Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 []
Antistaatliche Bewegungen und theoretische Puzzlestücke
Buchbesprechung: Raúl Zibechi: Bolivien – Die Zersplitterung der Macht
Raúl Zibechi diskutiert in seinem Buch die letzten dreißig Jahre der Geschichte Boliviens. Die Leserin ohne Vorkenntnisse wird sich mehr als einmal eine Zusammenfassung der Ereignisse oder auch nur eine Chronologie zur Orientierung wünschen. Aber Zibechi wollte nicht über Bolivien schreiben, sondern die »innere Geschichte« der Kämpfe und Bewegungen diskutieren, um einen analytisch-theoretischen Beitrag zur Diskussion mit all denen zu liefern, die »eine neue Welt schaffen wollen« (S.13). Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht El Alto, die in den letzten Jahrzehnten auf etwa eine Million BewohnerInnen angewachsene »Vorstadt« von La Paz und eines der Zentren der aufständischen Bewegung zwischen 2000 und 2005. Zibechis Bezugspunkte sind die »sozialen Bewegungen« in Lateinamerika, die Piqueteros und die Fabrikbesetzungen in Argentinien, die Zapatisten in Chiapas, die Landkämpfe in Brasilien.
Zibechi geht in der bolivianischen Geschichte bis zur Krise der »zentralisierten Entwicklung von oben« nach der Revolution von 1952 zurück. Er analysiert, wie der zeitweise diktatorisch durchgesetzte Neoliberalismus seit den 1980er Jahren die »alte« Gewerkschaftsbewegung zerschlagen hat. Und er sieht aus dieser Krise der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung ein neues Selbstbewusstsein der indigenen Mehrheit aufsteigen. Nachdem sich dieses zunächst in zentralisierten, klientelistischen, caudillistischen, letztlich »staatlichen« Formen manifestierte, bringt die dritte Migrationswelle nach El Alto (90 Prozent der heutigen BewohnerInnen sind nach 1975 dort angekommen) die Wende: Eine neue Generation setzt ihre Erfahrungen zur Wiederbelebung »kommunitärer Praktiken«, zur Neuerfindung der ländlichen Gemeinschaften (ayllus) in diesem städtischen Umfeld ein. Sie besteht aus »jungen Berufstätigen«, bereits in El Alto aufgewachsenen jungen ArbeiterInnen, Schüler- und StudentInnen, politisiert u.a. in den Kämpfen um eine »eigene« Universität, die sich mit BäuerInnen, Minen- und FabrikarbeiterInnen zusammentun. (S.147)
Zibechi sieht darin »eine ›Plebejeremigration‹, die Organisations- und Kampferfahrung mitbrachte und weite Gebiete der Stadt neu gestaltet und proletarisiert hat« (S. 37). Erst dadurch hat sie sich als anti-staatliche Bewegung konstituiert, und steht als solche seit der Wahl der Regierung Morales 2005 vor neuen Herausforderungen – im Epilog vom Mai 2008 zieht Zibechi Bilanz nach drei Jahren Morales-Regierung.
Zibechi versteht sein Buch auch als »revolutions-theoretischen« Beitrag und seziert die Bewegungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden (orthodox)marxistischen, soziologischen, postmodernen und aymara-soziologischen Mitteln. Er stellt keinen expliziten Zusammenhang zur aktuellen Debatte um »die Commons« her, es ist aber kein Zufall, dass Negri/Hardt sein Buch in Commonwealth als Bezugspunkt nehmen. Fragestellung und Antwort sind die gleichen: Was bringt die Menschen zusammen, woher kommt die Kraft gemeinsam zu kämpfen? Und wie können die Bewegungen eine anti-staatliche Perspektive festhalten? Zibechi will diese Fragen »materialistisch« beantworten, was für ihn bedeutet, die Gemeinschaften als »gemachte« zu fassen (S.29), die in »selbst kontrollierten« Produktionsformen« (S.60) wurzeln. Seine zentrale Behauptung – und Schwachstelle – besteht darin, diese gemeinschaftlichen Produktionsformen seien eine »nicht-kapitalistische Produktionsweise«, wie er auf Seite 60 zustimmend eine Studie des bolivianischen Vizepräsidenten Álvaro Garcia Linera zitiert.
Obwohl die Agrargemeinschaften, die Ayllus, sein wichtigster Bezugspunkt sind, werden sie an keiner Stelle wirklich erklärt. Er erwähnt nur immer wieder die Ämterrotation bzw. die kollektive Entscheidungsfindung. Allein in den Zitaten von Patzi3 (z.B. S.47) finden sich Hinweise auf ihren materiellen Ursprung in einer Agrargesellschaft. Ansonsten müssen wir schon tief im Fußnotenapparat wühlen: Silvia Rivera Cusicanqui2 beschreibt das Ayllu als ein System, das Tributabgaben und den Zugang zum Land im Zusammenhang mit geleisteter Landarbeit regelt. Sie kritisiert westliche Sozialwissenschaftler, die (Staats-)Linke und Marxisten, die darin nur eine inegalitäre, hierarchische »Vormoderne« sehen. Dagegen setzt sie ihr Argument, das Ayllu verwalte mit einer »reichen Basisdemokratie« knappe Ressourcen, bzw. den Zugang zu knappem Land. Weder Rivera Cusicanqui noch Zibechi stellen die Frage, wie sich diese »sozialen Strukturen« vor dem Hintergrund kapitalistischer Akkumulation (samt potentiellem »Reichtum«) verändern.
