aus: Wildcat 88, Winter 2010/2011
Peter Birke: Die große Wut und die kleinen Schritte – Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt. Erschienen 2010 bei Assoziation A.
Peter Birke veröffentlichte 2007 ein wichtiges Buch über Wilde Streiks im Wirtschaftswunder in der BRD und in Dänemark. Mit ihm wollte er »das Gedächtnis an die heftigen Konflikte, die die Arbeitsbeziehungen der 1950er bis 1970er Jahre kennzeichneten, wachhalten« (S. 55). In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit einem aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Versuch, die Krise der Gewerkschaften mit vermeintlich neuen Formen gewerkschaftlicher Organisierung zu überwinden: Organizing – ein bekanntes Wort für Wildcat-LeserInnen, wir haben schon zweimal darüber geschrieben.1
Die Motivation für dieses Buch kam Birke deshalb, weil mittlerweile viele AktivistInnen aus seinem Umfeld zu professionellen Organizern geworden sind, »die meisten, ohne je zuvor etwas mit Gewerkschaften zu tun gehabt zu haben oder haben zu wollen« (S. 13). Dabei wurde der Autor in Gespräche über Kollektivität, über die Rolle von Gewerkschaften, Betriebsräten, Vertrauensleuten und über Arbeitspolitik verwickelt. Er grub sich durch die neuere deutsch- und englischsprachige Literatur, führte Gespräche mit Leuten, die damit zu tun haben bzw. hatten und schnupperte einen Tag in ein Organizing-Projekt an der Medizinischen Hochschule Hannover hinein.
Birke verortet sich selber in der radikalen Linken – Organizing als Methode, ArbeiterInnen gewerkschaftlich zu organisieren (vor allem geht’s dabei um »Mitglieder werben«), ist nicht linksradikal. Zu erwarten war also eine kompetente und ausführliche Kritik am Organizing. Das Buch leistet dies jedoch nicht, es ist trotz sehr differenzierter Formulierungen letztlich ein »Plädoyer für Organizing« (S. 180).
Zuerst schildert Birke seine Erfahrungen an der MHH und wie die etwa 20 in diesem Organizing-Projekt aktiven Leute vorbereitet wurden. Man liest über miese Arbeitsbedingungen, wütende, aber zögernde, teils resignierte KollegInnen und motivierte ver.di-AktivistInnen, die als »hauptamtliche Organizer« mit Sozialtechniken versuchen, die KlinikarbeiterInnen für Organisierung zu begeistern. Birke diskutiert die Rolle von Internen und Externen, die ablehnende Haltung einiger ArbeiterInnen zur Gewerkschaft und die »nicht zu unterschätzende Chance, die alle Organizing-Projekte in sich bergen [...]: die Öffnung eines sonst diskreten Raums, in dem wir uns alle mehr oder weniger bewegen: der Alltag der Fabriken, Büros, Gefängnisse [?!?], Familien, Wohnanlagen, Arbeitsämter, Krankenhäuser« (S. 23).
In einer kurzen Reise durch die 1950er, 60er und 70er Jahre will Birke »die methodischen Wurzeln des Organizing-Prinzips« in Frankreich (Socialisme ou Barbarie), Italien (Operaismus) und Deutschland (»linke Minderheit in der IG Metall«) offenlegen. Er schüttet sie aber gleich wieder zu, denn in den heutigen »prekarisierten Arbeitsverhältnissen«, in der »zeitlichen und räumlichen Entgrenzung der Arbeit« sei im Unterschied zu damals »der geschlossene und homogene Raum der Fabrik praktisch aufgehoben«. (S. 35)
Dabei macht Birke drei Fehler. Er unterschlägt erstens, dass die conricerca nach den Kräften suchte, die den Kapitalismus umstürzen können – während heutige Organizing-Modelle sich auf die »Zivilgesellschaft« stützen. Organizing sucht zweitens gar nicht nach einem kollektiven Klassensubjekt, alle im Buch beschriebenen Kampagnen und Projekte spielen sich im sogenannten Dienstleistungssektor ab (das von Birke im dritten Teil erwähnte Interesse der IG Metall am Organizing bleibt den LeserInnen verschleiert). Organisiert werden ArbeiterInnen in Krankenhäusern, Reinigungskräfte, Wachpersonal, Call Center-ArbeiterInnen – all die, die von der Gewerkschaft als »prekär« und »hilflos« eingestuft werden. »Schwache«, die sie führen können und bei denen sie sich ausrechnen, dass entsprechende Mitleidskampagnen um »Würde«, »Anerkennung« und »Respekt« auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Das wird dann als »Erfolg« verkauft. Das geht nur deshalb durch, weil Birke drittens mediale Inszenierungen, bei denen alles der Gewinnung von neuen Gewerkschaftsmitgliedern untergeordnet ist, als »Kampf« ausgibt. (Vom Autor des Wilde-Streiks-Buchs hätte man hier größere Trennschärfe erwartet!) Da kann schon mal die durchgesetzte Erhöhung des Stundenlohns der Hamburger Sicherheitsleute von 6,10 auf 6,34 Euro als Erfolg verbucht werden – auch wenn die Organizer ursprünglich mindestens 7,50 Euro als Ziel hatten. Birke zitiert den ver.di-Fachbereichsleiter Peter Bremme, der diesen miesen Abschluss im ver.di-Werbebuch Never work alone in einen Erfolg umdeutet: »Gewerkschaft wurde für viele Kollegen und KollegInnen erstmals seit vielen Jahren wieder wahrnehmbar« (S. 145).
