Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 (Vorabdruck)
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Im Vorhof der Hölle
Die Wirtschaft ist in der Krise, so wie es sich in einem wirtschaftlichen Krisengebiet gehört
Elfriede JelinekManchmal, Stimpy, staune ich über dein reiches Unwissen!
Ren HoekStatistik von Credit Action UK, Februar 2010:
Jeden Tag werden 1841 Beschäftigte entlassen
(auf dem Höhepunkt im August 2009 waren es 3300 pro Tag),
alle 11,4 Minuten wird eine Wohnung zwangsgeräumt,
alle 3,69 Minuten meldet jemand Privatinsolvenz oder Bankrott an,
jeder Haushalt hat durchschnittlich 58.040 Pfund Schulden,
jeden Tag steigt die Staatsverschuldung um 384,9 Millionen Pfund.
Im April 2009 gab das britische Justizministerium Pläne für den Bau einer neuen JVA mit 1500 Plätzen auf dem Gelände des früheren Ford-Werks in Dagenham bekannt.1 Besser hätte man nicht zusammenfassen können, was das Proletariat von der herrschenden Krisenpolitik zu erwarten hat. Aber am Fortgang der Geschichte zeigt sich auch die gleichzeitige Eindämmung und Vertiefung der sozialen Spannungen im Lauf des letzten Jahres. In Dagenham hat der Staat nach einer großen Kampagne des dortigen Labour-Abgeordneten und des Stadtrats letztlich im Einzelfall nachgegeben: Dieses konkrete Gewerbegebiet wird also nicht von einem Knast verschandelt, aber anderswo sind weiterhin genau dieselben Projekte geplant, und die Regierung wird ihr »Versprechen« halten und 96.000 Menschen einsperren. Die Wildcat-These vom März 2009 – »die Krisenmaßnahmen der Herrschenden zielen bisher nicht auf einen Wiederaufschwung, sondern darauf, politisch zu überleben«2 – hat sich inzwischen praktisch bestätigt. Für ArbeiterInnen und LeistungsempfängerInnen geht die materielle Verschlechterung des Lebens weiter: Hunderttausende haben Job, Lohn, Wohnung, Arbeitslosenunterstützung, öffentliche Dienstleistungen und vor allem den sicheren, zukünftigen Anspruch darauf verloren. Aber die Auswirkungen kommen zeitlich und räumlich gestreckt an und betreffen immer nur einzelne sich selbst als solche verstehende soziale Gruppen. Dementsprechend uneinheitlich waren die bisherigen Kampfversuche. Gesellschaftlich konzentrierte – und somit kollektiv erfahrbare – »Schocks« wurden auf eine nahe, aber unbestimmte Zukunft vertagt. Anscheinend ist die Erfahrung, selber von einem »aufstrebenden« (aspirational3) über einen proletarisierten zu einem »sozial ausgegrenzten« Status (den Knast vor Augen) abzustürzen, noch nicht so weit verallgemeinert, dass der verbreitete Glauben erschüttert würde, wer abstürzt, sei mindestens zum Teil selber schuld.
