Wildcat Nr. 88, Winter 2010 [Editorial]



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Wir alle sind Integrationsverweigerer!

Wenn im Voraus alle vom Heißen Herbst reden, hat es noch nie einen gegeben. Deshalb legen wir gleich das Winterheft vor. Trotzdem ganz schön viel passiert seit dem Sommerheft!

Nachdem die globale Krise Ende 2009 (Dubai) zur Staatsschuldenkrise und Anfang 2010 zur »Eurokrise« geworden war, folgte Anfang Mai die Weichenstellung. Sie konnten Griechenland nicht »fallen lassen« wegen der Konsequenzen für französische und deutsche Banken, für die Euro-Zone insgesamt und für das globale Finanzsystem. Die scheinbare europäische Solidarität der »Rettung« wurde mit drakonischen Sparauflagen verbunden und ideologisch flankiert mit einer krassen Hetze gegen »die faulen Griechen«. In der ersten Phase war die Kritik am Kapitalismus auf »die gierigen Banker« umgeleitet worden, nun wurden diese durch »die Faulenzer« ersetzt. Im gleichen Zug wurde die Krise europaweit in Form beinharter Austeritätsoffensiven in voller Breite gegen die Klasse gewendet.

Was im europäischen Maßstab die »faulen Griechen« sind, im Sarkozy-Frankreich »die Zigeunerin«, war in Deutschland Anfang des Jahres die »dekadente Hartz IV-Empfängerin« und ist seit dem Sommer der »integrationsunwillige Einwanderer«. Das Entscheidende an diesen sozialrassistischen Diskursen: sie machen die Schuldigen der Misere innerhalb der Klasse aus (und rechtfertigen Denunzierungen, Bestrafungen und Disziplinierung). Dafür reichte der »muslimische Barbar/Terrorist« nicht, weil er äußere Bedrohung repräsentiert. Er hält für innere Aufrüstung und koloniale Feldzüge her, aber mit ihm lässt sich nicht die Verschärfung des Arbeitszwangs und das ganze Arsenal neuer Druck- und Kontrollmittel legitimieren. Der »integrationsunwillige Migrant« steht für alle Formen sozialer Verweigerung; Hartz IV und das neue »Ausländergesetz« sind nicht zufällig am selben Tag (1.1.2005) in Kraft getreten. Der rote Faden dieses Staatsrassismus ist die weitere Unterschichtung des Arbeitsmarkts und schärfere soziale Polarisierung.

Sozialstaat und Währungskrieg

Noch im Herbst 2009 hatte der Harvard-Professor Dani Rodrik in einem Beitrag für die Financial Times die Ursache für den großen Unterschied zur Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren – es gebe keinen Rückfall in den Protektionismus – im Sozialstaat gesehen: »Wenn die Welt während der Krise nicht in einen protektionistischen Abgrund gefallen ist wie in den 30er-Jahren, ist dies im Wesentlichen den sozialen Programmen zu verdanken.« Zwar war bereits an der Art der Bankenrettung seit dem Herbst 2008 erkennbar, in welche Richtung die Weichen gestellt waren: Abwälzung der Krisenfolgen auf die ProletInnen, größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit. Aber nun gut, inzwischen sieht auch der eine oder der andere Harvard-Prof klarer, derselbe Dani Rodrik kommentierte im Frühjahr 2010 die »Griechenlandkrise« wiederum in der Financial Times als »weitere Manifestierung des Phänomens, das ich ›das politische Trilemma der Weltwirtschaft‹ nenne: wirtschaftliche Globalisierung, politische Demokratie und der Nationalstaat sind nicht miteinander vereinbar. Wir können höchstens zwei gleichzeitig haben. … wenn wir Demokratie zusammen mit Globalisierung wollen, müssen wir den Nationalstaat beiseite schieben.« Dieses ›Trilemma‹ hatte er im Juni 2007 in seinem Blog beschrieben. Es konkretisiert sich im Moment an Merkels Forderung, »Defizitsündern« Stimmrechte zu entziehen, und kulminierte in den letzten Wochen im Gezerre um die »Rettung« Irlands. Den Leuten kann es egal sein, ob die drastischen Sozialkürzungen von ihrer nationalen Regierung oder vom iwf beschlossen werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Stärke der kapitalistischen Entwicklung und »Ausgestaltung« der Demokratie. Aber inwieweit die nationale Souveränität dabei eingeschränkt wird, hängt viel mehr mit der Position im internationalen Staatensystem zusammen. Zwei Beispiele:

Die usa überschwemmen die Welt mit billigen Dollars und Staatsanleihen. Damit drücken sie den Dollar, verbilligen also ihre Schulden und erleichtern Exporte – und heizen weltweit Inflation und Preisblasen an, v.a. bei Rohstoffen und Nahrungsmitteln, und am extremsten in den Schwellenländern. Der brasilianische Finanzminister sprach deshalb vom »Währungskrieg«.

