinden wir uns in der Krise? Und wenn es so ist, was bedeutet das für uns? Sollen wir uns deswegen einfach ruhig verhalten?‹ Die Artikel beginnen mit: Krisen tauchen auf, ob ihr kämpft oder nicht – sie sind keine Folge der Arbeitermilitanz oder von ›Fehlern‹ des Managements, sondern gehören untrennbar zur Funk-tionsweise der kapitalistischen Akkumulation dazu«. (Die verschlungenen Pfade, S. 17)
Im hier erwähnten Text Towards a Theory of Capitalist Crisis (nicht ins Deutsche übersetzt) ent-wickelt Arrighi mit Marxschen Begriffen eine historische Theorie der Krise, die den Klassenkampf mitdenkt. Dazu unterscheidet er zwei Krisenarten: Realisierungskrisen (die Ausbeutungsrate ist zu hoch, der Mehrwert wird nicht in Gänze als Profit realisiert) und Akkumulationskrisen (die Ausbeutungsrate ist zu gering, deshalb fällt die Profitrate). Im ersten Fall fällt die Profitrate aufgrund von Überproduktion, im zweiten Fall führt die fallende Profitrate zu Überproduktion (weil die Kapitalisten weniger Produktionsmittel nachfragen). Mit diesem Schema kann Arrighi die historischen Krisen 1873-1896, 1929-1936 und ab Anfang der 1970er Jahre (von hier aus ist der Artikel geschrieben) einordnen.
Für die Krise 1873-96 stellt Arrighi eine kontinuierlich fallende Profitrate fest. Den Grund dafür sieht er in dem noch geringen Konzentrationsgrad des Kapitals; es hatte noch nicht die Macht, die Arbeiterklasse an beiden Fronten, den Löhnen und den Preisen, anzugreifen.
Das geschah dann in der Krise der 1930er: Abbau von Produktionskapazitäten, hohe Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne und steigende Preise. Somit eine tendenziell steigende Ausbeutungsrate und in der Konsequenz gegen Ende der 1930er Jahre Überproduktion als hervorstechendes Merkmal der Krise.
In der zu Beginn der 1970er Jahre einsetzenden Krise fällt die Profitate und die Löhne steigen. Die Arbeiterklasse wehrt sich gegen die Erpressung durch Arbeitslosigkeit. Das lässt dem Kapital nur einen Ausweg: Ausweitung des Weltmarkts und Industrialisierung der Welt in Lateinamerika, Indien und Asien. Somit ist die Krise der 1970er Jahre laut Arrighi zum ersten mal eine Krise, die durch die notwendige Einbindung der Arbeiterkämpfe, bzw. durch die dadurch anfallenden Kosten, und die dadurch fallende Profitrate bestimmt ist. Gleichwohl bleibt er schon 1972 allen Versuchen gegenüber skeptisch, diese »gestiegene Arbeitermacht« direkt in politische Organisierung zu übersetzen. »Ökonomische« Kämpfe der ArbeiterInnen seien nicht immer gleich politische Organisierung. Diese Skepsis schützt ihn vor den Beliebigkeiten, die er später an Hardt/Negri kritisiert, aber die im Zitat erwähnte »Arbeitermilitanz« wird in seiner Fassung der Krisentheorie schnell wieder zur puren ökonomischen Kategorie.