Bezogen auf die »Phasen der Krisenpolitik« aus den 15 Wildcat-Thesen4 scheint der britische Staat (wie andere Staaten auch, aber außerdem unter dem Druck bevorstehender Neuwahlen) soweit wie möglich »Phase 3« verlängert zu haben, in der der offene Angriff vorbereitet und »Tacheles geredet«, der Angriff selbst aber noch aufgeschoben und mit »Gimmicks« politisch Zeit gewonnen wird. So hat der Staat wie in anderen großen »finanzialisierten« Volkswirtschaften Bürgschaften für riesige Mengen privatwirtschaftlicher Schuldendienste übernommen. Dass dieser »politische Fix« wenigstens vorläufig funktioniert, hat aber auch mit besonderen Charakteristiken der hiesigen Ökonomie vor und während der Krise zu tun. Zum Beispiel:
- Ein Großteil der vor der Krise geschaffenen neuen Arbeitsplätze war im sogenannten »öffentlichen Sektor« entstanden, wo sich das Timing von Massenentlassungen weitgehend politisch steuern lässt. Dass die offizielle Arbeitslosenquote im Dezember »nur« 7,8 Prozent (2,46 Millionen) betrug, lag unter anderem daran, dass Arbeitsplätze im staatlichen Sektor erst nach den Wahlen abgebaut werden sollen. Sämtliche Parteien haben schon Maßnahmen zur Bekämpfung des Haushaltsdefizits nach den Wahlen versprochen. Dabei geht es nicht nur um direkte staatliche Arbeitsplätze im angeblich privilegierten Öffentlichen Dienst. Durch das riesige System von Public Private Partnerships, Auslagerungen und Auftragsvergaben an Subunternehmer5 waren die staatlichen Pfründe in der »Boom«-Phase zu einer wichtigen Profitquelle für die private »Dienstleistungsindustrie« geworden. Dementsprechend gab es ein Beschäftigungswachstum im »Öffentlichen Dienst« zu Bedingungen wie in der Privatwirtschaft oder in der Leiharbeit. In dieser Hinsicht könnten die aufgeschobenen, aber anstehenden staatlichen und kommunalen Haushaltskürzungen zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. In »nicht lebenswichtigen« Bereichen werden die Verträge gekürzt oder gekündigt werden, was entlang der ganzen Zuliefer-, Besitz- und Finanzierungsketten zu spüren sein wird. Gleichzeitig wird der Versuch des Staates, seine Schuldenaufnahme nicht im Budget auftauchen zu lassen, dazu führen, dass noch mehr Public Private Partnerships und Auslagerungen aus den bisher noch direkt vom Staat betriebenen Bereichen stattfinden (zuletzt war die Rede vom Jugendstrafvollzug und der Bewährungshilfe). Die Beschäftigten in diesen Bereichen rutschen also nicht direkt in die Arbeitslosigkeit, sondern ihre Arbeitsplätze rutschen vom »sicheren Öffentlichen Dienst« in einen unsicheren privaten bzw. Leiharbeitsstatus.
- Auch wenn kaum etwas vom in den Finanzsektor gepumpten staatlichen Geld in der »Realwirtschaft« angekommen ist, sind die Subventionen nicht nur als Profite bei den Banken und als Bonuszahlungen bei den Bankern gelandet. Zumindest teilweise und zeitweise haben sie auch für eine Atempause bei den ganzen nachgeordneten Dienstleistungen gesorgt, die direkt oder indirekt von den als »Finanzgewinn« eingeheimsten Ansprüchen auf Wert leben: von Putzfirmen und Restaurants bis hin zu IT und PR. In einer »deindustrialisierten« Ökonomie hängt ein Großteil der verfügbaren Einkommen an diesem Recycling von Finanzströmen, besonders in London, wo viele jüngere Leute Jobs in »professionellen Dienstleistungen« für den allgemeinen Standard zu halten scheinen.
- Laut Statistiken ist das BIP und sogar die Industrieproduktion im 4. Quartal wieder ganz leicht gewachsen, allerdings nur im Verhältnis zu den beispiellosen Einbrüchen des Vorjahrs. Vor allem sind in diesem Wachstum schon sämtliche Vorteile enthalten, die die Exporteure aus der anhaltenden Abwertung des britischen Pfunds seit Ende 2008 ziehen konnten. Die von der staatlichen Verschuldung angetriebene Reflation des Geldes hat sich mit anderen Worten weitgehend erschöpft (das Quantitative Easing wurde Anfang Februar 2010 eingestellt), ohne dass ein »selbsttragender« Aufschwung des Nicht-Finanzkapitals in Gang gekommen wäre, trotz exportfreundlicher Wechselkurse und der allmählichen Erholung des Welthandels (die ja selbst nur durch die Intervention des chinesischen Staats künstlich zustande gekommen ist). »Normalerweise« würde der Umfang an Geldschöpfung zu einer Hyperinflation führen, aber dieses Geld steckt weiter in Finanzanlagen fest (anscheinend dreht sich das Rohstoffspekulationskarusell von 2007/08 bereits wieder, JP Morgan, Nomura/Lehman u.a. investieren z.B. in Energierohstoffe und deren Vorratshaltung. Das zögert den Zusammenbruch der hyperinflationierten Preise solcher Anlageformen hinaus, aber eine solidere Akkumulationsgrundlage als 2006/07/08 stellen sie deshalb trotzdem nicht dar).