Der von Zibechi viel zitierte Soziologe Patzi Paco sieht im Ayllu über die Agrarproduktion hinaus das Modell einer rätekommunistischen, selbstverwalteten Gesellschaft. Er sieht aber auch kritisch die Inhomogenität der indigenen Gemeinschaften und die Entwicklung einer indigenen Bourgeoisie, was sich nur durch das »Sistema communal« aufheben ließe. Das ist zwar sympathisch, aber ganz ohne Bezug auf reale Menschen oder gar konkrete Kämpfe entwickelt (Zibechi S.146; Patzi, Sistema comunal, S.159ff).
So ein Modell ist Zibechi nicht geheuer (S.50), er stellt stattdessen den Informellen Sektor ins Zentrum. (S.58-61) Dabei ignoriert er allerdings fast schon die Tatsache, dass auch die bolivianischen Gemeinschaften Teil des Kapitalismus sind, weil er sich entlang einer klaren ideologischen Linie orientieren will: Der informelle Sektor produziert die »Zerstreuung von Staat und Kapital« – Arbeitsteilung und Taylorismus produzieren Zentralismus, Führer und letztlich den Staat. Diese Zweiteilung lässt ihn weitere Aspekte der Geschichte ausblenden, nämlich dass subproletarische Bewegungen oft zu autoritären Strukturen tendieren, während selbstbestimmte Kämpfe und Massenautonomie auch dort entstanden sind, wo es sie ihm zufolge gar nicht geben »dürfte«, in der tayloristischen Fabrik.
Zibechis Neuerfindung der Gemeinschaften aus der Produktion im informellen Sektor wirkt unglaubwürdig, wenn er eine nicht arbeitsteilige »Familienproduktion« mit »affektiven Beziehungen zwischen Verwandten und Freunden« den »Arbeiter-Chef-Beziehungen« (S.59) im Taylorismus gegenüberstellt und dabei sowohl die Einbindung in den Binnen- und Weltmarkt als auch die Herausbildung einer indigenen Unternehmerschaft ausblendet (siehe z.B. Industriestandort El Alto, ila 327). Dass er die vermeintliche Abwesenheit von Ausbeutungsbeziehungen für Frauen und Kinder in diesen ach so emanzipativen Familienstrukturen einschränken muss, verwundert nicht, ist bei ihm aber nur eine Randbemerkung.
Die Verklärung des Informellen Sektors erklärt sich nur teilweise dadurch, dass Zibechi die BewohnerInnen El Altos als Subjekte und nicht allein als Opfer thematisieren will. Der tiefer liegende Grund ist, dass Zibechi den Kommunismus unbedingt in den bereits vorhandenen Produktionsformen entdecken will. Das Neue entsteht bei ihm nicht durch einen radikalen Bruch und eine Aufhebung der Produktionsweise, sondern es existiert schon und muss lediglich vor dem Zugriff des Staates geschützt werden. Was Negri in die »immaterielle und affektive Arbeit« dichtet, sucht Zibechi im informellen Sektor und der Familienproduktion. Ein Bezugspunkt ist dabei Patzis Kritik am »Entwicklungsmarxismus« der lateinamerikanischen Linken à la Zweite und Dritte Internationale (siehe den Artikel zu Patzis Thesen im ak 549, S.16). Die Abgrenzung von einer Marxinterpretation, die auf »Agrargemeinschaft plus Maschinen« 1 bzw. kapitalistische Technologie hinausläuft, ist durchaus berechtigt – und politische Positionsbestimmung gegen Garcia Linera, der in der Entwicklung des »andinen Kapitalismus« die Voraussetzung zum Sozialismus sieht. Aber Zibechi übernimmt dessen Begriffe und wechselt die Vorzeichen, um die befreite Gesellschaft aus der bereits bestehenden Form der Produktion zu entwickeln. Und indem sie jede marxistische Kritik als fortschrittsgläubig diskreditieren, berauben sich sowohl Patzi wie Zibechi der Möglichkeit, die (Wieder-)Aneignung in Maschinen geronnener Arbeit zu thematisieren.