Die Fehler hängen mit Birkes Verständnis von Kapitalismus zusammen. Er setzt nicht den Antagonismus im Arbeitsprozess zentral, sondern versteht den Dienstleistungsbereich als Schnittstelle zwischen »Betrieb« und »Gesellschaft« – auch wenn er das nie offen sagt, sondern mit Verweisen auf die statistische Zunahme von Streiks und Kämpfen im Dienstleistungssektor oder mit Beverly J. Silver-Zitaten suggeriert.
Ärgerlich ist sein falsches Zitat von Wildcat (S. 28)2. Damit bastelt er sich einen Pappkameraden mit Namen operaistischer Purismus, um gewerkschaftlichen Interventionen von außen eine Blankovollmacht auszustellen. »Wir brauchen diese Externen, wir müssen imstande sein, uns selbst neben diese Zumutungen zu stellen, mit denen wir konfrontiert werden« (S. 29). Im zitierten Wc-Artikel ging es aber gar nicht darum, jede externe Intervention zu verurteilen (das würde jedes politische Engagement ad absurdum führen), sondern es sollte die Illusion bekämpft werden, dass man als »weiße Wand« dienen kann, auf die das »wahre Wollen« der KollegInnen gemalt wird. Man ist immer Teil der Situation, man wird als KollegIn wahrgenommen, als politischeR AktivistIn, als JournalistIn ... oder eben als VertreterIn der Gewerkschaft. Der jeweiligen Rolle entsprechend wird man Aussagen bekommen. Birke verdreht unsere Kritik, um über seinen eigentlichen Schwachpunkt hinüberzukommen: Er setzt sich nicht in eine soziale Beziehung zu den KollegInnen, mit denen er über seine eigenen bzw. ähnlichen Probleme reden kann und mit denen man gemeinsam lernt, sondern seine Perspektive und die des Organizing ist die des Überlegenen, der dem »armen« Ausgebeuteten was beibringen will, ihm hilft.
Am Ende des ersten Teils erzählt Birke aus den 80er Jahren; damals habe er als Zivildienstleistender gegen die Gewerkschaft gestreikt und IG Metall und IG Druck und Papier hätten die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche gegen eine Flexibilisierung der Arbeitszeit eingetauscht. Dafür jedoch will er die heutigen nicht verantwortlich machen – ihnen gehe es nämlich um einen »Bruch« mit der bisherigen Gewerkschaftspolitik, um die »Organisierung der Unorganisierbaren« (S. 45). Kurze Anmerkungen zu Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Lukács und der deutschen Sozialdemokratie werden mit heutigen Fragen nach Gewerkschaftsrealität und -ideal konfrontiert. Zu Recht kritisiert Birke die staatstragende und ordnungspolitische Funktion der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und den unerschütterlichen Glauben an deren Reformierbarkeit – sogar dann noch, nachdem sie sich scharf von den 1968er Revolten distanzierten. Zudem leide die Gewerkschaftsforschung an einer »traditionellen Vergesslichkeit«, weil sie »soziale Kämpfe« als Ursache der gesellschaftlichen Veränderungen nicht erwähnt (S. 55).