- Wie Aufheben im Oktober 2009 anmerkte6, gab es im letzten Jahr einige vielversprechende Anzeichen für selbstorganisierte Kämpfe (die Visteon-Besetzungen, die wilden Streikwellen in den Raffinerien im Januar und Juni, die Schulbesetzungen in Glasgow und Lewisham (Süd-London) und die durch Belagerung und Aushungerung beendete Besetzung des Vestas-Windkraftanlagenwerks auf der Isle of Wight7), aber was angesichts der Massenentlassungen am meisten auffiel, war der »atypische« Charakter dieser Kämpfe.8 Schon vor einem Jahr wurden ArbeiterInnen unter Druck gesetzt, zur Rettung ihrer Arbeitsplätze entweder Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich (ein Kurzarbeitssystem gibt es nicht) oder – meistens – Lohnstopps zu akzeptieren. Natürlich wurden die Lohnverluste nach dem statistischen »Ende der Rezession« nicht wieder rückgängig gemacht; gleichzeitig hielt dort, wo tatsächlich (fast eine Million) Arbeitsplätze verloren gingen, die sorgfältig kultivierte Ehrfurcht vor unkontrollierbaren »systemischen« Kräften die Konfrontation nieder. Gleichzeitig gab es mehrere ernsthafte »offizielle« Streiks, meist im öffentlichen (oder am Staat hängenden) Sektor9, bei denen das Management die Krise als Gelegenheit zur Umstrukturierung nutzte, ohne dabei immer unmittelbar Arbeitsplätze in Frage zu stellen.10 Bei der Royal Mail kamen vertrauliche Unterlagen der Geschäftsführung an die Öffentlichkeit, laut denen geplant war, »zu beweisen, dass Streiks nicht funktionieren«, indem man selbst einen Streik provozierte. Nach wochenlangen rollierenden Streiks und tageweisen Vollstreiks sah es einen Moment lang eher so aus, als ließe sich das Gegenteil beweisen, bis die Communications Workers Union den Vorteil verschenkte und sich darauf einigte, den Streik über Weihnachten »auszusetzen«. [Mitte März ist er noch immer »ausgesetzt«.]
- Die Müllabfuhr in Leeds streikte drei Monate lang (von September bis November) gegen den Versuch, mit Hilfe gesetzlicher Vorschriften über »equal pay« dort die Löhne um 4000 bis 6000 Pfund pro Jahr zu senken. Letztlich konnte für einen Großteil der Beschäftigten die Rückkehr zum alten Lohn durchgesetzt werden, allerdings nur in Verbindung mit Produktivitäts-Vorgaben. Fast überall im Lande führen die Kommunalverwaltungen gerade ähnliche Maßnahmen ein oder planen dies.11
- Im Bildungssektor gab es unterschiedlich viel realen oder symbolischen Widerstand gegen geplante Kursstreichungen, Erhöhung des Arbeitstempos, Entlassungen und »freiwilligen« Arbeitsplatzabbau bei einer Institution nach der anderen vor dem Hintergrund »lokaler« Haushaltskrisen. Ein unbefristeter Streik der Englisch-als-Fremdsprache-LehrerInnen am Tower Hamlets College bekam breite Unterstützung von anderen College-Beschäftigten, Studierenden und AnwohnerInnen und ging dann nach vier Wochen mit einem begrenzten und ambivalenten Abschluss zuende, der Entlassungen ausschloss und von der Gewerkschaft UCU und der SWP als »Sieg« gefeiert wurde.12