Harvey und Arrighi diskutieren dann über den Unterschied zwischen der Krise 1973 und der aktuellen Krise: Beide begannen mit fallenden Profitraten, aber in der Zwischenzeit hat die Konterrevolution von Reagan und Thatcher »eine industrielle Reservearmee geschaffen«, die Arbeitslosigkeit konnte erneut als Erpressung eingesetzt und der Charakter der Krise verändert werden: In den 1990er Jahren entwickelte sie sich zur »Überproduktionskrise aufgrund eines systemischen Mangels an effektiver Nachfrage…«. (edb. S. 33)
Die »Effektive Nachfrage« ist beliebtes Thema der Volkswirtschaft, vielleicht hängt es mit dieser Krisenbeschreibung zusammen, dass – entgegen dem eigenen Ansatz – die Nationalstaaten fast schon als Subjekte der Geschichte betrachtet werden:
»Lateinamerika erhebt sich jetzt gegen die US-Ökonomie, unter anderem weil China als Alternative gesehen wird. … [Heute] gibt es eine Alternative. Indien, Südafrika und Brasilien haben die gesamte Hochtechnologie, die sie brauchen. China finanziert die USA, die haben dort das Kapital, und auch all die Arbeitskräfte und die natürlichen Ressourcen, die sie brauchen. Es ist also eine neue Situation entstanden. Abkopplung ist nicht mehr die einziger Frage, denn sie koppeln sich ab, aber sie verbinden sich auch untereinander und stärken sich gegenseitig in Bezug auf den Norden, und dadurch veranlassen sie den Markt, in ihrem Interesse zu handeln« (edb. S.85)
In der steigenden »organischen Zusammensetzung« des Kapitals ist der Klassenkampf am Wirken. Auch deshalb werden unsere Vorstellungen einer Revolution heute anders aussehen als in den 1970er Jahren oder 1917. Arrighi scheint in der »organischen Zusammensetzung« vor allem die Konkurrenz am Wirken zu sehen und greift deswegen zur »Fleißrevolution«:
»Was Marxisten häufig vergessen: Marx' Idee der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und der dadurch fallenden Profitrate hängt eng mit der Tatsache zusammen, dass die Anwendung von mehr Maschinerie und Energie die Konkurrenz unter den Kapitalisten dermaßen intensiviert, dass das Kapital weniger profitabel und gleichzeitig ökologisch zerstörerisch wird. … die Trennung des Managements von den Arbeitern, die zunehmende Beherrschung der Arbeiter durch das Management und der Umstand, dass die Arbeiter ihrer Fähigkeiten, einschließlich der Selbstorganisation, beraubt werden – was alles typisch für die industrielle Revolution ist – [stößt] an Grenzen. In der Fleißrevolution werden die Ressourcen des Haushalts mobilisiert, wodurch die organisatorischen Kompetenzen innerhalb der Arbeiterschaft weiterentwickelt oder zumindest erhalten werden.« (edb. S.37)
Seit einigen Jahren diskutiert Arrighi folgerichtig den »chinesischen Weg« als politische Alternative – am deutlichsten im 2008 auf Deutsch erschienenen Adam Smith in Bejing 3. Hier wurde zwar oft zurück gerudert, meist verknüpft mit dem Hinweis, es wäre noch offen, ob die chinesische Marktwirtschaft eine kapitalistische werde, und dass dies natürlich auch von den Kämpfen der Arbeiter- und BäuerInnen abhängen würde… Wenn wir aber seine materielle Begründung ins Auge fassen, wie sie sich kondensiert im zweiten oben angeführten Zitat findet, die »Fleißrevolution«, dann lässt sich durchaus eine Richtung in den pathways seines Denkens ausmachen. In Adam Smith in Bejing begründet u.a. die »Fleißrevolution«, warum der chinesische Weg historisch ein anderer »Entwicklungspfad« war (weniger expansiv, weniger militärisch…). Auch heute mobilisiere China »menschliche statt nichtmenschliche Ressourcen«, wie man an den TVEs (Township und Village Enterprises) und am Überwiegen der Handarbeit in den chinesischen Fabriken sehen könne.
Was die TVEs betrifft, ist diese Darstellung allerdings nur bis in die 1990er Jahre schlüssig, als diese die »überschüssige Arbeitskraft« auf dem Land hielten (»Das Dorf verlassen, ohne das Land zu verlassen«). Die einschneidenden Veränderungen unter dem Privatisierungsdruck seit Ende der 1990er Jahre nimmt Arrighi nur am Rande in den Blick.