Birke stellt dem das Organizing gegenüber, das kein »Boxen und Tanzen« sei, verstanden als einmal mit kollektiven Aktionen drohen, das andere Mal als sich mit den Kapitalisten an den Tisch setzen und über den Preis der Ware Arbeitskraft verhandeln. »Organizing [...] ist die mögliche Aneignung des Rings durch eine neue soziale Figur, die auf der Grundlage der bis jetzt noch sehr verstreuten Konflikte ihre sozialen und politischen Rechte einfordern wird« (S. 67). Der Autor fasst seine Vorstellungen über eine »andere Gewerkschaftspolitik« in Anlehnung an die »andere Arbeiterbewegung« im Begriff der »anderen Assoziation« zusammen. »Anderssein würde in diesem Falle bedeuten, dass alles damit anfängt, sich nicht mehr einfach in den Arbeitsalltag zu fügen, betriebliche Konflikte zu artikulieren, auf Veränderungen zu drängen« (S. 62f.). Über Organizing würde so etwas wie eine gewerkschaftliche Gegenmacht entstehen, die »eine Verbindung zwischen der alltäglichen Ohnmacht und der wirklichen Macht der Arbeitenden schafft« (S. 69). Birke stoppelt sich ein ideales Bild von Organizing zusammen und macht das, was er ein paar Seiten vorher kritisiert hatte: »Auch in der Linken wird oft so über Gewerkschaften gesprochen, dass es eher darum geht, wie sie sein sollten, als darum, wie sie sind. [...] Ansprüche werden hier oft nicht durch die trübe Realität gefiltert«. (S. 45f.)
Im zweiten Teil umreißt Birke die Diskussion über die Gewerkschaftskrise. Den Mitgliederverlust seit den 80er Jahren versuchen die Gewerkschaften u. a. mit internationalen Zusammenschlüssen, die Verhaltensregeln (codes of conduct) für multinationale Konzerne formulieren, zu kompensieren. Der Autor kritisiert diese Strategie als unzureichend (»keine Bestimmungen über Arbeitsbedingungen, Löhne, Arbeitszeiten«) und korporatistisch, weil die Unterschrift der Kapitalisten Arbeitskämpfe aufhebt. Unverständlich bleibt, warum Birke trotzdem mit diesen codes sympathisiert. Sie hätten – wieder mit Bremme liebäugelnd – das Potenzial, dort Dinge durchzusetzen, die woanders schon selbstverständlich seien. Dabei gehe es vor allem um institutionelle Rechte – was wohl kaum Ziel radikaler Organisierung sein kann. Wie verkehrt das wird, zeigt die Idee des Gewerkschaftsfunktionärs Stephen Lerner. Er macht sich für eine »Weltgewerkschaftsbewegung« stark, die von den Lead Organizern der Us-Dienstleistungsgewerkschaft Seiu angeführt wird und dort ansetzen soll, wo sich seiner Vorstellung nach die »Maschinenräume des globalen Kapitalismus« befinden: in den Firmengebäuden von internationalen Finanz- und Immobiliendienstleistern. Zuerst dort sollen Mindestbedingungen ausgehandelt werden, die dann im Idealfall überall gelten sollen. Da gibt auch Birke zu: »diskursiver Schrumpfungsprozess« (S. 87).
Was die codes nicht leisten können, hat auch der »social movement unionism« nicht geleistet. Die Debatte um eine »Soziale Gewerkschaftsbewegung«, die mit den Kämpfen im globalen Süden der 90er einsetzte (im Buch wird kurz auf Südafrika und Südkorea eingegangen), scheiterte schlussendlich an der illusorischen Hoffnung auf eine überhistorische Organisationsform, die »eine dauerhafte Identität zwischen sozialen Kämpfen und ›jener‹ authentischen Organisation, die sie repräsentiert« (S. 93), ermöglichen sollte. »Wie im Zeitraffer scheinen die innergewerkschaftlichen Konflikte, die wir im Norden kennen, in den Ländern des globalen Südens abzulaufen« (S. 95). Aber auch hier findet Birke wieder etwas gut. Die Gewerkschaften werfen Fragen auf, wie sie »antirassistische Kampagnen, internationale Solidarität oder die Erfahrungen der feministischen Bewegung« (S. 95) in ihre Politik integrieren könnten. Dabei sieht Birke nicht, dass dies bloß die Reaktion einer bröckelnden Gewerkschaftsmacht ist, die auf linke Theoriemoden reagiert und sich so zu modernisieren versucht. Er erwähnt auch nicht, dass diese ganzen Suchbewegungen, die mit immer neuen Begriffen und »Perspektiven« nach einem Universalschlüssel suchen, den sie bloß ins richtige Loch schieben müssten, ein Ausdruck fehlender Beispiele von Arbeiterautonomie und der Krise eines revolutionären Marxismus sind. Da tut es eine Zeit lang gut, über die Versuche in den Worker Centers in einigen Us-Großstädten zu lesen, die Diskussionen über Arbeitsbedingungen, Migration und Alltag von den direkt Betroffenen forcierten. Leider sei es auch um diese »Quelle der Organizing-Politik [...] still geworden« (S. 95ff).