- Nach den Reaktionen auf einen 48-stündigen Streik bei der Londoner U-Bahn zu schließen, hat die Krise leider kaum etwas an der »Bauch«-Wahrnehmung der realen Interessenlagen geändert. Die »öffentliche« Empörung über Streiks im Verkehrsbereich wird immer übertrieben dargestellt und knallhart von den Medien gesteuert, aber ein Streik gegen Entlassungen14 im Juni 2009 hätte eigentlich zum Kristallisationspunkt für die Krisenängste werden müssen. Das wurde er auch, aber niemand (außer den paar UnterstützerInnen, die – zum ersten Mal auf ausdrückliche Einladung der Gewerkschaft RMT – an den Streikposten auftauchten) kam auf die Idee, dass die Fähigkeit von relativ starken Beschäftigtengruppen, Widerstand gegen die Kürzungen zu leisten, jetzt mehr denn je im allgemeinen Klasseninteresse liegen könnte. Stattdessen meinten die meisten: »Haben die nicht mitbekommen, dass wir eine Krise haben? Wir anderen müssen doch auch Opfer bringen, warum sollen die das nicht auch tun!«
Natürlich beruht dieser Eindruck von der »öffentlichen Meinung« eher auf Einzelfällen, und vielleicht ist solche unverschämte Antisolidarität auch in London, wo Reichtum und Ignoranz geballt auftreten, besonders weit verbreitet.15 Aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass die »Phasen 1 bis 3« der Krise bisher kaum etwas an der weit verbreiteten Einstellung geändert haben, das natürliche Verhältnis von Lohnarbeitern untereinander (ob individuell oder in Gruppen, z.B. nach Nationalität oder Arbeitgeber) sei ein Konkurrenzverhältnis und Erfolg oder Scheitern in diesem Wettbewerb eine Frage der Leistung. In Schottland musste sich der stellvertretende Erste Minister der SNP (Scottish National Party) dafür entschuldigen, dass er »unangebrachterweise« gesagt hatte, man sollte »Sozialhilfebetrüger« nicht in den Knast stecken. Die Gewerkschaften wetterten gegen die Bonuszahlungen bei den Banken, sagten aber kein Wort darüber, dass »leistungsbezogene Bezahlung« für alle außer den leitenden Angestellten die Durchsetzung von Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen bedeutet.16 Auch nach dem Absturz der Immobilienpreise gilt als Überlebensgrundlage immer noch nicht etwa der Lohn, sondern der »Besitz« von Immobilien, und zwar auch bei Leuten, die keine Immobilien haben oder deren Immobilien weniger wert sind als ihre Hypothekenschulden (»negative equity«). Das Wahlversprechen der Tories, das Defizit zu senken (d.h. die Gehälter im Öffentlichen Dienst, die Renten und alle Sozialleistungen zu kürzen), um die Hypothekenzinsen niedrig zu halten, wurde nämlich ganz offen als »populistische« Strategie formuliert, die auf die nicht verarmten WählerInnen aus der Arbeiterklasse abzielt17 (in Fokusgruppen-Statistiken wird diese Zielgruppe »Autobahnmann« genannt: Londoner Vorortbewohner, die immer noch einen Arbeitsplatz sowie Kinder, Auto und Aufstiegshoffnungen (aspirations) haben).
Aber auch wenn gesellschaftliche Einstellungen aus der Zeit vor der Krise während dieser künstlichen Periode ökonomischer Pseudo-»Normalität« hartnäckig fortbestehen, so heißt das nicht unbedingt, dass der »politische Fix« funktioniert hat, wenn damit gemeint sein soll, dass der Bestand der kapitalistischen Institutionen auch in Zukunft gesichert sei. Der oft gehörte Spruch von der »Vergesellschaftung der Verluste« wird konkrete Bedeutung bekommen, sobald die vom Staat im Namen der »Gesellschaft« übernommenen Belastungen an die Arbeiter- und vom Staat abhängige Klasse weitergegeben werden und Dinge, die bis dahin üblicherweise zum materiellen Bestand der gesellschaftlichen Reproduktion gehörten, zu verschwinden beginnen.18 Da »Einstellungen« auch Erwartungen beinhalten, wird der kollektive Schock vielleicht umso brutaler, wenn die Grundlage des konkurrenzorientierten persönlichen Aufsteigertums (aspiration) sich im Rückblick als lange aufrechterhaltene Illusion herausstellt.