Die brd steigert ihre Exporte im atemberaubenden Tempo – und verschärft damit die Krise in der europäischen Peripherie; die griechische und die irische Regierung sprechen das entgegen aller diplomatischen Gepflogenheiten inzwischen offen aus. Die Reaktion der brd auf die Krise reißt die Eurozone auseinander. Ihr großer Standortvorteil ist das gewaltige Anwachsen eines Billiglohnbereichs in Kombination mit einer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer konsistenten Industriestruktur. Selbst die Financial Times Deutschland kommentierte das neulich mit »Hartz IV vergiftet Europa« (Münchau, 30.9.2010).

Europa: Die Klasse zwischen Spar- und Gewerkschaftspolitik

Uns war erstmal wichtig, dass Leute aus den europäischen Ländern selber aufschreiben, was ihrer Ansicht nach gegen die herrschende Krisenpolitik läuft. Die Berichte (s.12) ziehen keine »großen Linien«, sondern behandeln die (alltäglichen) Konflikte in der Grauszone zwischen Krisenangriff und linken Strategien. Die Gewerkschaften stecken offensichtlich zu tief in der Politik der Klassenspaltung und sind nicht mehr in der Lage – sei es nur aus Selbsterhaltungstrieb! – umzuschwenken und zum Bremsklotz der massiven Sparpolitik zu werden. Nicht nur in der brd, auch in Spanien, Griechenland und Großbritannien haben sie ein harmloses Sommertheater aus kontrolliertem Dampfablassen, Appellen an den Sozialstaat und zeitlichem Weitwurf von Protesten aufgeführt. Sie hatten wenig Mühe, damit durchzukommen. Denn noch immer sind die harten Einschnitte nicht wirklich auf der »sozialen Ebene« angekommen. Allerdings kam es in Griechenland im November vermehrt zu Streiks, und der Angriff der Studies auf die Londoner Parteizentrale der Tories war doch ein netter Auftakt! Da wird mehr kommen.

Vor allem in Frankreich scheint das politische Ende der lahmen gewerkschaftlichen (De-)Mobilisierungen erreicht. Dort haben vom 27. Mai bis zum 6. November zehn »Aktionstage« gegen die Rentenreform stattgefunden, acht davon im September und Oktober. Ein weiterer ist für den 23. November geplant. Viel wichtiger als diese gewerkschaftlich organisierten Proteste ist aber die fortwährende Gärung an der »Basis«, überall haben sich branchenübergreifende Aktionskomitees gebildet. In ihren Reden und Flugblättern artikulieren sie eine fundamentale Kritik an der Lohnarbeit. Und das Spannende ist, dass keine institutionelle Kraft diese Substanz der Protestbewegung vertritt.

dèjá vu

In den 70er Jahren war es immer ein bisschen schwierig, unseren GenossInnen in Europa die Situation in der brd zu erklären. Bei ihnen tobten revolutionäre Bewegungen und Arbeiterkämpfe – bei uns gab es … Bürgerinitiativen. Schon das Wort erregte Anstoß. So auch neulich wieder bei einem Treffen mit französischen FreundInnen: »Bei uns läuft seit Monaten eine breite Bewegung gegen die Rentenreform, die SchülerInnen sind auf den Straßen, es gibt landesweite Koordinationen… – und bei Euch protestieren sie gegen einen Bahnhofsneubau? Geht’s noch??«