Er will immer wieder darauf hinaus, dass es nicht billige Arbeit per se ist, die den chinesischen Vorteil ausmache, sondern eine »billige, gut ausgebildete Arbeitskraft«. Hierzu bringt er eine Illustration aus der Automobilfabrik Wanfeng, wo »kein einziger Roboter zu sehen ist« und die »Fertigungstrassen von einer großen Zahl junger Männer besetzt sind, frisch aus Chinas expandierenden technischen Hochschulen eingetroffen und mit wenig mehr als großen elektronischen Bohrern, Schraubenschlüsseln und Gummihämmern ausgestattet sind:
»Motoren und Karosserien, die sich in einer westlichen, koreanischen oder japanischen Fabrik auf automatischen Förderbändern von Station zu Station bewegen würden, werden von Hand und per Sackkarre befördert. Aus diesem Grund kann Wanfeng seinen handgemachten Luxusjeep Tributes im Nahen Osten für 8000 bis 10 000 Dollar verkaufen. Statt viele Millionen Dollar für teure Maschinen auszugeben, um Autos zu bauen, verwendet die Firma äußerst kompetente Arbeiter, deren Jahreseinkommen weniger beträgt, als das Monatseinkommen von neu Angestellten in Detroit.« (Fishmann 2005, in Adam Smith in Beijing, S.453)
Die »Fleißrevolution« scheint uns ein Rückfall in die beliebten Mao-Parolen zu sein (»Wir sind viele und können Berge versetzen«) – deren sympathische Aussage »Wir sind es, die Arbeiter und Arbeiterinnen, die die Welt bauen!« auch schon damals die elende Schufterei von vielen Millionen ProletInnen ideologisch verbrämte. Auch das chinesische Wachstumsmodell seit Deng Xiaoping basierte auf extrem niedrigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft, niedrigen Löhnen und Zinsen, geringen Kosten fürs Sozialsystem. Es ist überraschend, dass der Kritiker des globalen Weltsystems diese Gründe des chinesischen Aufstiegs ideologisch verklärt und dann auch noch zum Ausgangspunkt einer politischen Alternative macht. Die Abhängigkeit von den Exporten (in die EU und die USA) und amerikanischer Kreditschöpfung (»Chimerica«, siehe Wildcat 84 und 85) beschreibt er als »Abkopplung«, die prekäre Reproduktion der chinesischen Arbeitskraft, die arbeitsintensive Grundlage der chinesischen Entwicklungsdiktatur - als Wunder der »Fleißrevolution«.
Arrighis historische Untersuchungen hatten selten einen genauen Blick auf die »verborgene Stätte der Produktion«. Als Harvey ihn nach seinen Einwänden gegen Adam Smith fragt, antwortet er zu meiner Überraschung mit: »Dieselben, die Marx ihm gegenüber hatte.« Und führt aus: »Marx kritisiert an Smith, dass er nicht verstehe, was an der ´verborgenen Stätte der Produktion´ passiert – die Konkurrenz unter den Kapitalisten mag die Profitrate drücken, aber dem wirkt die Tendenz und die Fähigkeit entgegen, in der Beziehung zur Arbeiterklasse die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern« (Die verschlungenen Pfade, S. 35). Somit wird die Arbeiterklasse zur ökonomischen Kategorie, der Klassenkampf zum Puffer für die Auswirkungen der kapitalistischen Konkurrenz, das Kapital zum Subjekt der Geschichte, der Klasse immer eine Nasenlänge voraus. Es schnürt einem richtig den Atem ab, wie Arrighi hier Marx missversteht und auf den Kopf stellt. Es geht nicht darum, Arrighis Ausführungen zur »Fleißrevolution« und »smithschen Marktgesellschaft« einfach den Hinweis auf den Klassenkampf entgegenhalten. In den letzten Jahrzehnten ist ein globaler Arbeitsmarkt und »objektiv« eine weltweite Arbeiterklasse entstanden, und ohne breite Kämpfe wird es zu einer weiteren Verschärfung entlang der internationalen Arbeitsteilung und/oder der »Nord-Süd-Spaltung« kommen. Wir stehen vor den offenen Fragen, an welchen Punkten solche Kämpfe überhaupt entstehen, welche (neuen) Organisationsformen es geben wird, und was dabei »unsere« Aufgaben sind. Hinter die Frage nach der globalen Arbeiterklasse, wie sie Arrighi schon 1972 aufgeworfen und in den letzten Jahren weggeschoben hat, können wir nicht zurück. ■
Fußnoten:
[1] Wir haben uns mit »der Krise« und der »chinesischen Perspektive« zwei aktuelle Punkte aus dem Buch herausgepickt. Zwischen den beiden Gesprächen findet sich mit dem Artikel die Nord-Süd-Spaltung des Globalen Proletariats ein Artikel, der in relativer kurzer Fassung die Hauptthesen von Giovanni Arrighi und Beverly Silver bringt.
[2] Auf http://www.soc.jhu.edu/people/Arrighi findet sich der hier erwähnte englische Text zur Krise von 1972. Siehe die Bibliographie in Die verschlungenen Pfade des Kapitals
[3] Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. VSA Verlag 2008
aus: Wildcat 86, Frühjahr 2010