Während des Aufschubs, den der Staat dem Kapital auf unsere Kosten verschafft hat, wurden teilweise schon Vorbereitungen auf dieses gesellschaftliche Trauma erkennbar, die man allerdings nicht für allzu durchgeplant halten sollte: Einige institutionelle Akteure glauben vielleicht sogar ernsthaft an eine »Erholung der Wirtschaft«! Seit einiger Zeit wird oft davon geredet, dass in Zukunft »kollektive Opfer gebracht« und »gemeinsam Verzicht geleistet« werden müsste, oft mit Hinweis auf die Bombardierung Londons im Zweiten Weltkrieg, aber es wird sich zeigen, ob das ohne Widerstand durchgeht, wenn die ökonomische Bombardierung tatsächlich im Hier und Jetzt stattfindet. Konkrete Details zur »Verzichtspolitik« (oder Strukturanpassungsmaßnahmen) gibt es kaum, aber manchmal wird kurz etwas sichtbar, was sich in eine »kommunitaristische« und besonders gern »grüne« Moral kleidet. So schlägt Labour ein »genossenschaftliches«19 Modell für die Gemeindeverwaltung vor (in einem Land, in dem Sozialstaat, Wohnungsbau, Schulen und andere grundlegende staatliche Aufgaben von den Gemeinden erledigt werden): Im Prinzip liefe das auf ständigen Streikbruch durch »Community-Gruppen« hinaus, die die Arbeit, für die zuvor jemand von der Gemeinde bezahlt wurde, »freiwillig« umsonst machen würden (Vorschlag fürs Branding: »Schaufel Dir Dein eigenes Grab«). Ganz allgemein werden vom Staat aufgegebene Funktionen freigegeben, um von privaten Investoren günstig abgegriffen zu werden (ob durch weitere Auslagerungsaufträge oder direkte Privatisierung), wobei der Staat durch die finanzielle Reflation auch noch die Kosten trägt. Die Finanzmedien sagen schon einen neuen Private Equity Boom voraus, denn sie erwarten, dass das frisch gedruckte Geld in die Übernahme von »notleidendem« öffentlichen und privaten Eigentum investiert wird und dabei vielleicht sogar irgendwelche Arbeitsplätze zu mit dem Weltmarkt »abwärtskompatiblen« Bedingungen geschaffen werden. So stehen Blackstone, Tesco und Virgin schon in den Startlöchern, um günstig ins Privatkunden-Bankgeschäft einzusteigen. Man kann sich auch leicht vorstellen, dass kapitalkräftige Firmen »notleidende« Immobilien einsacken, wenn steigende Hypothekenzinsen eine Welle von Zwangsversteigerungen auslösen. Auch die Renten werden mit Sicherheit unter Druck geraten, denn die betrieblichen Rentenfonds in der Privatwirtschaft sind durch »zeitliches Aussetzen« des Arbeitgeberzuschusses und Verluste an der Börse ausgeblutet und die »Rentenansprüche« im Öffentlichen Dienst stehen schon jetzt politisch unter Beschuss. Unterdessen hat die Regierung gerade den Manager eines liquidierten Hedgefonds als Chef des neuen quasi-obligatorischen Systems der »persönlichen Konten«20 eingesetzt.