Mitten im Buch erfahren wir im sechsten Kapitel »Belebung und Bürgerkrieg in den USA« etwas über interne Gewerkschaftskonflikte, eine BRD-Rundreise eines US-Gewerkschaftsaktivisten und über die machthungrige SEIU, die auch in Deutschland mit ihren steigenden Mitgliederzahlen auf Begeisterung stößt, deren Methode jedoch – »Wachstum um jeden Preis« – zunehmend in Kritik gerät. Dabei spielen »sweetheart deals« eine Rolle: Die Seiu-Führung stimmt Lohnkürzungen und dem Streikverzicht zu, damit sie ArbeiterInnen aus dem Unternehmen als Mitglieder aufnehmen darf. Die Basis wird indes übergangen und es kommt zum offenen Konflikt. Was das alles mit Bürgerkrieg zu tun hat, bleibt auch nach mehrmaligem Lesen unklar, wenngleich Loren Goldner in seinem neuen Artikel zum Seiu-Chef Andy Stern ebenfalls von »open civil war« spricht.3 Es geht bei dem Fall um ehemalige, mit der eben beschriebenen Seiu-Politik unzufriedene (Basis-)AktivistInnen, die sich über die Gründung einer neuen Gewerkschaft von ihrer früheren abgrenzen wollen, weil die Seiu-Führung alles zentralisieren will. Mittendrin kommt es zu antisolidarischen Situationen, bei denen Mitglieder nach politischen Kriterien entlassen, Geld und Posten hin- und hergeschoben werden. Was sich hier zeigt, ist aber viel mehr eine Kritik von unten an der nach autoritären Managementmethoden geführten Seiu; und das ist deshalb interessant, weil sie als Paradebeispiel für Organizing gilt.
Birke misst diesem Gewerkschaftskonflikt große Bedeutung für die internationale Gewerkschaftsbewegung bei, weil sich hier herauskristallisiere, »was Organizing ist oder sein soll«. Wichtig deshalb sein Satz mit Bezug auf § 2 des Betriebsverfassungsgesetzes (»Friedenspflicht«): »Organizing-Projekte und andere Formen einer kämpferischen, aktiven Betriebspolitik müssen auch mit der Stellvertreterpolitik des Betriebsverfassungsgesetzes brechen und auf Basisdemokratie und ständige Kontrolle der Repräsentanten setzen« (S. 110). Wie war das vorher mit den Ansprüchen und der trüben Realität?
Im dritten Teil merkt man am besten, wie Birke dauernd versucht, die Widersprüche des Organizing in »Voraussetzungen schaffen« (S. 120) oder »hoffen wir das beste« (S. 176) aufzulösen. Er stellt verschiedene Organizing-Projekte vor, erzählt, wie wichtig die Schlecker-Kampagne Mitte der 90er war, und zeigt, dass, wenn man von außen Konflikte herbeiführen will, das auch nach hinten losgehen kann.
Es ist gleichzeitig der beste und schlechteste Teil im Buch: Der beste, weil er viel über die konkreten Projekte informiert und die Widersprüche erläutert. Bei der Lidl- und Tectum-Kampagne, wie sich die ArbeiterInnen von der Gewerkschaft falsch beurteilt fühlten; an der MHH das Problem, wenn die Organizer wieder abgezogen werden – bricht das Pflegenetzwerk zusammen?; die Konkurrenz zwischen Betriebsräten und Organizern; die nicht aufknackbaren gewerkschaftlichen Hierarchien beim Protest im Hamburger Sicherheitsgewerbe (»›top down‹ initiert«), usw. Zusätzlich kritisiert Birke die »mangelnde Transparenz« bei der Auswertung von Kampagnen. Der »euphorische Ton [...] verschüttet die Debatte, noch bevor sie begonnen hat« (S. 147).
Aber es ist auch der schlechteste Teil, weil Birke bei manchen Dingen erschreckend kritiklos bleibt. Er erwähnt das »Ranking«, das Organizer intern machen müssen und Leute systematisch als für die Gewerkschaft nützlich oder nicht benotet. Es ist »... eine Technik, die die Resultate des ›Zuhörens‹ systematisieren und hinsichtlich einer möglichen Operationalisierung strukturieren sollte« (S. 144). Das steht wirklich so im Buch, verfällt distanzlos in die ekelhafte Sprache der Management-Literatur. Ein Organizer der IG Bau ging aufgrund des großen Erfolgsdrucks auf den Friedhof und notierte sich die Namen von Toten, um sie als neu geworbene Mitglieder auszugeben. Birke problematisiert den Status dieser »prekären Organizer« aber nur hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, das heißt dem Inhalt nach (die Honorare sind zu niedrig, die Arbeitszeiten nach oben hin offen, der Druck zu groß, ...), aber nicht ihrer Funktion nach: /Organisierung in Lohnarbeit als Lohnarbeit/Beruf. »Neoliberal geprägtes Arbeitsverhältnis« hat es ein ehemaliger Organizer in der Wildcat 80 genannt.