Zibechi sucht nach den anti-staatlichen Kämpfen, nach einer Perspektive von unten, aber er verwickelt sich dabei in Widersprüche. Er arbeitet sich am Staat ab und blendet darüber die Ausbeutung weg. Er geht zwar von Prozessen der Neuzusammensetzung aus, der Migration, der Konstitution einer neuen Generation…, aber die gibt es nur am Anfang, nur »konstitutiv«. Er fragt dann nicht mehr danach, wie sich die Bewegung als Klassenbewegung verallgemeinern kann – und sieht dann im Epilog von 2008 sogar die sozialen Bewegungen durch den Staat regieren! Letztlich kommt er beim Diktum der Regierung an, dass »die soziale Bewegung den Staat nicht verwalten [kann], … alle Kämpfe haben den Staat zum Ziel, selbst die Kämpfe gegen den Staat« (Linera). Um damit nicht enden zu müssen, kommt er noch kurz auf die »ökonomischen Verbesserungen für die Bevölkerung« zu sprechen – eine (nicht nur) in Bolivien kontrovers geführte Debatte, ob die deutlich gestiegenen Steuereinnahmen aus dem Rohstoffverkauf »angemessen unten ankommen« (siehe z.B. ila 315). Beim (ersten) Generalstreik gegen die Regierung Morales nach dem 5. Mai ging es um die Erhöhung des (in Lateinamerika mit am niedrigsten) Mindestlohns, bzw. allgemein um Lohnerhöhungen. Noch gelingt es der Regierung, die Stabilität zu erhalten, ohne wirkliche ökonomische Verbesserungen für die Mehrheit. Der Streik hatte nicht die erwartete Ausbreitung und wurde am 25.5.2010 mit einer Übereinkunft beendet.
Insgesamt ein schwer lesbares und fassbares Buch, nicht nur wegen der vielen Fußnoten, Zitate und der wissenschaftlichen Sprache. Die Menschen lernt man fast nur indirekt durch Zitate von Sozialwissenschaftlern kennen. Eine Ausnahme bildet das Kapitel Der kommunitäre Krieg, in dem »Aufstandspraktiken« wie pulga (Floh), wayronko (Erdkäfer), sikititi (bunte Ameise) usw. beschrieben werden.
Und politisch!? Die Klassenkämpfe in Bolivien sind durch die Erfahrungen von 500 Jahren Kolonialismus und Imperialismus bestimmt. »Schon immer« hat es Diskussionen, Positionen, Organisationen und Bewegungen zwischen Indianismus, Antikolonialismus, Sozialismus, Syndikalismus… gegeben. Zibechis Synthese aus Kontinuität der Aylludemokratie plus egalitärer Produktion im informellen Sektor treibt ihn in ein Hin- und Her zwischen fragmentierter Bewegung und institutionalisierendem Staat. Vielleicht sollte ein anderer seiner Bezugspunkte stärker in den Blick genommen werden: die Mobilisierung in Cochabamba gegen die Wasserprivatisierung im Jahr 2000: Oscar Oliviera von den Fabriles (Fabrikarbeiter-Vereinigung) und Mitglied der »Wasserkoordination« beschreibt in seinem Buch Cochabamba!4 den – eher unbekannten – Weg dahin: eine jahrelange Wühl- und Kleinarbeit in den Stadtvierteln und auf der Straße, Aktionen und Besetzungen gegen die Ausbeutungsbedingungen in Büros und Kleinfabriken, Plenen und Nachbarschaftsversammlungen. Mit ähnlichen Sachen hatte Zibechis Buch eigentlich auch angefangen – bevor er dann auf dem selbst ausgebreiteten Theoriepuzzle ausrutschte. ■
Raúl Zibechi Bolivien – Die Zersplitterung der Macht Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger Nautilus Verlag Hamburg Februar 2009 224 Seiten, 14,90 Euro ISBN 978-3-89401-591-6 Originaltitel: Dispersar el Poder. Los moviementos sociales como poderes antiestatales, Barcelona 2007
Im Dossier »Bewegungen in Lateinamerika« findet Ihr einiges zu Bolivien – nicht mehr »ganz« aktuell, aber für die Diskussion der Thesen von Raúl Zibechi hilfreich.
Fußnoten:
[1] [Hier...] findet Ihr einen Kommentar zu diesem Thema. Die Briefentwürfe und die dann kurze Antwort von Marx an Vera Sassulitsch findet Ihr leicht im Netz. Das »Missverhältnis« zwischen den Entwürfen und der knappen Antwort zeigt, wie schwierig Marx das Thema fand. Seine historischen Bezüge, z.B. Morgan, sind heute teilweise überholt. Aber wie er die Frage anpackt, also Eigentums- und Produktionsformen zu untersuchen, dann das »historische Milieu«, die Krise des Kapitalismus, scheint uns hochaktuell – wenn wir das »historische Milieu« nicht auf Technologie verkürzen. Der Text zum »Kommunismus« in der letzten Wildcat diskutiert das als Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ausbeutungsformen – und damit auch Kämpfen. Kämpfe gegen Ausbeutung und die für Wiederaneignung toter Arbeit statt Technik-Fetisch oder Technologiefeindlichkeit.
[2] Silvia Rivera Cusicanqu Liberal Democracy and Ayllu Democracy in Bolivia: The Case of Northern Potosi Journal of Development Studies 26 (4)
[3] Felix Patzi Paco Sistema comunal. Una propuesta Alternativa al Sistema liberal. La Paz, Bolivia 2004
[4] Siehe das (englischsprachige) Bändchen: Oscar Olivera /Tom Lewis Cochabamba!: Water Rebellion in Bolivia, Boston: South End Press 2004
aus: Wildcat 87, Sommer 2010