Bestimmte andere Entwicklungen werden öffentlich nie mit der Krise in Verbindung gebracht, wirken aber trotzdem wie eine Vorbereitung auf eine Phase von »gesellschaftlichem Ausschluss« für große Teile der Bevölkerung. In wenigen Bereichen haben Public-Private-Partnerfirmen solche Zuwachsraten wie bei der Verwaltung der »hard-to-reach«21 Bevölkerung. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Strafjustiz, Pflege, Ausbildung und Sozialstaat immer mehr, auf allen Ebenen werden von denselben Vertragsfirmen (Serco, G4S, Sodexo) die gleichen Methoden (unbezahlte »Sozialstunden« [community service], kognitive Verhaltenstherapie, Drogen- und Alkoholtests) angewandt. Auch die verschiedenen bewaffneten Bereiche verschmelzen zunehmend: Nachdem BAE Systems kürzlich bei der Vergabe eines Auftrags über militärische Drohnen für Afghanistan leer ausging, bekam die Firma zum Trost einen Auftrag über die Lieferung von Sicherheitsdrohnen für den Luftraum über Manchester. Gleichzeitig gibt es ja weiterhin die traditionellen »Sicherheitsventile« für die, die sonst keinen Job finden: Immer mehr Leute gehen zur Armee, sogar in großen Städten, wo die Werbebüros in einkommensschwachen Vierteln Video-Kriegsspiele einsetzen.22
Diese Vorkehrungen scheinen in erster Linie darauf abzuzielen, eine wachsende, aber chaotische und unorganisierte »Unterklasse« in Schach zu halten. Wie ernst der Staat wiederum die ganz anders geartete Gefahr eines »politischen« Hooliganismus nimmt, ist nicht so klar, aber auf jeden Fall hat er sich bereits ein noch nie dagewesenes Arsenal an angeblich gegen den militanten Islam gerichteten politischen und Sicherheitsgesetzen geschaffen. Die vielleicht effektivste »Vorkehrung« gegen alle politischen Bedrohungen von seiten der Klasse hat sich aber bereits über Jahre hinweg entwickelt, nämlich die Umleitung des klaren und zutreffenden Gefühls der ansässigen Arbeiterklasse (einschließlich der Kinder von Immigranten), enteignet zu werden, in Wut gegen erst kürzlich zugewanderte »Konkurrenten« auf dem Arbeitsmarkt. Die Linke schafft es nicht, die Verbindung zwischen dieser Enteignung des Klassenhasses und der völligen Aneignung des »Antirassismus« durch die Klassenherren der angeblich »rassistischen« ArbeiterInnen herzustellen.
Der »Antirassismus« ist fast die einzige Ideologie, zu der die bürgerlichen Nutznießer der Enteignung der Arbeiterklasse sich einstimmig bekennen, somit bedeutet die Ablehnung der antirassistischen Ideologie eine Ablehnung der bürgerlichen Antirassisten. Insofern funktionieren die zuletzt eingewanderten ProletarierInnen praktisch als menschliche Schutzschilde für die reale Enteignung durch antirassistische Kapitalbesitzer, Arbeitgeber, Manager usw. Dieser Mechanismus ist wohlbekannt, aber es sollte gerade jetzt noch einmal betont werden, wie sehr er dazu beiträgt, Klassenrandale zu spalten und zu unterlaufen, denn die staatlichen Bemühungen, die Kosten der Krise zu »nationalisieren«, haben es viel wahrscheinlicher gemacht, dass die Kämpfe in der lang aufgeschobenen »Phase 4« »politisch« sein werden.
Fußnoten:
[1] Das Fordwerk mit früher einmal 40.000 ArbeiterInnen wurde 2002 dicht gemacht. Zur Geschichte der explosiven ArbeiterInnenkämpfe im Werk siehe Ferruccio Gambino, »Workers' struggles and the development of Ford in Britain«,
[2] Siehe »Thesen zur globalen Krise« Wildcat 83, Frühjahr 2009
[3] Als aspirational bezeichnen Soziologen, Politiker und Journalisten Menschen oder 'hart arbeitende Familien', die sozial aufsteigen wollen. Der rhetorische Effekt wird verstärkt dadurch, dass auf Englisch sowohl ein Subjekt als auch ein Objekt »aspiration« haben kann. (Luxuskonsumgüter werden auch als aspirational bezeichnet – auf Deutsch müssten wir dann sagen »erstrebenswert«). 'aspirationale' Individuen bersten vor aspiration und setzen damit ein gesundes Beispiel für niedriger stehende ProletarierInnen.