Nun wissen wir spätestens seit dem Problem des Postkutschenstaus im Vorfeld der Französischen Revolution, dass Verkehrs- und Gesellschaftsordnung eng zusammenhängen, und dass eine Gesellschaft, die ihre Mobilitätsprobleme nicht mehr lösen kann, dem Ende entgegengeht (wir haben uns damit z.B. in der Wildcat 72 auseinandergesetzt). Trotzdem haben wir ehrlich gesagt große Probleme damit, den Faden von S21 zum Kommunismus zu spannen – und auch hier wieder ein deja vu: Toni Negri war in den 70er Jahren der einzige in Italien, der die Bürgerinitiativen in der brd als proletarische Organisationsform der Zukunft sah und seine GenossInnen aufforderte, diese gefälligst zu studieren und draus zu lernen! Negri hat vor kurzem ein Buch rausgebracht, in dem er das auch wieder zur Bewegung gegen S21 ausführt (siehe die Besprechung S. 39). Wir sind weniger schnell als der Heilige Antonio aus Padua und machen im nächsten Heft einen Schwerpunkt dazu, ob und was in diesen Protesten Neues passiert – einleitende Fragestellungen und den Aufruf an Euch alle, sich daran zu beteiligen, findet Ihr ab Seite 31.

Ende der Demokratie oder neue Bewegungen?

Im Sommer 2009 wurde in Hamburg das Gängeviertel besetzt; es war die erste erfolgreiche Hausbesetzung der letzten Jahre. Gruppen und Initiativen in vielen anderen Städten beziehen sich darauf (»Recht auf Stadt«). Ein Buch, das wir auf Seite 48 besprechen, macht weitere, sehr aktuelle Bezüge deutlich: Hamburg wird von einem schwarz-grünen Senat regiert, und die gal – einst der Linksaußen-Flügel der Grünen Partei – an der Macht positioniert sich massiv gegen soziale Bewegungen. Auf ihrem Freiburger Parteitag konnten die Grünen letzte Woche die Frage nicht klären, wie sie auf ihr – vor allem durch die Bewegung gegen Stuttgart21 – neu gewachsenes außerparlamentarisches Standbein treten sollen. Einerseits sind sie in Wahlumfragen massiv nach oben geschossen, andererseits sind die Umfragewerte im Zug der Gorlebenproteste abgerutscht. »Alerte Grüne haben das Dilemma begriffen. Boris Palmer etwa, der Tübinger Oberbürgermeister, der bei den Stuttgarter Schlichtungsgesprächen die Projektgegner mit teilweise brillanten Voten gut aussehen lässt, hält nichts von einem Kniefall vor der neuen Protestkultur. Wenn Parlamente ihre Arbeit nicht mehr machen könnten, drohe Weimar. Dann sei die Demokratie am Ende.« (nzz) Die Neue Zürcher Zeitung bezog sich damit auf einen Vorfall am 8. November, als das Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise« mit einer Sitzblockade vor dem Ratssaal die anstehenden Sparbeschlüsse (2011 sollen 6,5 Millionen Euro eingespart werden) des Tübinger Stadtparlaments um eine Stunde verzögerte. Als OB Palmer Fahnenstangen entfernen wollte, mit denen die Tür verriegelt war, gab es eine kleine Rangelei. Danach erklärte er: »Wer Parlamente an ihrer Arbeit hindert, ist kein aufrechter Demokrat. Wenn Parlamente nicht tagen können, ist die Demokratie am Ende. Dann droht Weimar.« Die widerliche Art der Grünen, ihre Schweinepolitik als antifaschistischen Kampf auszugeben, kennen wir, seit Joschka Fischer antifaschistische Nato-Bomber gegen Jugoslawien losschickte. Aber vom Antidemokratie-Vorwurf sollten wir uns nicht abhalten lassen! Globalisierung, Demokratie und Nationalstaat sind deshalb nicht miteinander vereinbar, weil die kapitalistische Dynamik ans Ende gekommen ist. Die Finanzkrise hat die Lüge ein für allemal blamiert, die Globalisierung würde den Wohlstand aller steigern. Die Grünen haben, wie alle anderen Parteien, nur noch Sozialkürzungen und atomare Endlagerstätten übers Land zu verteilen.

Bei unseren Feinden ist das »Zeitalter des Pessimismus« und Endzeitstimmung angebrochen. Aber Liberalismus braucht den optimistischen Glauben in die kapitalistische Entwicklung. Und Parteiendemokratie braucht beides als Grundlage, Fortschritt(sglauben) und liberale Überzeugungen.

Stuttgart, 21. November 2010



aus: Wildcat 88, Winter 2010



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