Birke findet es für eine »genauere Positionierung« des Organizing wichtig, die beschriebenen Konflikte in »eine Art Typologie« einzuordnen (S. 180). Das geht dann so: 1. innerbetriebliche Konflikte, 2. Arbeitskämpfe (»Bruch mit dem Prinzip, alles aushalten zu müssen« [S. 183]), 3. Imagekämpfe. Bei den innerbetrieblichen Konflikten ist der »vielleicht größte Verdienst der Organizing-Projekte«, dass »die KollegInnen lernen, miteinander zu sprechen, die Räume, in denen sie einen wichtigen Teil ihres Lebens verbringen, anders zu organisieren, die Verantwortlichkeiten und Inhalte, die von der Leitung vorgegeben und propagiert werden, offen zu hinterfragen« (S. 182). Am Ende sieht Birke die größte Chance für Organizing in einer »Neuzusammensetzung der bestreikten Betriebe und Branchen sowie der vielköpfigen Community der Streikenden« (S. 184). Er setzt dabei voraus, was eigentlich erst zu untersuchen ist: Die Neuzusammensetzung in der Krise.
Birke breitet sein Thema so aus, dass er nirgendwo aneckt: Linksradikale und Autonome könnten genau so dran Gefallen finden wie hochrangige Gewerkschaftsfunktionäre. Man fragt sich, warum er trotz seiner eigenen Erfahrungen mit den Gewerkschaften und seinen kritischen Ausführungen so viel Hoffnung und Wohlwollen in die OrganizingVersuche steckt. Dabei ist sein Gegengewicht in der Waagschale des Für und Wider nur ein diffuses »vielleicht lernt der/die eine oder andere KollegIn durch ein Organizing-Projekt ja was fürs Leben«. Wenn wenigstens die beteiligten Organizer auch was für ihr Leben dabei lernen würden ... aber die Frage stellt er nicht mal – die Linken werden entweder Gewerkschaftsfunktionäre oder wollen nie wieder was mit betrieblichen Auseinandersetzungen zu tun haben. Der Preis, den man für diese im Einzelfall vielleicht tatsächlich auftretenden Erfahrungsprozesse zahlen muss, ist die (Re-)Legitimierung der Institution Gewerkschaft in der radikalen Linken.
[1] Peter Birke u. Bart van der Steen: »Organizing ist kein Zaubertrank«, Express 07/10, (Ein Gespräch von Bart van der Steen mit Peter Birke über das Buch)
Wildcat 78: Gewerkschaften auf neuen Wegen: wenn der Kollege zum Kunden wird
Wildcat 80: »New Labour« – »New Gewerkschaft«, Kritik am Organizing, Teil II
[2] Birke zitiert so aus der Wildcat 80:
»Auf Seiten der linken Aktivisten, die sich für die Gewerkschaft einspannen lassen, wird offensichtlich unterschätzt, dass man weder als Wissenschaftler noch als Aktivist oder auch als Kollege jemals ein neutraler Kummerkasten ist. [...] Von außen können die Leerstellen nicht gefüllt werden, aber der Anspruch auf die Überwindung verknöcherter gewerkschaftlicher Strukturen und die Thematisierung der ganzen ‹Bandbreite des prekären Lebens› ließe sich besser umsetzen, wenn sich die Aktivisten auf reale Konflikte der ArbeiterInnen einstellen würden.«
Das, was Birke mittels eckiger Klammer verschweigt, ist extrem wichtig:
»Wenn man als Vertreter der Gewerkschaft den Leuten gegenüber tritt, wird man bei allen guten Vorsätzen immer das zu hören bekommen, was in der Vorstellung der Leute eine Gewerkschaft für sie tun könnte. D.h. auch hier wird es nicht funktionieren, im Auftrag einer Institution und für Geld etwas zu tun, und das dann mit eigenen Ideen zu füllen.«
[3] Loren Goldner: The Demise of Andy Stern and the Question of Unions in Contemporary Capitalism. Der Artikel ist in der zweiten Ausgabe des Online-Magazin »Insurgent Notes« zu finden