[4] »Thesen zur globalen Krise« Wildcat 83, Frühjahr 2009
[5] Siehe James Heartfield, »State Capitalism in Britain«.
[6] »The red shoots of resistance?«, Aufheben 18. Online unter http://libcom.org/aufheben/.
[7] Zu Visteon siehe »Ein post-fordistischer Streik«, Wildcat 84, Sommer 2009. Zu Berichten über die zweite wilde Streikwelle in den Raffinerien siehe einen Artikel auf libcom. Dieser Artikel enthält auch Links zu früheren Medienberichten. Zu den Schulbesetzungen siehe dieses Forum mit Links zu älteren News-Posts. Zu Vestas siehe diesen Link.
[8] Siehe den bereits erwähnten Aufheben-Artikel.
[9] Ein relativ seltener Arbeitskampf im Privatsektor fand bei British Airways statt, wo das Flugbegleitpersonal entschlossen war, zur Waffe des Weihnachtsstreiks zu greifen, um die Verringerung der Besatzungsstärke auf Langstreckenflügen zu verhindern, die laut Airline nötig war, um in der branchenweiten Profitkrise »konkurrenzfähig« zu bleiben. BA stoppte den Streik letztlich mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung, die sich angeblich gegen Verfahrensmängel bei der Urabstimmung richtete, vom Richter aber mit der Beeinträchtigung der Fluggäste usw. begründet wurde. Es folgte eine neue Urabstimmung, aber anscheinend hatte die Gewerkschaft Unite ihre Hausaufgaben gemacht und schloss von vornherein einen Streik über Ostern aus. Eine ganz große Mehrheit stimmte für Streik, also hat Unite den Streik erstmal »ausgesetzt«.
[10] Die Verweise auf die Kämpfe der jüngsten Zeit in diesem Artikel erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder auch nur korrekte Beschreibungen. Im besten Fall können sie als Hinweis auf einige im letzten Jahr sichtbar gewordene Tendenzen dienen.
[11] Siehe den Bericht auf wses.org und auf libcom. Darin auch zu ähnlichen Aktionen in Brighton, die auch im Aufheben-Artikel erwähnt werden.
[12] Zum Streik am Tower Hamlets College siehe hier. Mehr zu Kämpfen im Bildungssektor im Bereich »education and learning« auf libcom und auf metamuteden ersten Teil einer laufenden Artikelserie.
[13] Zum U-Bahn-Streik und den Reaktionen siehe The Commune.
[14] Bei der ehemaligen Metronet, einer im Zuge von Public Private Partnerships auslagerten Wartungs- und Dienstleistungsfirma, die nach nicht allzu langer Zeit in Insolvenz ging und dann teuer re-kommunalisiert wurde.
[15] Kommentare in Internetforen über den Müllabfuhrstreik in Leeds kamen alle aus der direkten Umgebung, da sonst fast nirgends davon berichtet worden war. Einerseits wurden dabei Einstellungen laut, wie sie gegen die Streikenden bei der Londoner U-Bahn geäußert worden waren, andererseits gab es Solidaritätserklärungen, oft von anderen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, die selbst mit ähnlichen Angriffen rechnen.
[16] Welche Blüten diese Denkart treibt, wurde kürzlich bei einem Aufschrei über Abgeordnetenspesen sichtbar. Ein Abgeordneter hatte sich beschwert, dass er mit »ganz andersartigen Menschen« im selben Abteil sitzen müsste, wenn ihm sein Freifahrschein 1. Klasse weggenommen würde. Ein Leserbriefschreiber an den Evening Standard erklärte im Namen aller »normalen Leute«, das Unglaubliche sei nicht etwa der Horror des Politikers vor normalen Bürgern oder gar die Einrichtung von leeren 1.-Klasse-Abteilen in überfüllten, überteuerten Zügen, sondern die Vorstellung, dass der Abgeordnete für seine Spezialfahrkarte nicht selbst bezahlen müsste. Klassenprivilegien sind vollkommen in Ordnung und natürlich, solange sie eine Belohnung für Leistung darstellen.
[17] Dass diese Gleichung selbst nach orthodoxen volkswirtschaftlichen Begriffen keinen Sinn ergibt, muss uns hier nicht aufhalten. Es geht darum, dass bei den ständigen Umfragen und den Analysen der allerteuersten Politikberater herauskam, dass man mit dieser Politik bzw. mit dem direkten Transfer von Reichtum von unten nach oben am ehesten die Stimmen dieser Arbeiter gewinnt.
[18] Darüber, dass der Staat die Klasse angreifen (bzw. »den Haushalt konsolidieren«) muss und dass dies unmittelbar bevorsteht, ist sich die gesamte Mainstream-Öffentlichkeit einig. Uneinigkeit besteht höchstens über das Ausmaß und den zeitlichen Ablauf. Sehr viel umstrittener ist in der orthodoxen Debatte, wieviel der »politische Fix« an der zugrunde liegenden Akkumulationskrise ändern kann. Viele Keynesianer und einige monetaristische »Experten für kreative Zerstörung«, die alle unbedingt den Kapitalismus rettten wollen, sind überzeugt, dass der »politische Fix« überhaupt nichts bringt und die Akkumulationskrise nach dem Verpuffen des »«Stimulus« weiter mit voller Wucht die »Realwirtschaft« abwickeln wird.
[19] Manchmal ist die Rede von »John Lewis«-Gemeindeverwaltungen. Das bezieht sich auf ein im 19. Jahrhundert gegründetes Kaufhaus mit genossenschaftlicher Struktur. Passender wäre vielleicht der historische Bezug zu den genossenschaftlichen »Bausparkassen«, die um dieselbe Zeit herum gegründet wurden und sich dann in den 1990er Jahren in rücksichtslose spezialisierte Hypothekenbanken wie ... Northern Rock verwandelten.
[20] Das personal pension accounts system sorgt dafür, dass von allen Gehältern (egal ob festangestellt oder auf Zeitarbeit, Voll- oder Teilzeit etc) automatisch Abzüge gemacht werden, die auf ein an der Börse investierendes Rentensystem (stock-market based pension investment scheme) übertragen werden, außer die Gehaltverdienende verweigert explizit die Zustimmung.
[21] hard-to-reach: Ein Begriff aus dem Sozialwesen/Strafvollzug für Leute mit höchstem 'Risiko' nicht nur in Bezug auf Arbeitsdisziplin überhaupt, sondern auch auf 'fordernde' staatliche Unterstützung, die dich 'arbeitsmarktbereit' machen soll (siehe in Wildcat 84: GB: staatliche Kontrolle & proletarische Reproduktion.
[22] Es ist nicht bekannt, ob als virtuelle wehrpflichtige Feinde schon jetzt Argentinier zum Einsatz kommen, obwohl die Neuauflage der Malvinen-Pantomime doch gerade erst anläuft. Die britische Firme Desire Petroleum hat begonnen, vor den Malvinen/Falkland Inseln nach Öl zu bohren. Argentinien sagt, es werde »notwendige Maßnahmen« ergreifen, um die Bohrung in dem umstrittenen Gebiet zu stoppen. Bisher hat es die Sache vor die UN getragen und rhetorische Unterstützung von anderen lateinamerikanischen Regierungen eingeholt. Der britische Außenminister verspricht »alle notwendigen Schritte zum Schutz der Inseln«, und der Daily Telegraph berichtete am 18. Februar aufgeregt, die Kriegsschiffe seien »in Alarmbereitschaft«.
aus: Wildcat 87, Sommer 2010
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